Prolog

895 Words
Prolog St. Petersburg 2011 Dima Ich geh zu heftig in die Bremsen meines Ladas und das Auto, das ich mir mit meinem Zwillingsbruder teile, beginnt, auf der vereisten Autobahn unkontrolliert zu schleudern. Für einen herrlichen Augenblick glaube ich, ich hätte es geschafft. Ich werde dem Ganzen ein Ende setzen. Ich werde meine Seele nicht der Bratwa verkaufen müssen, um die Schulden zu tilgen, die ich für ihre Behandlung aufgenommen habe. Jetzt werde ich sie wiedersehen. Ich hatte ihr versprochen, dass es für mich keine andere geben wird. Ich hatte es ihr dort im Krankenhaus geschworen, in der Nacht, bevor sie ihren letzten Atemzug getan hat. Als sie den Ring, den ich ihr geschenkt hatte, abgenommen und ihn mir an den kleinen Finger gesteckt hatte. Du wirst immer mir gehören, und ich werde immer dir gehören. Sogar im Tod. Warte auf mich. Ich werde dir bald nachfolgen. Kurz bevor ich nach Hause gegangen bin und mit der Faust auf meine Schlafzimmerwand eingeschlagen habe, bis der Putz abbröckelte. Nikolais panische Schreie dringen in meine Ohren, als unser Auto durch die Leitplanke kracht, die meine Seite des Wagens zerquetscht. Metall kreischt, Glas zersplittert. Wir hängen über dem Rand der Brücke über dem zugefrorenen Fluss. Das ist der Moment. Zeit, zu sterben. Jetzt wird der Schmerz endlich aufhören. Ich bin mir nicht sicher, ob ich an ein Leben nach dem Tod glaube, aber ich weiß, dass ich nicht mehr länger ohne sie leben will. Nikolai löst seinen Gut und reißt die Tür auf, zerrt an meinem Hemd, um mich auf seine Seite zu ziehen. „Njet.“ Ich rühre mich nicht. Sobald er aus dem Wagen steigt, wird das Auto in den Fluss hinabstürzen. Ich weiß nicht, ob das Eis unter dem Gewicht nachgeben wird. Vielleicht reicht schon der Aufprall aus, mich umzubringen. Das kann ich nur hoffen. Nikolai krallt noch immer eine Hand in mein Hemd. Mit der anderen schlägt er mir ins Gesicht. Schmerzen explodieren hinter meiner Nase und meinen Augen. Meine Sicht verschwimmt und mir wird schwarz vor den Augen. Ich schmecke Blut. Nikolai nutzt meine Desorientierung aus, um mich hinter dem Lenkrad hervorzuzerren. „Raus aus dem Wagen, verdammt noch mal“, knurrt er auf Russisch. Ich kann noch immer nichts sehen. Meine Beine strampeln – f**k. Ich glaube, sie krabbeln gerade wie von allein aus dem Auto. Ich strecke die Hand aus und greife nach dem Türgriff. Dem Lenkrad. Nach irgendwas, um im Auto bleiben zu können, während es von der Brücke stürzt, aber mein Zwillingsbruder ist zu schnell. Er wirft sich zurück und fällt neben seiner Tür auf den Boden, reißt mich mit und ich lande auf ihm. Metall ächzt. Das Auto neigt sich und stürzt wie in Zeitlupe von uns fort. Die Welt um mich herum dreht sich und für einen Augenblick fühlt es sich so an, als ob die Brücke selbst einstürzen würde. Dann kracht das Auto tief unter uns in das Eis. Nikolai boxt mir noch einmal ins Gesicht. Und noch einmal. „Du wirst heute nicht sterben, Arschloch.“ Noch ein Fausthieb. „Und reiß mich verdammt noch mal nicht mit dir mit.“ Ich stöhne, würge an meinem eigenen Blut. Ich wollte Nikolai nicht umbringen. Ich bin ein Bastard, dass ich ihn nicht als eigenständige Person sehe. Ich hatte nicht geplant, heute zu sterben – jedenfalls nicht bewusst. Aber ich hätte Nikolais Anwesenheit im Auto mehr Aufmerksamkeit zollen sollen, bevor ich diesen nicht-Plan ausführe. So ist das mit Zwillingen. Nikolai fühlt sich an wie eine Teil von mir. Die stille Gegenwart, die während der Monate von Alyonas Chemo- und Strahlentherapie meinen Schmerz geteilt hat. Der meine Hausaufgaben für mich gemacht hat und Kurse getauscht hat, so getan hat, als wäre er ich, und meine Arbeiten geschrieben hat, als mir die Schule egal geworden war. Er war es, der von dem Darlehen der Bratwa mitbekommen hatte, als nur noch eine neuartige, teure Behandlung Hoffnung versprach. Wir sprechen nicht darüber. Das müssen wir nicht. Er hat diese ganze beschissene Sache mit mir zusammen durchgemacht. Von dem Augenblick an, in dem ich mich in das wunderschönste Mädchen der Stadt verliebt hatte, bis zu dem Tag, als wir sie beerdigt haben. Ich stöhne auf und rolle mich im Schnee zusammen, der vom Blut aus meiner Nase und der aufgeplatzten Lippe langsam purpurrot gefärbt wird. „Steh auf.“ Ich bewege mich nicht. Über den heulenden Wind hinweg kann ich nicht hören, wie ein zweites Auto anhält. Eine Tür aufgerissen wird. „Einsteigen“, befiehlt eine autoritäre Stimme. Nikolai versucht, mich auf die Füße zu zerren. Ich rühre mich nicht von der Stelle. „Setze sie ins Auto.“ Zwei Paar glänzend schwarzer Stiefel stampfen in mein Sichtfeld und ich werde auf die Füße gerissen und auf die Rückbank einer Limousine gestoßen. Das war die Nacht, in der ich Igor Antonov zum ersten Mal begegnet bin. Die Nacht, in der die Bratwa uns gefunden und unsere Schulden eingetrieben hat, nicht in Form von Drohungen oder Schlägen, sondern durch die vollkommene Kontrolle über unser Leben. Denn Igor kannte den Wert von jungen Männern mit einer Todessehnsucht nur allzu gut. Seine ganze Armee bestand aus solchen Männern. Und so hat unsere Mutter in dieser Nacht ihre beiden Söhne verloren. Aber sie glaubt, sie hätte uns an den eisigen Fluss verloren, nicht an die Bruderschaft, die von uns verlangt, sämtliche früheren Verbindungen abzubrechen.
Free reading for new users
Scan code to download app
Facebookexpand_more
  • author-avatar
    Writer
  • chap_listContents
  • likeADD