II. Hin und Her

2004 Words
Als die Wohnungstür hinter mir ins Schloss fiel, wurde ich aus meiner Trance gerissen. Meine Gedanken waren die ganze Zeit um Doktor Fink gekreist, sodass ich absolut keine Erinnerung hatte, wie ich eigentlich nach Hause gekommen war. Ich musste das Rad genommen haben, ich denke mich zu erinnern, dass ich es vor dem Haus abgesperrt hatte. Himmel, ich hätte niemals in diesem Zustand fahren dürfen! Noch bevor ich richtig ankommen konnte, streckte meine beste Freundin schon den Kopf um die Ecke, dabei fiel ihr blondes Haar kaskadenartig nach vor. „Na? Wie war es?“ Ich zuckte zusammen, bis ich mich daran erinnerte, dass sie meine Prüfung meinte und nicht das darauffolgende Gespräch. Wiederum konnte ich nur nicken und stellte meine Tasche auf die Kommode. „Sag‘ schon! Du hast es gepackt, nicht wahr?“ „Jap. Eine Eins.“ Ich schenkte ihr ein Lächeln und Iris erwiderte es breit. Sie hielt eine Flasche Wein hoch, die sie hinter ihrem Rücken versteckt hatte. „Du spinnst wohl!“ Ich tippte mir an die Stirn und atmete das erste Mal seit einer langen Zeit tief durch. Iris lachte auf und griff nach meiner Hand. Sie zog mich in die Küche und öffnete die Flasche. „Iris, wir können nicht um – zehn Uhr vormittags zu trinken beginnen! Das macht uns zu Alkoholikerinnen.“ „Ach Quatsch, das macht uns zu Piratinnen! Außerdem müssen wir den Sieg über die Monsterprüfung feiern!“ Sie nahm einen Schluck direkt aus der Flasche und reichte sie mir. Missmutig nahm ich sie entgegen. Vielleicht war das gar keine so schlechte Idee. Ich brauchte ein wenig Ablenkung. Irgendetwas um den Knoten in meinem Gehirn zu lösen. Iris hüpfte auf die Arbeitsfläche, dabei glitt ihr Bademantel auseinander. Sie fühlte sich definitiv wohl in ihrem Körper, so wie sie mit schwingenden Beinen und barbusig vor mir saß. „Erzähl schon, Häschen!“, forderte sie mich auf. Ich nahm einen weiteren Schluck aus der Flasche und erzählte ihr von der Prüfung und was davor geschah. Dabei spielte ich ein wenig an meinem Pflaster herum. Zum Glück war der Schnitt, den der Ring hinterlassen hatte, nicht tief. Das Angebot von Doktor Fink sprach ich nicht an. Warum genau, wusste ich auch nicht. Wir erzählten uns immer alles, jedes noch so kleine peinliche Geheimnis. Jeder gelbe Pickel wurde diskutiert, egal ob auf der Nase oder auf dem Po. Aber dieses Detail wollte ich für mich behalten, es fühlte sich falsch an, mit ihr darüber zu sprechen. Vielleicht weil ich genau wusste, dass sie mir raten würde, das Angebot anzunehmen. Vielleicht, weil ihr letzter Rat in Sachen Männer sich als ziemlicher Mist herausgestellt hatte. Nahm ich es ihr etwa insgeheim noch immer übel? Ach, das war eine Baustelle für einen anderen Tag. Noch bevor ich doch einknicken konnte, klingelte ihr Arbeitshandy. „Die armen verzweifelten Würstchen“, seufzte sie entschuldigend, verdrehte die Augen und hüpfte von der Arbeitsfläche. Bevor sie abhob, zog sie mir die Flasche aus der Hand und verschwand in ihrem Zimmer. Seufzend zog ich mich ebenfalls zurück. Eines der schönsten Gefühle war für mich, nach einer Prüfung alle Unterlagen noch einmal zu ordnen und dann fein säuberlich abzulegen. Es war beruhigend, beinahe meditativ; ich konnte mental mit dem Prüfungsstress abschließen und hatte den Kopf und Schreibtisch frei für Neues. Aber heute wollte sich das Gefühl der tiefen Zufriedenheit irgendwie nicht so recht einstellen. Ständig lag der Geruch von Bergamotte und Sandelholz in meiner Nase, das dumpfe Lachen und die kühle Stimme von Doktor Fink lungerten irgendwo in meiner Erinnerung und tauchte immer wieder ungebeten auf. „Wenn das so ist, melde ich mich tatsächlich freiwillig“ Ein Teil von mir war immer noch der festen Überzeugung, dass ich mir das alles nur eingebildet hatte. Ich ließ mich auf mein Bett plumpsen, während Iris im angrenzenden Zimmer ihr bestes Showstöhnen ausgepackt hatte. Ohne ihren Job als Telefondomina könnte sie sich die Wohnung mit mir nicht leisten, daher war ich einerseits froh, dass sie es machte, andererseits war es auch manchmal ziemlich nervig. Vor allem wenn man selbst chronisch untervögelt war. „Ach.