Der Thron des Vampirs-1

2372 Words
Alice Jones musste eine leichte, nervöse Übelkeit unterdrücken, als sie in die parfümgeschwängerte Luft der noblen Kunstgalerie trat. Die gesamte Einrichtung der beeindruckenden Galerie war in einem edlen, rustikalen Stil gehalten, von den riesigen Räumen mit kunstvoll freigelegten Rohren an der Decke bis zu den intimen Nischen aus rohem Ziegelstein und Glas. Alices bewegte sich unsicher auf ihren geliehenen Stöckelschuhen; bei jedem Schritt riskierte sie auf ihren Hintern zu fallen, aber sie war fest entschlossen, sich aufrecht zu halten. Klasse. Denk dran, du hast Klasse, dachte sie. Bei jedem Schritt erwartete Alice beinahe, dass irgendjemand sie mit den Worten „Eindringling aus dem niederen Volk!“ beschimpfen und ihre Fotografien von der Wand reißen würde. Bis jetzt allerdings nickten die reichen Gäste wohlwollend bei der Betrachtung ihrer Werke und lächelten soweit es ihre durch Botox extrem begrenzte Mimik zuließ. Ein schweres Weinglas wurde ihr plötzlich in die Hand gedrückt. Alice sah auf und blickte in das lächelnde Gesicht der Galeriebesitzerin, Margot Dal. „Du siehst aus als könntest du einen Drink gebrauchen.“ Margot deutete auf das Glas, das bis zum Rand gefüllt war. Alice befürchtete, dass beim leisesten Luftzug, die Flüssigkeit auf ihre Bluse spritzen würde. „Um damit zu duschen?“, fragte Alice. Sie neigte übertrieben vorsichtig den Kopf und nahm einen betont langsamen Schluck, ohne die Hand zu bewegen, schenkte Margot aber dankbares Lächeln. In den letzten Wochen vor der Eröffnung der Ausstellung hatte Alice eng mit Margot zusammengearbeitet, aber die große, beeindruckende Frau schüchterte sie noch immer etwas ein. „Was soll ich sagen? Ein wahrer Freund hilft dir dabei, deine Hemmungen zu überwinden.“ Margot war aber nicht mehr richtig bei der Sache. Sie ließ ihren Blick durch die Menge wandern, als ob sie jemanden suchte. Alice zwang sich ruhig zu bleiben. Sie würde alles geben, um auch nur halb so gelassen zu sein wie Margot. Margot wirkte an jedem Ort entspannt und selbstbewusst, aber in ihrer Galerie war sie wie eine Königin. Ihre dunkle Haut schimmerte golden im Licht der Lampen, und ihr schwarzes Kleid war schlicht, geschmackvoll und kostete wahrscheinlich mehr als Alices monatliche Miete. Für das große Debüt ihrer Fotografien hatte Alice ihre letzten Pfennige zusammengekratzt, um sich ein neues Kleid zu kaufen. Sie erblickte ihr Spiegelbild und zog eine Grimasse. Ihr rotes Haar lockerte sich aus dem straff geflochtenen Zopf und die entkommenen Strähnen umspielten weich ihr Gesicht. Ihre strahlend blauen Augen wirkten durch Lidstrich und Schminke riesengroß. Das trägerfreie grüne Abendkleid war gar nicht so schlecht. Es schmiegte sich eng an ihren Körper und betonte ihre schmale Taille. Kleine weiße Perlen am Ausschnitt lenkten die Aufmerksamkeit auf ihr üppiges Dekolleté. Ein lilafarbener Schal bedeckte ihre Schultern und ihren Nacken. Er hatte die gleiche Farbe wie die Ohrringe aus Kristallperlen. Alice musste sich sehr beherrschen, um sich nicht in den Falten ihres Schals zu verkriechen. Je länger sie hier war, desto mehr wünschte sie sich, sie hätte Margots Angebot, ihr eines ihrer vielen Designerkleider zu borgen, angenommen. „Weißt du, ob schon einige Bilder verkauft worden sind?“ Alice nippte an ihrem Glas und versuchte, die Frage möglichst nebensächlich hervorzubringen, als ob ihr die Antwort eigentlich egal wäre. Margot lachte leise. Ihr konnte man nichts vormachen. „Mach dir keine Gedanken, Süße. Überall erscheinen kleine, rote Punkte, die einen abgeschlossenen Verkauf anzeigen.