KAPITEL FÜNF

1563 Words
KAPITEL FÜNF Avery hatte einen Namen: Cindy Jenkins. Sie kannte die Schwesternschaft: Kappa Kappa Gamma. Und sie wusste von der Harvard-Universität Bescheid. Diese Schule der Ivy-League hatte sie als eingehenden Neuling zurückgewiesen, dennoch hatte sie einen Weg gefunden, um während ihrer eigenen College-Karriere das Harvard Leben einzusaugen, da sie mit zwei Jungen aus der Schule zusammen war. Im Gegensatz zu anderen Hochschulen, wurden die Schwesternschaften und Brüderschaften von Harvard nicht offiziell anerkannt. Es gab keine griechischen Häuser auf oder außerhalb des Campus. Parties fanden jedoch regelmäßig an mehreren Off-Campus-Häusern oder Apartment-Komplexen unter dem Namen „Organisationen“ oder speziellen „Clubs“ statt. Avery erlebte aus erster Hand das Paradox des College-Lebens, während ihrer eigenen College-Zeit. Alle taten so, als ob sie sich nur auf ihre Noten konzentrierten, jedoch nur bis Sonnenuntergang und dann verwandelten sie sich in einen Haufen wilder, feiernder Tiere. An einer roten Ampel suchte Avery schnell im Internet und fand heraus, dass Kappa Kappa Gamma zwei Bereiche im gleichen Block in Cambridge mietete: Church Street. Einer der Orte war für Veranstaltungen, der andere für Meetings und Feiern. Sie fuhr über die Longfellow Bridge, vorbei am MIT und fuhr rechts auf die Massachusetts Avenue. Auf ihrer rechten Seite erschien Harvard Yard mit seinen prächtigen roten Backsteingebäuden unter reichen Baumbeständen und gepflasterten Wegen. Ein Parkplatz war auf der Church Street. Avery parkte, schloss die Autotür ab und hob ihr Gesicht zur Sonne. Es war ein warmer Tag mit Temperaturen um die 20 Grad. Sie sah nach der Uhrzeit: Zehn Uhr dreißig. Das Kappa-Gebäude war ein langes, zweistöckiges Gebäude mit Backsteinfassade. Im ersten Stock waren mehrere Bekleidungsgeschäfte untergebracht. Der zweite Stock, so vermutete Avery, war für Büroräume und Studentenvereinigungen reserviert. Die einzige Kennzeichnung neben dem zweiten Stock war das blaue Fleur-de-Lis-Symbol von Harvard; Sie drückte es. Eine kratzige weibliche Stimme kam aus die Gegensprechanlage. „Ja?“ „Polizei“ knurrte sie, „öffnen Sie.“ Einen Moment lang war es still. „Jetzt im Ernst“, antwortete die Stimme, „wer ist da?“ „Polizei“, sagte sie ernst. „Alles ist Ordnung. Niemand ist in Schwierigkeiten. Ich muss nur mit jemandem von Kappa Kappa Gamma sprechen.“ Die Tür öffnete sich. Oben auf der Treppe wurde Avery von einem verschlafenen, sichtbar mitgenommenen Mädchen in einem überdimensionalen grauen Sweatshirt und weißen Jogginghosen begrüßt. Sie war dunkelhaarig und schien viel zu feiern. Haarsträhnen versteckten fast das ganze Gesicht. Sie hatte dunkle Ringe unter ihren Augen und der Körper, den sie normalerweise so stolz betonte, wirkte d**k und formlos. „Was wollen Sie?“, fragte sie. „Nur keine Sorge“, antwortete Avery. „Das hat nichts mit studentischen Aktivitäten zu tun. Ich bin nur hier, um ein paar Fragen zu stellen.“ „Kann ich irgendeinen Ausweis sehen?“ Avery zeigte ihr Abzeichen. Sie musterte Avery, kontrollierte das Abzeichen und ging einen Schritt zurück. Der Raum für Kappa Kappa Gamma war groß und hell. Die Decke war hoch. Eine Anzahl von bequemen, dunklen Sofas und blaue Sitzsäcke waren im Raum verstreut. Die Wände waren dunkelblau gestrichen. Es gab eine Bar, ein Sound-System und einen riesigen, Flachbildschirm-TV. Die Fenster reichten fast vom Boden bis zur Decke. Auf der anderen Straßenseite konnte Avery das Dach eines weiteren kleinen Apartmentkomplexes und dann den Himmel sehen. Ein paar Wolken zogen vorbei. Sie vermutete, ihre College-Erfahrung war ganz anders als die der meisten Mädchen von Kappa Kappa Gamma. Zum einen hatte sie für die Schule selbst bezahlt. Nach Unterricht ging sie jeden Tag zu einer örtlichen Anwaltskanzlei und arbeitete sich von einer Sekretärin zu einer geschätzten Rechtsanwaltsfachangestellten. Sie trank nur selten in der Schule. Ihr Vater war ein aggressiver Alkoholiker gewesen. Während der meisten College-Nächte, war sie entweder der Fahrer oder im Studentenwohnheim am Studieren. Im Gesicht des Mädchens zeigte sich ein Schimmer Hoffnung. „Kommen Sie etwa wegen Cindy?