“ Ich zog mir ein Kissen über das Gesicht und versuchte meine Gedanken zu ersticken. Die Frage war, ob ich mich auch selbst glücklich machte. Iris stöhnte weiter, vermutlich lackierte sie gerade ihre Nägel dabei oder räumte die Unordnung unter ihrem Bett auf. Ich musste zugeben, ich war verletzt, als er das gesagt hatte. Fühlte mich regelrecht bloßgestellt. Du musst zuerst dich selbst glücklich machen, dann kannst du andere glücklich machen. Danke, Mama. Nur wann weiß man, ob man glücklich ist? Ich war nicht unglücklich, soviel stand fest. Aber so richtig freudentaumelnd, im-Zimmer-herumtanzen-glücklich war ich auch nicht. Ich schüttelte den Kopf über diesen Gedanken. Das war nur ein medial verkitschte Inszenierung, nichts weiter. Wer war schon so glücklich, dass man im Zimmer rumwirbelte wie eine Prinzessin in einem Disneyfilm? Andererseits tat ich immer das Gleiche. Lernen, Arbeiten schreiben, ab und an ausgehen und wieder von vorne anfangen. Festgefahren. Ja, ich war festgefahren. Seit vierundzwanzig Jahren. Immer das brave Mädchen, immer da, um es anderen recht zu machen. „Scheiße!“ Ich richtete mich auf. Er war in meinem Kopf. Bis gestern hatte ich doch kein Problem damit, wie ich war! Ich war eben verdammt noch mal friedliebend, na und?! Mit einem missmutigen Grunzen ließ ich mich zurück in die Kissen fallen. Nein, ich war nicht bis heute Morgen glücklich damit, wie ich war. Eigentlich beschäftigte ich mich mit mir selbst schon seit einer ganzen Weile. Seit meiner Trennung von Tobi. Es war seltsam. Ich hatte mich von ihm getrennt und dennoch tat ich allen leid. Nur weil der Kerl ihn nicht in der Hose behalten konnte. Wir waren ja auch nicht mal verliebt. Also ich zumindest nicht. Nicht so, wie es sein sollte. So, wie ich es mir vorstellte. Ich mochte Tobi und er war auch attraktiv. Aber ich bekam keine Schmetterlinge im Bauch, wenn ich ihn sah. Wir fanden uns gut und ich schlief mit ihm. Wir besprachen das Übliche, waren wir exklusiv, wie verhüteten wir und so weiter. Aber irgendwie hatte Tobi das mit dem Exklusiv-Sein anders verstanden als ich. Und fing sich dabei eine Geschlechtskrankheit ein. Nichts Schlimmes, aber dennoch. Das war glücklicherweise schon zu einer Zeit, an der ich kein Interesse mehr hatte, mit ihm zu schlafen. Einen Arztbesuch, bei dem ich ohne Iris wahrscheinlich vor Scham gestorben wäre, und einem Schlussmachgespräch später, hatte ich meinen kleinen Beziehungsversuch auch schon wieder beendet. Es klopfte an meiner Tür und meine beste Freundin streckte sofort den Kopf herein ohne auf eine Antwort zu warten. Sie kannte einfach keine Regeln. „Was los?“ Ohne weiter auf mich oder etwaige Proteste zu achten, hopste sie zu mir ins Zimmer. „Verben anscheinend nicht.“ Grinsend warf sie sich zu mir aufs Bett. Obwohl ich mich von ihr abwandte, konnte ich ihren fragenden Blick spüren. Ich dachte eine Weile nach, bis ich sie zaghaft fragte: „Bin ich eine Rechtmacherin?“ „Was?“ Sie wusste genau, was ich meinte. „Denkst du, dass ich es anderen immer nur recht machen will?“ „Hör mal Häschen“, sie strich mir die Haare aus dem Gesicht und ihr mitleidiger Blick ließ meinen Magen verkrampfen, „der Kerl war einfach der totale Arsch, okay? Und, ja, ich hatte auch meinen Anteil daran, dass das Ganze so katastrophal endete – tut mir leid, übrigens – aber lass dir von dem doch nicht deine besten Jahre vermiesen!“ Ich seufzte. Es ging schon lange nicht mehr um Tobi. Es ging hier um mich. Warum schien das keiner zu verstehen? „Das meine ich nicht.“ „Was dann?“ „Ich…ach… Denkst du, dass manche Menschen einfach jemand anderen brauchen, der sie glücklich macht?“ Iris sah mich eine Weile an und kaute an ihrer Unterlippe, bevor sie schließlich antwortete: „Ich denke nicht, dass wir unser Glück vollkommen von jemand anderem abhängig machen sollten. Aber dann denke ich wiederum, dass wir soziale Wesen sind und wir auch den Umgang mit anderen brauchen, um glücklich zu sein. Wenn es nicht gerade irgendwelche Vollidioten sind. Aber – und ich glaube, darauf spielst du an – ich denke nicht, dass wir zwingend einen Mann oder eine Frau brauchen, um ein erfülltes Leben zu haben. Das klappt auch mit einer besten Freundin, einem guten Vibrator und einem kuscheligen Teddy.