“ Sie sah Alice an und zog die Augenbrauen hoch. „Aber du weißt schon, was den Verkauf noch fördern würde, oder?“ „Was denn?“ Alices Magen machte einen nervösen Hopser. Sie ahnte schon, was Margot sagen wollte. „Du musst mit den Leuten sprechen. Sie müssen dich und die Geschichten hinter den Fotos kennenlernen.“ Margot deutete mit einer schnellen Handbewegung auf die Menschenmenge in der Galerie. „Du weißt doch, wie diese reichen, gelangweilten Typen sind; sie wollen nicht nur die Kunst, sondern auch die Geheimnisse, die sich dahinter verbergen.“ Margot sah Alice streng an. „Trink mindestens ein Viertel von diesem Wein und dann sieh zu, dass du aus dieser Ecke rauskommst, bevor ich dich mit einem Besen herausbugsiere.“ Es hörte sich an als würde sie scherzen, aber Alice zweifelte nicht daran, dass Margot ihre Drohung in die Tat umsetzen würde. Eine Frau, die aussah als wäre sie gerade der Titelseite eines Frauenmagazins entsprungen, kam auf sie zu und zwinkerte Margot zu. Die Galeristin nahm sich ein Glas vom Tablett eines vorbeigehenden Kellners und lächelte. „Die Pflicht ruft.“ Margot leckte sich die Lippen und drückte Alices Hand. „Du schaffst das schon. Heute ist dein großer Abend! Genieße ihn.“ Und weg war sie. Alice blinzelte, da war Margot schon auf der anderen Seite des Raumes, lächelte strahlend und unterhielt sich vertraulich mit dem Titelseitenmädchen. Alice blickte auf ihr Glas hinab. Noch ein paar Schlucke, dann könnte sie sich mit dem Glas in der Hand sicher und ohne Spritzer unter die Leute mischen. Kurz zog sie in Betracht, sich aus Trotz noch eine weitere Stunde hier in der Ecke zu verstecken, aber sie wusste, dass Margot Recht hatte. Diese Ausstellung war ihre große Chance, Verbindungen zu knüpfen und ihre Karriere als Fotografin zu fördern, damit sie endlich ihren langweiligen Job als Verwaltungsassistentin hinschmeißen konnte. Sie nahm einen großen Schluck Wein. Keine langweilige Büroarbeit mehr. Keine endlose Pendelei mehr. Nie wieder hektische Fototermine in der halbstündigen Mittagspause. Die Aussicht, ihren stinklangweiligen Bürojob loszuwerden, machte ihr die Entscheidung, sich mit fremden Leuten unterhalten zu müssen, etwas leichter. Fest umklammerte sie den Stiel ihres Weinglases. Ein gut angezogenes Pärchen, das Alice aus einer Reality-Fernsehsendung wiedererkannte, starrte sie an. Die Frau spielte mit dem Kragen ihrer Jacke mit Leopardenmuster und der Mann fummelte an seinem Handy herum. „Das ist alles so derivativ und prosaisch.“ Die Frau rümpfte die Nase. „Rhys wird sich über Margots Abkehr vom guten Geschmack totlachen. Was soll das...“ Die Frau zeigte auf eines von Alices Fotos, das in der Nähe hing, ein kontrastreiches Bild von den Bolzen an einer Abfalltonne in der Abenddämmerung. Alice kämpfte die Röte nieder, die ihr ins Gesicht stieg. Der Mann sah von seinem Handy auf. „Was hast du gesagt, Schätzchen?“ „Der Titel der Ausstellung, Wundersame Details. Was ist wundersam an einer blöden Abfalltonne?“ Der Mann zuckte die Achseln. „Irgendein Rockstar hat gerade das Foto mit der Haarbürste für eine fünfstellige Summe gekauft. Er sagte, es sei irgendwas Urbanes, oder so ähnlich.“ „Humanes, meinst du, oder? So ein Blödsinn.