KAPITEL VIER

1378 Words
KAPITEL VIER Die Dearbornes lebten in einem netten kleinen Haus in Somerville. Avery las die Informationen, die ihr geschickt worden waren, während Ramirez das Auto lenkte. Patty Dearborne war eine großartige Studentin, in ihrem letzten Jahr an der Boston Universität plante sie eine Beraterin für eine Firma, die sich der Erforschung von Verhalten widmete, zu werden. Ihre Mutter, Wendy war eine Pflegerin auf der Traumastation, die zwischen zwei verschiedenen Krankenhäusern pendelte. Pattys Vater Richard war ein Business-Development-Manager für eine große Telekommunikationsfirma. Sie waren eine Vorzeigefamilie, ohne einen einzigen Fleck auf ihrer weißen Weste. Und Avery war dabei ihnen zu sagen, dass ihre Tochter tot war. Nicht bloß tot, sondern dass sie vollständig nackt in einen eiskalten Fluss geworfen worden war. „Also“, sagte Ramirez als er sich durch die rustikalen kleinen Straßen Somervilles schlängelte. „Wirst Du die Stelle als Sergeant annehmen?“ „Das weiß ich noch nicht“, sagte sie. „Tendierst du zu irgendeiner Antwort?“ Sie dachte einen Moment darüber nach und schüttelte dann ihren Kopf. „Ich will gerade nicht darüber sprechen. Es erscheint mir sehr unwichtig im Vergleich zu dem, was wir gleich tun werden.“ „Hey, Du hast Dich freiwillig dafür gemeldet“, bemerkte er. „Ich weiß“, sage sie, immer noch nicht sicher warum. Ja, sie wollte eine gute Spur finden, aber sie spürte, dass da noch etwas anderes war. Patty Dearborne war nur drei Jahre älter als Rose. Es war viel zu einfach, sich Roses Gesicht auf der gefrorenen Leiche vorzustellen. Aus irgendeinem bizarren Grund fühlte Avery deshalb, dass sie der Familie die traurige Neuigkeit überbringen musste. Vielleicht war es ein mütterlicher Drang, aber sie spürte, dass sie es der Familie auf eine komische Art schuldete. „Lass mich mal was fragen“, sagte er. „Warum bist Du so sicher, dass das keine einmalige Angelegenheit ist? Vielleicht ist ein Exfreund einfach durchgedreht. Vielleicht ist das eine einmalige Sache.“ Sie grinste kurz, da sie wusste, dass er nicht mit ihr stritt. Nicht wirklich. Sie hatte bemerkt, dass er es mochte, Einblicke darin zu bekommen, wie sie dachte. Seine Zurückweisung ihrer Theorien war eine einfache Möglichkeit, um sie aufzuregen. „Basierend auf dem, was wir von der Leiche wissen, war dieser Kerl vorsichtig und gründlich. Ein wütender Exfreund wäre nicht so vorsichtig darauf bedacht keine Verletzungen zu hinterlassen. Die Finger- und Zehennägel sind da die entscheidenden Argumente für mich. Jemand hat sich viel Zeit mit ihnen genommen. Ich hoffe, dass Pattys Eltern uns mehr über ihren Charakter sagen können. Wenn wir mehr über sie wissen, können wir genau feststellen, welche Manipulationen an ihrem Körper von demjenigen vorgenommen wurden, der sie auch in den Fluss geworfen hat.“ „Wenn man vom Teufel spricht“, sagte Ramirez und zeigte nach vorne. „Wir sind da. Bist Du bereit?“ Sie holte tief und zitternd Luft. Sie liebte ihre Arbeit, aber dies war ein Teil davon, den sie wirklich fürchtete. „Ja, los geht’s“, sagte sie. Bevor Ramirez ein weiteres Wort sagen konnte, öffnete Avery die Tür und stieg aus dem Auto aus. Sie wappnete sich selbst gegen das, was kommen würde. *** Avery wusste, dass niemand auf dieselbe Art und Weise trauert. Darum war sie kaum überrascht, als sich Wendy Dearborne fünfzehn Minuten später fast in einem Schockzustand befand, wohingegen Richard Dearborne ein laut tobendes Häufchen Elend war. Einmal fürchtete sie, dass er gewalttätig werden würde, als er eine Vase vom Küchentisch schlug, die auf dem Boden zerbrach. Das Gewicht der Nachricht hing schwer im Raum. Avery und Ramirez blieben ruhig und sprachen nur, wenn sie eine Frage stellten. In der Stille fielen Avery zwei Bilder von Patty im Wohnzimmer auf; eines stand auf der Brüstung über dem Kamin und das andere war eine Leinwand, die am anderen Ende des Wohnzimmers an der Wand hing. Averys Verdacht bestätigte sich. Die Frau war absolut unglaublich schön gewesen. Wendy und Richard saßen nun beide auf der Couch im Wohnzimmer. Wendy hatte ein wenig die Fassung wiedererlangt, doch ließ sie hin und wieder ein magenumdrehendes Schluchzen vernehmen, während sie sich an Richards Schulter lehnte. Mit tränenüberströmtem Gesicht sah Richard Avery an. „Können wir sie sehen? Wann können wir sie sehen?“ „Jetzt sofort, die Forensik versucht immer noch herauszufinden, was ihr passiert sein könnte. Wie Sie sich vielleicht vorstellen können, erschweren es das kalte Wasser und die niedrigen Temperaturen Spuren oder Beweise zu finden. In der Zwischenzeit würde ich Ihnen gerne ein paar Fragen stellen, die dazu beitragen könnten, dass wir Antworten finden.