Kapitel Vier

1489 Words
Kapitel Vier Der Lärm von Schüssen hallte um Riley herum. Zu ihrer Linken hörte sie das laute Krachen einer Pistole. Zu ihrer Rechten war schwerere Artillerie zu hören - Schüsse von Sturmgewehren und das Stakkato von Maschinenpistolen. Mitten in dem Toben zog sie die Glock aus ihrem Hüftholster, nahm eine Bauchlage ein und feuerte sechs Kugeln. Dann richtete sie sich in eine kniende Position auf und feuerte dreimal. Sie lud schnell und geschickt nach, stand dann auf und feuerte sechs Kugeln, wonach sie zurück auf ein Knie fiel und drei weitere Kugeln mit der linken Hand feuerte. Sie stand auf, holsterte ihre Waffe, trat dann von der Feuerlinie zurück und zog ihre Ohrschützer und die Schutzbrille ab. Das Ziel war etwa 23 Meter entfernt. Auch aus der Distanz konnte sie sehen, dass all ihre Schüsse gut zentriert waren. Auf benachbarten Linien übten FBI Akademie Studenten unter der Aufsicht ihrer Ausbilder. Es war eine Weile her, das Riley ihre Waffe abgefeuert hatte, auch wenn sie in ihrem Job immer bewaffnet war. Sie hatte einen Platz auf dem Schießübungsplatz der FBI Akademie für Zielübungen reserviert und wie immer war da etwas seltsam Befriedigendes an dem machtvollen Rückstoß der Waffe, ihrer rohen Gewalt. Sie hörte eine Stimme hinter sich. “Die alte Schule, was?” Sie sah sich um und entdeckte Spezialagent Bill Jeffreys nicht weit von sich mit einem breiten Grinsen. Sie lächelte zurück. Riley wusste genau, was er mit “alter Schule” meinte. Vor einigen Jahren hatte das FBI die Regeln der Schusswaffenqualifikation für Handwaffen geändert. Aus der Bauchlage heraus zu feuern war nun nicht mehr verlangt. Der Schwerpunkt lag mittlerweile darauf Ziele auf kurze Distanz, zwischen zweieinhalb und sechseinhalb Metern, zu treffen. Unterstützt wurde das durch die Virtuelle-Realität-Installation, in der Agenten Szenarios üben konnten, die bewaffnete Konfrontationen in engen Räumen simulierten. Und die Anwärter wurden alle durch die notorische Hogan's Alley geschickt, eine vier Hektar große, künstliche Stadt, in der sie Terroristen mit Paintball-Waffen bekämpften. “Manchmal mag ich die alte Schule”, sagte sie. “Es ist doch gut möglich, dass ich auch auf Distanz tödliche Gewalt anwenden muss.” Aus eigener Erfahrung wusste Riley, dass die Realität oft persönlich, sehr nah und häufig unerwartet war. Tatsächlich hatte sie in den letzten beiden Fällen mit den Händen kämpfen müssen. Sie hatte einen Angreifer mit seinem eigenen Messer und den anderen mit einem Stein getötet. “Denkst du irgendetwas kann diese Kinder für das wahre Leben vorbereiten?” fragte Bill, der in Richtung der Studenten nickte, die gerade den Übungsplatz verließen. “Nicht wirklich”, sagte Riley. “In der virtuellen Realität akzeptiert dein Gehirn das Szenario als Realität, aber es gibt keine unmittelbar bevorstehende Gefahr, keinen Schmerz, keine Wut zu kontrollieren. Etwas in einem weiß immer, dass nicht die Gefahr besteht getötet zu werden.” “Richtig”, sagte Bill. “Das werden sie auf die gleiche Weise herausfinden müssen wie wir vor Jahren.” Riley warf ihm einen Seitenblick zu, als sie sich weiter zum Schießstand wegbewegten. Wie sie, war auch er vierzig Jahre alt und sein Haar mit Grau durchzogen. Sie fragte sich, was es zu bedeuten hatte, dass sie ihn insgeheim mit ihrem schlankeren, schmächtigeren Nachbarn verglich. Wie hieß er noch? Oh, ja - Blaine. Blaine war gutaussehend, aber sie war sich nicht sicher, ob er Bill das Wasser reichen konnte. Bill war groß, solide, und äußerst attraktiv. “Was bringt dich her?” fragte sie. “Ich habe gehört, dass du hier bist”, erwiderte er. Riley sah ihn unbehaglich an. Das war wahrscheinlich nicht nur ein freundschaftlicher Besuch. Sein Gesichtsausdruck sagte ihr, dass er noch nicht bereit war, ihr zu sagen, weshalb er wirklich gekommen war. Bill sagte, “Wenn du den ganzen Drill machen willst, dann nehme ich für dich die Zeit.” “Das wäre lieb”, lächelte Riley. Sie gingen zu einem abgetrennten Bereich des Übungsplatzes, wo sie nicht Gefahr lief von Irrläufern der Studenten getroffen zu werden. Während Bill die Stoppuhr bediente, durchlief Riley alle Stufen der FBI Schusswaffenqualifikation: Feuern auf ein Ziel von zweieinhalb, dann viereinhalb, dann siebeneinhalb, dann dreizehneinhalb Metern. Die fünfte und letzte Position war die einzige die ihr keinerlei Probleme bereitete - aus ca. 23 Metern, hinter einer Barrikade hervor, auf ein Ziel feuern. Nachdem sie alle Stufen durchlaufen hatte, nahm Riley ihre Schutzausrüstung ab. Sie und Bill gingen zum Ziel und überprüften die Arbeit. Alle Einschläge waren eng beieinander. “Hundert Prozent - Perfektes Ergebnis”, sagte Bill. “Das sollte es auch sein”, sagte Riley. Sie hasste es, wenn sie einrostete. Bill zeigte in Richtung des erdigen Kugelfangs hinter dem Ziel. “Irgendwie surreal, was?” meinte er nachdenklich. Hinter dem Übungsplatz grasten einige Rehe friedlich auf dem Hügel. Sie hatten sich dort eingefunden, während sie auf die Zielscheibe schoss. Selbst mit ihrer Pistole waren sie in einfacher Schussweite. Aber sie schienen nicht im Mindesten von den Tausenden Kugeln gestört zu sein, die in die Ziele unter dem Ausläufer einschlugen, auf dem sie grasten. “Ja”, sagte sie, “und schön.” Zu dieser Jahreszeit konnte man die Rehe auf dem Übungsplatz häufig sehen. Es war Jagdsaison und aus irgendeinem Grund schienen sie zu wissen, dass sie hier sicher waren. Tatsächlich war das Gelände der FBI Akademie eine Art Zufluchtsort für verschiedene Tiere geworden, wie Füchse, wilde Truthähne und Murmeltiere. “Vor ein paar Tagen hat einer meiner Studenten einen Bären auf dem Parkplatz gesehen”, sagte Riley. Sie machte drei Schritte in Richtung des Hügels. Die Rehe hoben ihre Köpfe, starrten sie an und trotteten davon. Sie hatten keine Angst vor Schüssen, aber sie wollten Menschen nicht zu nah in ihre Nähe lassen. “Was glaubst du, woher sie das wissen?” fragte Bill. “Dass sie hier sicher sind, meine ich. Klingen nicht alle Waffen gleich?” Riley schüttelte einfach den Kopf. Es war ihr ein Rätsel. Ihr Vater hatte sie mit auf die Jagd genommen, als sie noch klein war. Für ihn waren Rehe nur eine Ressource für Essen und Fell. Damals hatte es ihr nichts ausgemacht sie zu töten. Aber das hatte sich geändert. Es schien ihr seltsam, jetzt, wo sie darüber nachdachte. Sie hatte kein Problem damit, tödliche Gewalt gegen einen Menschen einzusetzen, wenn es notwendig war. Sie konnte einen Mann ohne mit der Wimper zu zucken töten. Aber eine dieser vertrauensvollen Kreaturen zu töten schien ihr jetzt undenkbar. Riley und Bill gingen zum nächstgelegenen Pausenbereich und setzten sich zusammen auf eine Bank. Bill schien immer noch zu zögern mit der Sprache herauszurücken. “Wie geht es dir?” fragte sie