“ Sie rieb sich die Nase und brabbelte undeutlich, dass sie zur Toilette gehen wollte. Der Mann nickte und folgte ihr. Alice kämpfte gegen den Wunsch an, sich noch tiefer in ihrer Ecke zu verstecken. Blödsinn? Hatten die eine Ahnung, wie schwer es war für das perfekte Foto genau den richtigen Lichteinfall zu finden oder den genauen Moment abzupassen, wenn die Sonne auf-- Alice schüttelte den Kopf. Du schaffst das hier. Du brauchst nicht den Respekt oder das Verständnis solcher Leute. Jemand hat gerade eines meiner Fotos für einen fünfstelligen Betrag gekauft! Sie sind also nicht alle oberflächliche Idioten. Geh jetzt einfach da raus. Sie schaffte es, einen Fuß vor den anderen zu setzen und gelangte schließlich in die Mitte des Raumes. Schluss mit dem öden Bürojob. Schluss mit dem öden Bürojob. Sie sang die Worte im Kopf vor sich hin, während sie durch den Raum ging und den Leuten zunickte und lächelte. Die Gäste, die sie von ihrem Foto aus der kurzen Biografie im Programmheft erkannten, riefen ihr Gratulationen zu ihrer ersten großen Ausstellung zu. Das war alles sehr nett, aber nachdem Alice zum fünfzigsten Mal wiederholt hatte, dass es eine wirkliche Ehre war, hier zu sein, befürchtete sie, dass sich der Stress langsam auf ihrem Gesicht abzeichnete. Alice tupfte sich vorsichtig den Schweiß im Nacken ab und sah sich nach Margot um. Ob sie mir bei lebendigem Leib die Haut abzieht, wenn ich Kopfschmerzen vortäusche und nach Hause gehe?, fragte sie sich. „Ich hätte es nie zu träumen gewagt, dass die Künstlerin noch schöner ist als ihre Werke“, sagte eine angenehme Stimme hinter ihr. Alice fuhr herum. Das Glas in ihrer Hand neigte sich und der Wein ergoss sich, wie in Zeitlupe, in hohem Bogen über einen großen Mann mit kurz getrimmtem Bart, der nur einen Meter von ihr entfernt stand. Der rote Wein auf seinem Hemd wirkte wie Blut in einer Mordszene. Neeeein. Sie streckte die Hand aus, wie um die Flüssigkeit in der Luft aufzuhalten, aber es war zu spät. Der blutrote Fleck dehnte sich bereits auf seinem frischen, weißen Hemd aus, wie eine Landkarte von Asien. „Oh mein Gott! Das tut mir so leid!“, rief Alice und sprang vor, um den Fleck mit ihrem Schal abzutupfen. „Das ist doch nicht so schlimm.“ Die Stimme des Mannes war leise und melodisch und verursachte eine leichte Gänsehaut auf ihrem Rücken. „Das Hemd kann etwas Farbe gut gebrauchen.“ Alice sah ihn verstohlen an, und durch sein strahlendes Lächeln erhellte sich ihr Gesicht, als ob sie im Scheinwerferlicht stünde. Sofort hatte sie den Wunsch sein Gesicht aus jedem erdenklichen Winkel zu fotografieren. Der Goldene Schnitt seiner Gesichtszüge, die Barthaare an der Rundung des Kinns, die leichten Lachfalten um seinen Mund und die Sorgenfalten an seiner Stirn erforderten ein Zoom-Objektiv und das hellstmögliche Licht. Eigentlich waren Porträtfotos gar nicht ihr Ding, aber diesen Mann—dessen Lächeln immer breiter wurde, je länger sie ihn ansah—würde sie gern ganz genau unter die Linse nehmen. Vorzugsweise nackt. „Ehm, hallo. Ich bin Alice, und, ähm, ich bin Fotografin.“ Die Worte sprudelten kaum verständlich aus ihr heraus. Dann atmete sie tief ein und richtete sich gerade auf. Mit Mühe wandte sie den Blick von seinen Brustmuskeln ab, die sich unter dem feuchten Hemd deutlich abzeichneten. „Sonst kann ich mich besser ausdrücken, glauben Sie mir.“ Er lachte. „Das glaube ich Ihnen. Margot hat mir schon viel von Ihnen erzählt; sie ist eine alte Freundin von mir.“ Er streckte ihr die Hand hin. „Christopher Dal.“ „Christopher Dal?“ Alice schüttelte ihm die Hand und spürte Schwielen in seiner Handfläche, die sie bei einem Mann in einem solchen Anzug gar nicht erwartet hätte. „Margot und Sie haben den gleichen Nachnamen. Sind Sie verwandt?“ Eigentlich sahen sie sich gar nicht ähnlich, aber das kam in allen Familien vor. Er lächelte. „Keine Verwandtschaft, aber wir kennen uns schon so lange, dass sie sozusagen zur Familie gehört.