Kapitel 1

1448 Words
1 Vor der Küste von Yachats, Oregon: Heute Ross Galloway steuerte seinen Trawler aus dem Jachthafen und durch die enge Bucht. Sobald er die Schutzzone hinter sich gelassen hatte, drückte er den Gashebel nach vorne. Selbst bei voller Fahrt würde er eine Stunde oder länger brauchen, um zu einem Gebiet zu gelangen, in dem man gut fischen konnte. Als er zum Ufer blickte, bemerkte er eine Frau, die am Strand saß. Sie hob ihre Hand. Er wusste nicht, ob sie winkte oder nur ihre Augen vor der grellen Sonne abschirmte. Er erkannte, dass es Mike Hallbrooks Schwester Ruth war. Seit sechs Monaten pflasterte sie die Stadt mit Vermisstenanzeigen zu, um ihren Bruder zu finden. Fast hätte Mikes Verschwinden Ross’ Schicksal als mutmaßlicher Serienmörder besiegelt. Nur Mikes bizarres Wiederauftauchen, einige Fotos und seine Behauptung, Ross sei kein Mörder, hatten Ross vor der Todeszelle bewahrt. Nur weil er in der Vergangenheit mit den Behörden in Konflikt geraten war und die vermissten Personen gekannt hatte, hieß das nicht, dass er ein Axtmörder war. Doch wenn ein Gerücht erst einmal die Runde machte, war es schwer, etwas dagegen zu unternehmen. „Wahrscheinlich denkt sie, ich bin gerade unterwegs, um eine weitere Leiche entsorgen“, murmelte er, als er sich umdrehte und durch die salzverkrustete Windschutzscheibe auf das Meer hinausstarrte. Er brauchte Zeit zum Nachdenken. Ross gab es nur ungern zu, aber in letzter Zeit hatte er sich einfach verloren gefühlt. Und dieses Gefühl behagte ihm nicht, zumal er das Leben normalerweise nicht sonderlich ernst nahm. Er tastete in seiner Tasche nach Zigaretten, bevor er leise fluchte. Er hatte sich einen verdammt guten Zeitpunkt ausgesucht, um mit dem Rauchen aufzuhören. Wäre er nicht allein auf seinem alten Fischtrawler gewesen, hätte er sich vielleicht ein paar Flaschen Bier gegönnt, doch dieser Luxus würde warten müssen, bis er wieder an Land war. Und es würden wirklich nur ein paar Bier sein – er hatte zu viel Angst, wie sein alter Herr zu enden, um mehr als zwei zu trinken. Alkohol hatte einen seltsamen Einfluss auf manche Menschen. Einige konnten trinken, ohne etwas zu spüren und andere lagen nach einem Bier bereits unter dem Tisch. Und dann gab es noch diejenigen, die extrem anhänglich wurden, wenn sie betrunken waren. Mit solchen Leuten konnte Ross umgehen, aber wehe er würde noch einmal in seinem Leben an einen gemeinen Säufer wie seinen Vater geraten. Er schüttelte den Kopf und verdrängte den Gedanken an seinen alten Herrn aus seinem Kopf. Wenn es nach ihm ging, war der Mistkerl nicht früh genug gestorben. Sollte sich der Teufel doch mit ihm herumschlagen. Etwas über eine Stunde später machte er sich vorsichtig auf den Weg zum Heck seines Fischtrawlers. Auf der Steuerbordseite war der zerklüftete Umriss der felsigen Küste zu sehen, und auf der Backbordseite befand sich der wunderschöne Pazifik. Er machte sich nicht die Mühe, einen Anker auszuwerfen, da er vorhatte, mit dem Treibnetz zu fischen. Zunächst musste er jedoch die Netze überprüfen, um sicherzustellen, dass sie sich nicht verheddert hatten. Er warf einen Blick auf die Takelage und beschloss, dass es nicht schaden konnte, hinaufzuklettern, um auch die oberen Leinen zu überprüfen. Von unten hatte es ausgesehen, als wäre eine der Leinen verdreht. Er wollte auf keinen Fall riskieren, dass sich das Seil verhedderte, wenn er die Netze wieder einholte. Das könnte Probleme bedeuten, vor allem, wenn die See rau wurde, wie es meist in den unpassendsten Momenten der Fall war. Nachdem er eine halbe Stunde später endlich herausgefunden hatte, wo das Problem lag, reparierte er die Rolle und löste die Leine. Er hielt sich fest und blickte auf das glitzernde Wasser hinaus. Es würde nicht mehr lange so klar und sonnig bleiben. Am Nachmittag würde die kalte, feuchte Luft vom Meer auf die wärmere Landoberfläche treffen, und dichter Nebel würde aufziehen, sodass man kaum die Hand vor Augen sehen können würde. Er holte tief Luft und hielt sie einige Sekunden lang an, bevor er wieder ausatmete. Es war kein Wunder, dass er in Anbetracht der jüngsten Ereignisse nervös war. In den letzten Jahren waren mehrere Menschen verschwunden, und die meisten glaubten, dass er dafür verantwortlich war. Die Leute nahmen an, er sei wie sein alter Herr – oder sogar noch schlimmer. Ross hatte Mike Hallbrook gekannt. Der Detective aus Yachats war vor gut sechs Monaten verschwunden. Sie hatten ab und zu Billard gespielt