KAPITEL VIER
Gwendolyn eilte durch die verwinkelten Gassen von King’s Court. Akorth und Fulton trugen Godfrey hinter ihr her, während sie sich einen Weg durch das gemeine Volk bahnte. Sie war fest entschlossen, die Heilerin so schnell wie nur irgendwie möglich zu erreichen.
Godfrey durfte nicht sterben. Nicht nach allem was sie gemeinsam durchgemacht hatten. Und schon gar nicht so! Sie konnte Gareths selbstzufriedenes Grinsen fast vor sich sehen, wenn er die Nachricht von Godfreys Tod erhalten würde. Sie war fest entschlossen, den Ausgang dieser Geschichte zu ändern. Sie wünschte nur, dass sie ihn früher gefunden hätte.
Als Gwen um die Ecke bog, und quer über den Hauptplatz lief, wurden die Menschenmassen besonders dicht. Sie blickte auf und sah Firth, wie er noch immer am Galgen hing, die Schlinge um seinen Hals, damit das gemeine Volk etwas zu gaffen hatte. Instinktiv wandte sie den Blick ab. Es war ein grauenvoller Anblick. Eine Erinnerung an die Bosheit ihres Bruders. Sie hatte das Gefühl, ihm nicht entkommen zu können, egal wohin sie sich wandte.
Es war seltsam zu denken, dass sie erst gestern mit Firth gesprochen hatte – und nun hing er dort. Sie konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass sie vom Tod umringt war – und dass er auch sie holen würde.
So sehr sich Gwen auch abwenden und einen anderen Weg wählen wollte, wusste sie doch, dass der Weg quer über den Platz der kürzeste war. Und sie würde vor ihren Ängsten nicht klein beigeben! Sie zwang sich direkt am Galgen vorbeilaufen, direkt vorbei an Firth’ totem Körper. Als sie vorbeilaufen wollte, war sie überrascht, als sich der königliche Scharfrichter in seiner schwarzen Robe vor ihr aufbaute.
Zuerst dachte sie, dass er nun auch sie töten würde – bis er sich vor ihr verneigte.
„Mylady“, sagte er bescheiden, und senkte den Kopf in Ehrerbietung. „Es gibt noch keinen königlichen Befehl, was mit dem Leichnam geschehen soll. Ich habe noch keine Weisung erhalten, ob er ein ordentliches Begräbnis erhalten, oder ich ihn in ein Massengrab werfen soll.“
Gwen hielt inne, ärgerlich darüber, dass diese Entscheidung ihr aufgebürdet werden sollte; Akorth und Fulton blieben neben ihr stehen. Sie blickte nach oben, blinzelte der Sonne entgegen, und schaute zu Firth‘ Körper, den nur wenige Meter neben ihr vom Galgen hing.
Sie war im Begriff weiterzulaufen und den Scharfrichter zu ignorieren, als ihr etwas einfiel. Sie wollte Gerechtigkeit für ihren Vater.
“Wirf ihn in ein Massengrab.”, sagte sie. „Nicht markiert. Und gebt ihm keine Bestattungsriten. Ich will, dass sein Name von den Annalen der Geschichte vergessen wird.“
Er neigte seinen Kopf in Anerkennung, und sie spürte ein leises Gefühl der Bestätigung. Immerhin war Firth einer der Männer, die ihren Vater umgebracht hatten. Während sie die Demonstration von Gewalt verabscheute, vergoss sie nicht eine einzige Träne für Firth. Sie konnte den Geist ihres Vaters in sich spüren – stärker als jemals zuvor. Und spürte, wie ein Gefühl des Friedens von ihm ausging.
„Und noch etwas“, fügte sie hinzu und unterbrach den Henker. „Nimm den Leichnam jetzt vom Galgen.“
„Jetzt, Mylady?“, fragte der Scharfrichter. „Aber der König hat befohlen, ihn auf unbestimmte Zeit hier hängen zu lassen.“
Gwen schüttelte den Kopf.
„Jetzt“, wiederholte sie. “Das ist dein neuer Befehl.”, erklärte sie.
Der Henker verneigte sich vor ihr und eilte davon, um den Leichnam loszuschneiden.
Gwen spürte einen Anflug von Genugtuung. Sie hatte keinen Zweifel daran, dass Gareth im Laufe des Tages aus dem Fenster nach Firth Leichnam sehen würde. Seine Beseitigung würde ihn rasend machen vor Wut, und als kleine Erinnerung dienen, dass nicht immer alles nach Plan verläuft.