“ Auf beiden Gesichtern zeichneten sich Verwirrung und Horror ab, aber es war klar, dass Wendy keine Hilfe sein würde. Sie war schweigend erstarrt und blickte ab und zu im Wohnzimmer umher, so als ob sie sichergehen wollte, dass sie wusste, wo sie war. „Natürlich, welche Fragen Sie auch immer haben“, sagte Richard. Avery glaubte, dass dieser Mann tief in seinem Inneren hart und zäh war – vielleicht versuchte er selbst an ein paar Antworten zu kommen. „Ich weiß, dass es wie eine komische Frage klingen wird“, sagte Avery. „Aber war Patty eine Frau, die sich eingehend mit ihrem Aussehen, mit Körperpflege, Schminken und Fingernägeln und so beschäftigte?“ Richard stieß einen Klagelaut aus und schüttelte seinen Kopf. Er weinte noch immer, aber immerhin war er in der Lage Worte zwischen seinen Atemstößen zu formulieren. „Überhaupt nicht. Sie war eher ein draufgängerisches Mädchen, eher an Jungssachen interessiert. Jeden verdammten Tag würde man eher Dreck unter ihren Fingernägeln finden, bevor man an ihnen Nagellack finden würde. Sie machte sich manchmal fein aber nur für besondere Anlässe. Manchmal schenkte sie ihrem Haar viel Beachtung, aber sie ist keine – sie war keine – kein typisches Mädchen, keine Tussi, verstehen Sie?“ Sich selbst zu korrigieren und von seiner Tochter in der Vergangenheit zu sprechen, schien etwas in Richard Dearborne zu zerstören. Avery unterdrückte einen kleinen Schauder, als ihr Herz deswegen brach. Das alles war genug dass sie die Entscheidung fallen ließ die nächste Frage zu stellen die nun eigentlich anstünde – die Frage, wie oft sich Patty eigentlich ihre Beine rasierte. Avery würde darauf wetten, dass wenn sie keine mädchenhafte Frau war, sondern eher der Kumpeltyp, der sich nicht groß um seine Nägel scherte, dann würde sie auch kaum zu obsessivem rasieren neigen. Es gab keinen Grund einem Mann diese Frage zu stellen, der gerade seine Tochter verloren hatte. „Wissen Sie, ob Patty irgendwelche Feinde hatte? Irgendwer, der ihr Probleme bereitete?“ Es dauerte eine Weile, bis sie die Frage verstanden. Als sie sie schließlich verstanden, kehrte das wütende Flackern in Richard Dearbornes Augen zurück. Er erhob sich von der Couch, wurde aber von seiner Frau zurückgehalten, in dem sie sein Handgelenk packte. „Dieser Hurensohn“, schrie Richard. „Ja. Oh, ja, ich kenne jemanden und wette alles... oh Gott...“ „Mr. Dearborne?“ fragte Ramirez. Er war langsam aufgestanden, vielleicht weil er eine Art wutentbrannten Ausraster von Richard erwartete. „Allen Haggerty. Er war ein Exfreund meiner Tochter in der Highschool. Er ließ sie einfach nicht in Ruhe, als die Beziehung nach zwei Jahren im College zerbrach.“ „Hat er irgendwelche Probleme gemacht?“ fragte Ramirez. „Ja. Und zwar so viele, dass Patty ein Kontaktverbot erwirken musste. Er lauerte ihr nach ihren Kursen auf. Es wurde so schlimm, dass Patty das letzte Jahr hier lebte, weil sie sich in ihrem Zimmer im College nicht mehr sicher fühlte. „Wurde er je gewalttätig?“ fragte Avery. „Falls er gewalttätig geworden ist, hat Patty uns nichts davon erzählt. Ich weiß, dass er versucht hatte sie anzufassen - Umarmungen und Küsse und solche Sachen. Aber sie sagte nie, dass er sie geschlagen hätte.“ „Die Notiz... “ Wendy Dearbornes Stimme war leise und schwach wie ein Windhauch. Sie blickte Avery oder Ramirez immer noch nicht an. Ihre Augen waren niedergeschlagen und ihr Mund leicht geöffnet. „Welche Notiz?“ fragte Avery. „Eine Notiz, die Patty uns nie gezeigt hat, aber die wir in einer ihrer Hosentaschen gefunden haben, als wir ihre Wäsche wuschen während sie hier wohnte“, sagte Richard. „Der Widerling hat eine Notiz an ihren Schlafraum in der Uni geheftet. Sie hat es nie ausdrücklich gesagt, aber wir glauben, dass das der Grund war, warum sie wieder bei uns eingezogen ist. Ich kann mich nicht an jedes einzelne Wort erinnern, aber er schrieb, dass er daran dachte sich umzubringen, weil er sie nicht haben könnte und wie wütend ihn das machte. Er schrieb ziemlich makabre Sachen. Wenn er sie nicht haben könnte, sollte sie keiner haben.“ „Haben Sie den Zettel noch?“ „Nein, als wir Patty darauf ansprachen, warf sie ihn weg.“ „Wie lange hat sie hier gewohnt?“ fragte Avery. „Bis letzten Sommer“, antwortete Richard. „Sie sagte, sie wolle nicht mehr in Angst leben. Wir entschieden uns, dass wir sofort die Polizei rufen würden, sollte Allen auch nur das Geringste anstellen. Und jetzt... jetzt das...“ Eine schwere Stille erfüllte den Raum bis er schließlich aufblickte. Avery konnte den Zorn und den Schmerz in seinem Blick fühlen. „Ich weiß, dass er es war“, sagte er.
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