mit sanfter Stimme. Sie wusste, dass es ein schwieriges Thema war und sie sah ihn zusammenzucken. Seine Frau hatte ihn vor kurzem verlassen, nach Jahren der Spannung zwischen seiner Arbeit und seinem Familienleben. Bill hatte sich Sorgen gemacht, dass er den Kontakt mit seinen jungen Söhnen verlieren würde. Jetzt lebte er in einem Apartment in der Stadt Quantico und verbrachte Zeit mit seinen Jungs am Wochenende. “Ich weiß nicht, Riley”, sagte er. “Ich weiß nicht, ob ich mich jemals daran gewöhnen werde.” Es war offensichtlich, dass er einsam und deprimiert war. Sie hatte das gleiche durchgemacht, während ihrer Trennung und Scheidung. Sie wusste auch, dass die Zeit nach einer Trennung besonders schmerzhaft war. Selbst wenn die Beziehung nicht besonders gut gewesen war, fand man sich plötzlich in einer Welt von Fremden, vermisste Jahre der Vertrautheit und wusste nicht richtig, was man mit sich selber anfangen sollte. Bill berührte ihren Arm. Seine Stimme war voller Emotionen, als er sagte, “Manchmal denke ich, dass alles, was ich noch in meinem Leben habe … du bist.” Riley war versucht ihn in den Arm zu nehmen. In ihren Jahren der Partnerschaft, hatte Bill sie mehr als einmal gerettet, sowohl physisch als auch emotional. Aber sie wusste, dass sie vorsichtig sein musste. Und sie wusste, dass Menschen in einer solchen Zeit recht verrückte Dinge taten. Sie war diejenige gewesen, die Bill eines Nachts betrunken angerufen und ihm eine Affäre vorgeschlagen hatte. Jetzt war die Situation umgekehrt. Sie konnte sein Gefühl der Abhängigkeit von ihr spüren, gerade jetzt, wo sie anfing sich frei und stark genug zu fühlen alleine zurechtzukommen. “Wir waren gute Partner”, sagte sie. Es war lahm, aber ihr fiel nichts anderes ein. Bill atmete tief durch. “Deshalb wollte ich mir dir reden”, sagte er. “Meredith hat mir gesagt, dass er mit dir über den Phoenix Fall gesprochen hat. Ich arbeite daran. Ich brauche einen Partner.” Riley fing an leicht gereizt zu sein. Bills Besuch erschien ihr immer mehr wie eine Art Überfall. “Ich habe Meredith gesagt, dass ich darüber nachdenke”, sagte sie. “Und jetzt frage ich dich”, sagte Bill. Sie wusste nicht, was sie antworten sollte. “Was ist mit Lucy Vargas?” fragte Riley. Agentin Vargas war eine Anfängerin, die im letzten Fall eng mit Bill und Riley zusammengearbeitet hatte. Sie waren beide von ihrer Arbeit beeindruckt gewesen. “Ihr Knöchel ist noch nicht verheilt”, sagte Bill. “Sie braucht noch mindestens einen Monat, bis sie wieder im Außendienst ist.” Riley bereute gefragt zu haben. Als sie, Bill, und Lucy Eugene Fisk, den sogenannten “Ketten-Mörder”, in die Ecke gedrängt hatten, war Lucy in seine Fänge geraten und fast gestorben, nachdem sie gefallen war und sich den Knöchel gebrochen hatte. Natürlich war sie noch nicht wieder einsatzfähig. “Ich weiß nicht, Bill”, sagte Riley. “Diese Pause vom Außendienst ist wirklich gut für mich. Ich habe darüber nachgedacht ab jetzt einfach nur zu unterrichten. Alles, was ich dir sagen kann, ist das gleiche, was ich Meredith gesagt habe.” “Dass du darüber nachdenkst.” “Richtig.” Bill grunzte unzufrieden. “Können wir uns wenigstens zusammensetzen und darüber reden?” fragte er. “Vielleicht Morgen?” Riley schwieg für einen Moment. “Nicht morgen”, sagte sie dann. “Morgen muss ich einen Mann sterben sehen.”
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