Sie war gerade im Begriff weiterzugehen, als sie einen markanten Schrei hörte. Sie blieb stehen, drehte sich um und sah hoch auf dem Galgen sitzend Estopheles, den Falken. Sie hob die Hand, um ihre Augen vor der Sonne zu schützen. Gwen wollte sich versichern, dass ihre Augen ihr nicht einen Streich spielten. Estopheles schrie wieder und schlug mit den Flügeln. Sie konnte spüren, dass der Vogel den Geist ihres Vaters in sich trug. Seine Seele, so rastlos, war dem Frieden ein Stückchen näher.
Gwen hatte plötzlich eine Idee; sie pfiff und streckte einen Arm aus, und Estopheles stürzte sich vom Balken herab und landete auf Gwens Handgelenk. Der Vogel war schwer und die Krallen gruben sich in Gwens Haut.
„Flieg zu Thor“, flüsterte sie dem Vogel zu. „Finde ihn auf dem Schlachtfeld, und beschütze ihn. FLIEG!“, rief sie und hob ihren Arm.
Sie beobachtete, wie Estopheles mit den Flügeln schlug und sich höher und immer höher in die Luft erhob. Sie betete, dass er funktionieren würde. Der Vogel hatte etwas Geheimnisvolles an sich, besonders in seiner Verbindung zu Thor, und Gwen wusste, dass alles möglich war.
Sie eilten weiter durch die verwinkelten Gassen in Richtung des Hauses der Heilerin. Sie kamen durch eines von mehreren Bogentoren auf dem Weg heraus aus der Stadt, und sie lief so schnell sie nur konnte, betend, dass Godfrey lange genug durchhalten würde, bis sie die Heilerin erreichten.
Die zweite Sonne hing tief am Himmel als sie den kleinen Hügel am Rande von King’s Court erklommen und das Häuschen der Heilerin in Sicht kam. Es war ein einfaches Haus mit nur einem Raum, weißen Wänden aus Lehm, einem kleinen Fenster auf jeder Seite und einer niedrigen oben abgerundeten Eichenholztüre an der Vorderseite. Vom Dach hingen Pflanzen in jeder nur erdenklichen Farbe und Sorte. Sie umrahmten das Häuschen, das von einem ausgedehnten Kräutergarten umgeben wurde. Pflanzen jeder Farbe und Größe erweckten den Eindruck, dass das Häuschen inmitten einer Gärtnerei erbaut worden war.
Gwen rannte zur Tür und schlug mehrere Male mit dem Klopfer dagegen.
Die Türe öffnete sich, und vor ihr erschien das erschrockene Gesicht der Heilerin Illepra. Sie war ihr Leben lang die Heilerin der königlichen Familie, und ein fester Bestandteil in Gwens Leben gewesen, solange sie denken konnte. Doch Illepra sah immer noch jung aus. In der Tat wirkte sie kaum älter als Gwen. Ihre Haut leuchtete, ihre gütigen grünen Augen strahlten, und sie wirkte kaum älter als 18 Jahre. Gwen wusste genau, dass ihr Aussehen täuschte und sie weitaus älter war als das. Und sie wusste auch, dass Illepra eine der intelligentesten und talentiertesten Menschen war, denen sie jemals begegnet ist.
Illepra’s Blick wanderte zu Godfrey, während sie die gesamte Szene auf einmal aufnahm. Sie ließ die Förmlichkeiten aus, und ihre Augen weiteten sich mit Besorgnis, als sie die Dringlichkeit der Situation erkannte. Sie eilte an Gwen vorbei an Godfrey’s Seite und legte die Hand auf seine Stirn. Ihre Miene verdunkelte sich.
„Bringt in hinein.“, wies sie die beiden anderen Männer hastig an. „Und macht schnell.“
Illepra ging wieder ins Haus und öffnete die Türe weiter. Akorth und Fulton folgten ihr auf dem Fuße. Gwen kam hinterher und schloss die Türe hinter sich.
Es war dämmerig im Haus, und ihre Augen brauchten einen Moment, um sich anzupassen. Als sie es taten, erschien das Häuschen genau so, wie sie es seit ihrer Kindheit in Erinnerung hatte: klein, hell, sauber und voll mit Pflanzen, Kräutern und Tränken jeder nur erdenklichen Sorte.