“ Sie stieß mich in die Seite und ich musste grinsend den Kopf schütteln. „Warte, das ist es! Vibrierende Teddys!“ Iris sprang auf und zog mich auf die Beine. Sie suchte immer nach einer Idee, die uns reich machen würde. Egal wie abgedreht. Egal wie unmöglich. Hauptsache eine gute Idee. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass daran schon jemand gedacht hat.“ Sie winkte ab und wir gingen schließlich kochen, während sie noch ein paar Mal von den vibrierenden Teddys anfing. Mein Einwand, dass eine vibrierende beste Freundin auch eine Idee sein könnte, tat sie mit einer Handbewegung ab.   Am Nachmittag widmete ich mich meiner noch ausstehenden Seminararbeit, obwohl ich mich einfach nicht konzentrieren konnte. Meine Gedanken schweiften immer wieder zu Doktor Fink. Das Pflaster mit dem Kaffeefleck um meinen Finger hatte sich zwar schon gelöst, aber ich wollte es nicht abziehen. Es war der einzige physische Beweis, dass tatsächlich etwas vorgefallen war und ich mir die Unterhaltung nicht einfach nur ausgemalt hatte. Ich seufzte. s*x mit Doktor Fink. Der Gedanke war verboten und, zugegeben, verboten heiß. Ich tippte eher alibimäßig ein paar Sätze, als ich eine Mail bekam, deren Absender mein Herz gegen meine Brust hämmern ließ. Als hätte er gewusst, dass ich an ihn denke. Hatte er vielleicht Schluckauf? Schrieb er mir, dass ich aufhören soll, an ihn zu denken, weil er seine Arbeit durch den vielen Schluckauf nicht machen konnte? War ich etwa bescheuert?! Wenigstens konnte ich mir auf eine der Fragen eine eindeutige Antwort geben. Ja. Ja, ich war bescheuert. Vielleicht war ich auf dem Heimweg gegen einen Laternenmast geknallt. Das würde eine plausible Erklärung abgegeben. Ich wandte mich wieder meinem Handy und der E-Mail zu. Betreff war nur etwas von wegen heutiger Prüfung. Diese blöde App ließ mich nicht weiterlesen! Ein paar nervenaufreibende Augenblicke später, hatte ich mich bei meinem Uni-Account eingeloggt und las die Nachricht:   Geehrte Kollegin, Sie haben bei Ihrer Prüfung heute Vormittag Ihre Federmappe in meinem Büro liegen gelassen. Sie können noch bis 18.00 Uhr vorbeikommen und sie abholen oder nächste Woche zu den Öffnungszeiten des Instituts. Beste Grüße J. Fink   Ich ließ die Schultern hängen und mein Blick huschte zu meiner Pro-und-Contra-Liste hinüber. Ich hatte eine Liste angelegt, um mir die Entscheidung zu erleichtern. Die Entscheidung darüber, ob ich mit meinem Dozenten schlafen würde. Ich verbarg das Gesicht in den Händen, bei dem Gedanken. War ich wirklich soweit gesunken? Andererseits wirkte es so verlockend. Und warum auch nicht? Ich war jung, ich war frei. Ich konnte schlafen mit wem ich wollte. Und ich wollte s*x. Ich wollte das Zehenkräuseln und Augenverdrehen. Ich wollte einen pochenden Unterleib und einen verschwitzen Körper. Verdammt, ich wollte einen Orgasmus. Leider war ungefähr Punktegleichstand. Irgendwie hatte ich mir erhofft, dass etwas Spannenderes in der Mail stand. Oder vielleicht auch, dass er das Angebot zurückzog. Irgendetwas, das mir bei meiner Entscheidung helfen konnte. Wie ich überhaupt dazu kam, tatsächlich ernsthaft über das Angebot nachzudenken, war mir ein Rätsel. Ach Quatsch, von wegen ernsthaft. Es war eher so ein Gedankenexperiment. Eine unschuldige Fantasie. Seine kühle dunkle Stimme an meinem Ohr, die warmen Fingerspitzen auf meiner Haut… Ich seufzte und sah auf die Uhr. Rasch packte ich meine Sachen und warf noch einen Blick in den Spiegel. Es war beinahe fünf Uhr und ich wollte nicht bis nächste Woche warten. Ich hatte noch immer den peinlichen „Badass b***h“-Sticker auf meinem Lieblingskuli in diesem Federpennal und ich wollte nicht, dass Doktor Fink das sah. Damals, mit fünfzehn, fand ich das noch richtig cool. Was soll ich sagen, man wird erwachsen, aber der Lieblingskuli schreibt immer noch. Coolness vergeht, Tinte besteht.
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