und gelegentlich in der örtlichen Kneipe ein paar Bier getrunken. Außer Fischen und Wandern konnte man in dieser Gegend nicht viel tun. Verdammt, er hatte auch Carly Tate und Jenny Ackerly gekannt. Es war schwer, nicht jeden zu kennen, wenn man sein ganzes Leben in einer Kleinstadt wie Yachats verbrachte. Er war sogar ein paar Mal mit Carly ausgegangen. Das war ein Riesenfehler gewesen, dachte er kopfschüttelnd. Carly musste die wohl tollpatschigste Frau auf Erden sein. Sie hätte beinahe sein Boot abgefackelt und ihn entmannt – alles am selben Tag. Jeder Mann, der sich mit ihr einließ, tat ihm leid. Sie war nett – und hübsch –, aber sie könnte eine Versicherung gegen Tod und Verstümmelung brauchen. Ross schnaubte. Komisch, dass der Vorwurf, drei Menschen ermordet zu haben, im Vergleich zu allem anderen, was so los war, beinahe unterging. Seine Mutter war vor einem Monat gestorben. Nach ihrem Tod hatte er sich gefühlt, als würde er sich in einem Vakuum befinden, während er versucht hatte, seine Trauer, den ganzen Papierkram und die Details, die mit ihrem Nachlass verbunden waren, zu bewältigen. Die Begleichung sämtlicher Rechnungen, die Termine beim Anwalt und die Vorbereitungen für ihre Beisetzung hatten ihm nur wenig Zeit für andere Dinge gelassen, selbst das Fischen war zu kurz gekommen. Und wenn der Tod seiner letzten lebenden Verwandten nicht gereicht hätte, um ihn an seinem Leben zweifeln zu lassen, dann definitiv die Begegnung mit einer echten Meerjungfrau. Für einen Moment ließ er seine Gedanken zu jenem seltsamen Tag vor ein paar Monaten schweifen und schmunzelte angesichts der Ironie des Ganzen. Als Kind hatte er nie an Märchen geglaubt, und jetzt mit dreißig Jahren, war er einem Fabelwesen aus einer anderen Welt begegnet. Verdammt, es war wie in einer alten Folge von Twilight-Zone gewesen, nur dass sie nicht wie ein halber Fisch aussah. Magna die Meerjungfrau war eine exotische Frau – mit Kiemen. Kopfschüttelnd griff er aus Gewohnheit in seine Tasche und suchte nach einem Bonbon, um sein Verlangen nach einer Zigarette zu zügeln. Er runzelte die Stirn, als er neben dem Kleingeld noch etwas anderes in seiner Tasche fühlte. Er umfasste den Gegenstand, zog ihn heraus und betrachtete ihn. Er schmunzelte. Obwohl Ross bezweifelte, dass die Meerjungfrau ihn besonders mochte, hatte sie ihm neulich im Restaurant diese Muschel geschenkt. Sie hatte sie auf dem Tisch gefunden, aber der Ausdruck in ihrem Gesicht, als sie sie ihm überreicht hatte … „Viel Glück auf deiner Reise“, hatte sie gesagt. Ihre Stimme hatte gequält geklungen, so als hätte sie den Schmerz, die Prüfungen und das Leid von hundert Leben hinter sich. Ja, es war nur eine dumme Muschel, aber sie hatte sie ihm gegeben, und sie erinnerte ihn an sie und an die Geheimnisse, die sie umgaben. Er fragte sich, wie ihre Welt wohl aussah. Kaum hatte sich der Gedanke in seinem Kopf geformt, veränderte sich plötzlich die Welt um ihn herum. Ross schüttelte den Kopf, um das Klingeln in seinen Ohren zu vertreiben. Das Seil, das er eben noch in der Hand gehalten hatte, war plötzlich verschwunden. Dann begann der Trawler heftig zu schwanken, als wäre er von einer starken Welle erfasst worden. Die Augen weit aufgerissenen, geriet Ross ins Taumeln und suchte verzweifelt nach etwas, an dem er sich festhalten konnte. Für einen kurzen Moment war sein Körper schwerelos, als er durch die Luft und über die Reling geschleudert wurde. Sein lauter Fluch verstummte, als er in das eiskalte Wasser eintauchte und in die Tiefe sank, als würde er seinen beschwerten Tauchgürtel tragen. Das Gewicht seiner durchnässten Kleidung zog ihn noch weiter in die Tiefe. Er strampelte mit den Füßen, doch so sehr er sich auch anstrengte, es fühlte sich an, als wären sie einbetoniert. Über sich konnte er den Rumpf seines Bootes sehen. Er streckte den Arm aus und spreizte die Finger, in der Hoffnung, dass durch einen Zufall ein Tau über Bord gefallen war. Während er den Rumpf seines Bootes betrachtete, schoss ihm kurz der Gedanke durch den Kopf, dass es sauber gemacht und gestrichen werden musste. Dann wurde der unsinnige Gedanke von einer ernüchternden Erkenntnis abgelöst – er stand kurz davor, ebenfalls auf der Liste der vermissten Personen zu landen. Nur, dass es niemanden interessieren wird, wenn ich nicht zurückkomme. Ach, verdammt, ich will nicht so sterben, dachte Ross, während er strampelnd in die schwarzen Tiefen sank.
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