„Legt ihn bitte hier hin.“, wies Illepra die Männer an. So ernst hatte sie Gwen noch nie zuvor gehört. „Auf das Bett in der Ecke. Zieht ihm das Hemd und die Schuhe aus. Und dann verlasst uns.“
Akorth und Fulton taten, wie ihnen geheißen wurde. Als sie aus der Türe eilten, ergriff Gwen Akorth’s Arm.
„Steht Wache vor der Tür.“, befahl sie. „Wer auch immer letzte Nacht versucht hat Godfrey zu töten, wird vielleicht noch einmal versuchen in umzubringen. Oder mich.“
Akorth nickte und er und Fulton verließen das Haus und schlossen die Tür hinter sich.
„Wie lange ist er schon so?“, fragte Illepra ohne Gwen auch nur anzusehen während sie an Godfrey’s Seite kniete und begann, sein Handgelenk, seinen Bauch und seine Kehle abzutasten.
„Seit letzter Nacht.“, antwortete Gwen.
„Seit letzter Nacht!“, echote Illepra und schüttelte besorgt den Kopf. Sie untersuchte ihn lange stumm und ihr Gesichtsausdruck verdunkelte sich.
„Es steht nicht gut um ihn.“, sagte sie schließlich.
Sie legte eine Hand auf seine Stirn und dieses Mal schloss sie dabei die Augen, atmete langsam. Gwen kam es wie eine Ewigkeit vor. Eine tiefe Stille durchdrang den Raum, und Gwen begann, ihr Zeitgefühl zu verlieren.
„Gift“, flüsterte Illepra schließlich, die Augen noch immer geschlossen, als ob sie seinen Zustand alleine durch die Berührung ihrer Hand lesen könnte.
Gwen hatte schon immer ihre Fähigkeiten bestaunt; nicht ein einziges Mal war sie falsch gelegen, solange sich Gwen erinnern konnte.
Sie hatte mehr Leben gerettet, als manche Armee genommen hatte. Gwen fragte sich, ob sie die Fähigkeiten erlernt, oder in die Wiege gelegt bekommen hatte; Denn auch Illepra’s Mutter war eine Heilerin gewesen, genauso wie auch deren Mutter zuvor. Und dennoch hatte Illepra jede wache Minute ihres Lebens damit verbracht, die Heilkunst zu studieren.
„Ein sehr starkes Gift.“, fügte Illepra hinzu, selbstbewusster. „Eines, das mir nur selten begegnet. Es ist teuer. Wer versucht hat, ihn zu töten, wusste was er tat. Es ist fast unglaublich, dass er noch am Leben ist. Er muss viel stärker sein, als es den Anschein hat.“
„Das hat er von unserem Vater“, sagte Gwen. „Er hatte die Zähigkeit eines Stieres. Alle McGil Könige waren so.“
Illepra durchquerte den Raum und begann, verschiedene Kräuter auf einem Holzblock zu mischen. Sie zerkleinerte und mahlte sie und fügte eine Flüssigkeit hinzu. Das Ergebnis war eine zähe grüne Paste, die sie d**k auf Godfrey’s Hals, unter seinen Armen und auf seiner Stirn auftrug. Als sie fertig war, ging sie wieder auf die andere Seite des Raumes und füllte mehrere farbige Flüssigkeiten in ein Trinkgefäß. Sie waren rot, braun und violett.
Als sie sich vermischten, zischte und blubberte der Trank. Sie rührte ihn mit einem langen hölzernen Löffel, dann eilte sie zurück zu Godfrey und tropfte etwas davon auf seine Lippen.
Godfrey rührte sich nicht; Illepra griff unter seinen Kopf und hob ihn mit ihrer Hand an, um die Flüssigkeit in seinen Mund zu träufeln. Das meiste davon lief seitlich heraus und über seine Wangen, doch er schluckte auch ein wenig.
Illepra tupfte die Flüssigkeit von seinem Gesicht, lehnte sich endlich zurück und seufzte.
„Wird er leben?“, fragte Gwen panisch.
„Vielleicht.“, antwortete Illepra düster. “Ich habe ihm alles verabreicht, was ich gegen das Gift habe. Aber das ist nicht genug. Sein Leben liegt in den Händen des Schicksals.“
“Was kann ich tun?”, fragte Gwen.
Sie wandte sich Gwen zu und blickte sie ernst an.
„Bete für ihn. Es wird eine lange Nacht werden.“