“, fragte sie. „Ist Cindy eine Freundin von dir?“ „Ja, meine beste Freundin“, sagte sie. „Bitte, sagen Sie mir, dass es ihr gut geht?“ „Wie heißt du?“ „Rachel Strauss.“ „Du bist diejenige, die die Polizei angerufen hat?“ „Richtig. Cindy verließ unsere Party am Samstagabend ziemlich betrunken. Niemand hat sie seitdem gesehen. Das passt nicht zu ihr.“ Sie verdrehte die Augen und lachte scheu, als sie hinzufügte: „Sie ist meist sehr vorhersehbar. Sie ist Miss Perfect, verstehen Sie? Immer zur gleichen Zeit im Bett, gleicher Stundenplan, der sich nie ändert - Bedürfnisse, die sich ändern, brauchen fünf Jahre Kündigungsfrist. Samstag war sie wie verrückt. Trinken. Tanzen. Vergaß die Zeit für eine Weile. Es war schön, das zu sehen.“ Ein entfernter Blick nahm Rachel für einen Moment. „Sie war einfach, wirklich glücklich, wissen Sie?“ „Gab es irgendeinen besonderen Grund?“, fragte Avery. „Ich weiß nicht, Klassenbeste. Hat ab Herbst schon einen Job in Aussicht.“ „Welchen Job?“ „Devante? Die beste Firma in Boston. Sie war Buchhalterin. Sehr langweilig, ich weiß, aber sie war ein Genie, wenn es um Zahlen ging.“ „Kannst du mir von Samstagabend erzählen?“ Tränen schossen in Rachels Augen. „Es geht um Cindy, nicht wahr?“ „Ja“, sagte Avery. „Vielleicht können wir uns setzen?“ Rachel stürzte auf die Couch und weinte. Sie versuchte schluchzend zu sprechen. „Geht es ihr gut? Wo ist sie?“ Gespräche mit Verwandten und Freunden war der Teil des Jobs, den Avery am meisten hasste. Es gab nur sehr wenig, über das sie sprechen durfte. Je mehr Menschen von einem Fall erfuhren, desto mehr redeten sie darüber und dieses Gespräch könnte zu den Tätern des Verbrechens gelangen. Keiner konnte das je einsehen, oder hätte sich darum groß gekümmert: sie waren zu verzweifelt. Alles, was sie wollten, waren Antworten. Avery setzte sich neben sie. „Wir sind wirklich froh, dass du angerufen hast“, sagte sie. „Du hast das Richtige getan. Ich fürchte, ich kann nicht über die laufende Ermittlung sprechen. Was ich sagen kann, ist, dass ich alles tue, was in meiner Macht steht, um herauszufinden, was mit Cindy in dieser Nacht passiert ist. Ich kann es nicht alleine tun, ich brauche deine Hilfe.“ Rachel nickte und wischte sich die Augen. „Ich kann helfen“, sagte sie, „ich kann helfen.“ „Ich würde gerne wissen, woran du dich an dieser Nacht erinnerst und was dir bei Cindy aufgefallen ist. Mit wem sprach sie? Gab es etwas, das anders war? Kommentare, die sie gemacht hat? Menschen, die sich für sie interessierten? Irgendetwas Besonderes, als sie gegangen ist?“ Rachel brach zusammen. Schließlich hob sie die Hand, nickte und riss sich zusammen. „Ja“, sagte sie, „sicher.“ „Wo sind alle anderen?“, fragte Avery zur Ablenkung. „Ich dachte, dass Studentenhäuser von Schwesternschaften vollgepackt sind mit verkaterten Mädchen in Kappa-Klamotten.“ „Sie sind im Unterricht“, sagte Rachel und wischte sich die Augen ab. „Ein paar Mädchen gingen zum Frühstück. Übrigens“, fügte sie hinzu, „sind wir technisch kein Studentenhaus. Dies ist nur ein Ort, den wir mieten, um zu übernachten, wenn wir nicht zurück zu unserem Wohnheim wollen. Cindy ist nie hier geblieben. Zu modern für sie. Sie mochte es eher heimeliger.