“ Alice verspürte einen kurzen Moment der Traurigkeit. Sie hatte alle ihre guten Freunde zurückgelassen, als sie in die Stadt gezogen war, und mit den Jahren alle Kontakte verloren. Durch ihren Job und ihre Arbeit als Fotografin hatte sie kaum Zeit, um neue Freunde zu finden. Die Wärme und Vertrautheit in Christophers Stimme, als er Margots Namen sagte, machten ihr bewusst, dass sie sich einsam fühlte. Sie zwang sich zu einem Lächeln. Christopher zeigte auf das Bild hinter ihr. „Ihre Fotos sind wirklich bemerkenswert.“ „Danke.“ Sie strich eine verirrte Haarsträhne hinter ihr Ohr und verlagerte ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen. „Ich meine es wirklich ernst.“ Christopher trat etwas näher. „Ihre Werke sind außergewöhnlich. Wie Sie sich auf die kleinsten Details in alltäglichen Objekten konzentrieren und die versteckte Schönheit darin offenlegen ist erstaunlich. Sie haben einen wunderbaren Blick für Einzelheiten.“ Diesmal klang Alices „Danke“ viel überzeugter. Eine glückliche Wärme durchströmte sie und spiegelte sich in ihrem Gesicht wider. Endlich! „Von allen Menschen, mit denen ich mich heute Abend unterhalten haben, sind Sie der erste, der verstanden hat, was ich ausdrücken will“, sagte Alice. „Das freut mich wirklich sehr. Ich wollte, dass die Menschen, die diese Ausstellung sehen, eine neue Wertschätzung für die Kleinigkeiten, die uns im täglichen Leben umgeben, mitnehmen.“ Christopher lächelte. „Ist es nicht faszinierend, wie Kunst so etwas zustande bringt? Sie kann uns Dinge, die wir jeden Tag betrachten, in einem ganz anderen Licht und Kontext präsentieren.“ Alice hätte ihn am liebsten umarmt. „Genau das denke ich auch! Schönheit liegt nicht nur in einem Sonnenuntergang über den Bergen.“ Sie sprach schneller, als sie sich für ihr Thema erwärmte. „Die Kante eines Briefkastens kann schön sein, oder wie sie sich in das Gesamtbild mit dem Haus dahinter einfügt, oder der Aufbau eines Ameisenhügels.“ Christopher berührte leicht ihre Hand. Sie verspürte die angenehme Kühle seiner Haut wie Balsam entlang ihres ganzen Arms. „Sie sind eine großartige Künstlerin, Alice. Wissen Sie, wie wertvoll es ist, etwas zu sehen und es dann einzufangen, so dass andere es auch sehen können? Sie sollten das wirklich in Vollzeit machen.“ Alice errötete. „Sie sind sehr freundlich. Ich wünschte auch, dass ich mehr Zeit hätte, um meine Kunst auszuleben.“ Sie deutete auf einen roten Punkt an einem Foto von einem gespaltenen Baum „Ich hoffe, dass mir die Verkäufe von heute Abend dabei helfen können. Bei diesem Bild hatte ich das Glück, dass das Licht gerade in dem Moment perfekt war, als ich den Baum entdeckte, aber beinahe hätte ich den richtigen Augenblick verpasst, weil eine Besprechung bei der Arbeit länger gedauert hatte als geplant. Man hat leider nie genug Zeit, um jeden schönen Moment in unserer Umgebung wahrzunehmen, aber ich hätte gern die Möglichkeit, so viele wie möglich zu finden.“ Alice blickte etwas vorwurfsvoll auf ihr Weinglas; sie war überrascht darüber, wie viel sie diesem vollkommen fremden Menschen anvertraut hatte. Sein verständnisvoller Gesichtsausdruck und sein Nicken zeigten, dass er genau wusste, was sie meinte. „Die Welt ist so groß“, sagte sie. „Ich wünschte, ich hätte die Zeit alles einzufangen.“ Christophers Lächeln vertiefte sich. „Man kann nie wissen. Soweit ich es beurteilen kann, ist dieser Abend noch erfolgreicher als Margot erwartet hat.“ Er hielt ihr seinen Arm hin. „Ich habe Sie schon viel zu lang von Ihren Gästen ferngehalten. Sollen wir uns zusammen in die Menge wagen?“ Alice nickte. Sie hakte sich bei ihm ein und spürte seine harten Muskeln durch die Jacke hindurch. Vielleicht war es ja doch gar nicht so schlecht, sich mit Fremden zu unterhalten.
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