“ „Wo wohnt sie?“ „In einer Studentenwohnung nicht weit von hier“, sagte Rachel. „Aber sie ist am Samstagabend nicht nach Hause gefahren. Sie sollte sich mit ihrem Freund treffen.“ Averys horchte auf. „Freund?“ Rachel nickte. „Winston Graves, im Abschlussjahrgang, nimmt sich ober-wichtig, Ruderer, Arschloch. Keiner von uns hat je begriffen, warum sie mit ihm zusammen ist. Nun, ich glaube, ich habe es schon verstanden. Er sieht gut aus und kommt aus einem reichen Elternhaus. Cindy hatte nie Geld. Ich denke, wenn man nicht aus einem reichen Elternhaus kommt, ist es wirklich ansprechend.“ Ja, dachte Avery, ich weiß. Sie erinnerte sich, wie Geld, Ansehen und Macht in ihrer früheren Anwaltskanzlei sie glauben ließ, sie sei irgendwie anders als dieses verängstigte und entschlossene Mädchen, das Ohio verlassen hatte. „Wo wohnt Winston?“, fragte sie. „Im Winthrop-Platz. Es ist wirklich in der Nähe. Aber Cindy ist dort nie angekommen. Winston kam am Sonntagmorgen in der Früh und suchte nach ihr. Er nahm an, dass sie ihn einfach vergessen hatte und schlafen gegangen war. Also gingen wir zusammen zu ihr. Aber sie war nicht da. Dann habe ich die Polizei angerufen.“ „Könnte sie irgendwo anders hingegangen sein?“ „Auf keinen Fall“, sagte Rachel. „Das passt nicht zu Cindy.“ „Also, als sie hier weggegangen ist, bist du dir sicher, dass sie zu Winstons Haus gegangen ist?“ „Absolut.“ „Gab es etwas, das diese Pläne geändert haben könnte? Irgendetwas, was ihr am frühen Abend oder gar am Ende des Abends passiert ist?“ Rachel schüttelte den Kopf. „Nein. Gut“, erinnerte sie sich, „da war etwas. Ich bin sicher, dass es nicht wichtig ist, aber es gibt diesen Jungen, der in Cindy seit Jahren verknallt ist. Sein Name ist George Fine. Er sieht gut aus, wirkt hart, ein Einzelgänger, ein wenig seltsam, wenn Sie wissen, was ich meine? Macht viel Sport und joggt viel rund um den Campus. Ich hatte einmal im vergangenen Jahr einen Kurs mit ihm. Einer unserer Witze war, dass er seit Anfang an fast jedes Semester in einem Kurs mit Cindy gewesen ist. Er ist von ihr besessen gewesen. Er war Samstag hier und das Verrückte ist, Cindy tanzte mit ihm und sie küssten sich sogar. Das sieht Cindy überhaupt nicht ähnlich. Ich meine, sie ist mit Winston zusammen - nicht, dass sie eine perfekte Beziehung gehabt hätten - aber sie war wirklich betrunken und wütend. Sie küssten sich, tanzten und dann ging sie.“ „Ging George ihr nach?“ „Ich weiß nicht“, sagte sie. „Ehrlich. Ich erinnere mich nicht, ihn zu sehen, nachdem Cindy gegangen war, aber das könnte daran liegen, dass ich total blau war.“ „Erinnerst du dich, wie spät es war, als sie gegangen ist?“ „Ja“, sagte sie, „genau um zwei Uhr fünfundvierzig. Samstag war unsere alljährliche Aprilscherzparty und wir sollten diesen großartigen Streich spielen, aber alle hatten so viel Spaß, dass wir es vergessen haben, bis Cindy weg war.“ Rachel senkte den Kopf. Stille machte sich im Raum breit. „Sieh mal“, sagte Avery, „das war eine große Hilfe. Vielen Dank. Hier ist meine Karte. Wenn du dich an etwas anderes erinnern kannst, oder wenn deine Schwestern aus der Schule etwas hinzuzufügen haben, würde ich gerne davon erfahren. Dies ist eine offene Ermittlung, so dass auch das kleinste Detail ein Hinweis für uns sein kann.“ Rachel stand ihr mit Tränen in den Augen gegenüber. Als die Tränen ihre Wangen herunterrollten, blieb ihre Stimme ruhig und gelassen. „Sie ist tot“, sagte sie, „nicht wahr?“ „Rachel, ich kann nicht.“ Rachel nickte, dann umschloss sie ihr Gesicht mit den Händen und brach zusammen. Avery beugte sich vor und umarmte sie fest.
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