KAPITEL ZWEI

1594 Words
KAPITEL ZWEI Avery erreichte den Boston Harbor & Shipyard durch den Callahan Tunnel, der den Norden Bostons mit dem Osten der Stadt verbindet. Zum Yachthafen kam man von der Marginal Street aus, direkt am Wasser. Am Totort wimmelte es nur von Polizisten. „Heilige Scheiße“, sagte Ramirez. „Was zum Teufel ist hier passiert?“ Avery fuhr langsam zum Yachthafen. Polizeiautos parkten wie zufällig überall herum, ein Krankenwagen war auch vor Ort. Eine Menge Menschen, die ihre Boote an diesem klaren Morgen benutzen wollten, fragten sich, was sie tun sollten. Sie parkten, stiegen aus und zeigten ihre Abzeichen. Hinter dem Haupttor und Hauptgebäude lag ein riesiges Dock. Zwei Pfeiler ragen v-förmig aus dem Dock. Die meisten Polizisten standen am kurzen Ende eines Docks. In der Ferne stand Polizeihauptmann O'Malley, in dunklem Anzug und Krawatte. Er war in eine Besprechung mit einem anderen Mann in voller Polizeiuniform vertieft. Wegen der doppelten Streifen auf seiner Brust, vermutet Avery, der andere Mann war der Hauptkommissar der A7, die für den Osten Bostons zuständig war. „Sieh dir diesen Typen an.“ Ramirez deutete auf den Mann in Uniform. „Kommt er gerade aus einer Zeremonie oder so?“ Die Polizisten der A7 blickten ihnen feindselig entgegen. „Was macht die A1 hier?“ „Geht zurück ins Nordende“, rief ein anderer. Der Wind fegte über Averys Gesicht, als sie den Pier hinunterging. Die Luft war salzig und milde. Sie zog die Jacke fest um ihre Taille, damit sie nicht wegfliegen würde. Ramirez hatte mit den heftigen Böen viel zu tun, denn sie brachten sein perfekt gekämmtes Haar durcheinander. Docks ragten in senkrechten Winkeln auf einer Seite des Piers aus dem Wasser und um jedes Dock standen Boote. Boote waren auch auf der anderen Seite des Piers: Motorboote, teure Segelschiffe und große Yachten. Ein eigenständiges Dock bildete mit dem Ende des Stegs eine T-Form. Eine einzelne, mittelgroße weiße Yacht war dort mittig verankert. O'Malley, der andere Hauptmann und zwei Polizisten sprachen miteinander, während ein Team der Spurensicherung das Boot durchsuchte und fotografierte. O'Malley sah aus wie immer: schwarz gefärbte, kurze Haare und ein Gesicht, das aussah, als wäre er in seinem früheren Leben ein Boxer gewesen, zerkratzt und faltig. Die Augen waren wegen dem Wind zugekniffen und er schien verärgert. „Sie ist jetzt hier“, sagte er. „Geben Sie ihr eine Chance.“ Der andere Polizeihauptmann hatte im Gegensatz zu ihm eine königliche, stattliche Ausstrahlung: graues Haar, schlankes Gesicht und einen herrischen Blick unter einer runzelnden Stirn. Er war größer als O'Malley und schien etwas verwirrt, weil O'Malley, oder jemand außerhalb seines Teams, in sein Territorium eingreifen würde. Avery nickte jedem zu. „Was ist los, Hauptmann?“ „Ist das eine Party oder was?“ Ramirez lächelte. „Wischen Sie sich das Lächeln aus dem Gesicht“, spuckte der stattliche Hauptmann. „Das ist ein Tatort, junger Mann und ich erwarte, dass Sie ihn dementsprechend behandeln werden.“ „Avery, Ramirez, das ist Polizeihauptmann Holt von der A7. Er war freundlich genug, „Freundlich, meine Fresse!“, schnappte er. „Ich weiß nicht, welche Show der Bürgermeister abzieht, aber wenn er glaubt, er kann einfach meine Abteilung übergehen, sollte er sich das gut überlegen. Ich respektiere dich, O'Malley. Wir kennen uns schon lange, aber das ist beispiellos und du weißt es auch. Wie würdest du dich fühlen, wenn ich zur A1 gekommen wäre und anfing, Befehle durch die Gegend zu bellen?“ „Niemand übernimmt irgendetwas“, sagte O'Malley. „Denkst du, dass mir das angenehm ist? Wir haben bei uns genug zu tun. Der Bürgermeister rief uns beide an, oder nicht? Ich hatte einen ganz anderen Tagesablauf geplant, Will, also, tu bitte nicht so, dass ich versuchen würde, hier ein Machtspielchen zu spielen.“ Avery und Ramirez schauten zu. „Wie ist die Lage?“, fragte Avery. „Heute Morgen kam ein Anruf“, sagte Holt und deutete auf die Yacht. „Eine tote Frau auf dem Boot. Sie wurde als örtliche Buchhändlerin identifiziert. Besitzt eine Buchhandlung zu spiritueller Literatur an der Sumner Street und hat betreibt sie eit den letzten 15 Jahren. Sie hat keine Vorstrafen und es gibt auch keine sonstigen Aufzeichnung zu ihr. Nichts, was Misstrauen wecken könnte.“ „Bis auf die Art, wie sie ermordet wurde“, übernahm O'Malley. „Hauptmann Holt war mit dem Bürgermeister beim Frühstück, als der Anruf hereinkam. Der Bürgermeister entschied, dass er es sich selbst anschauen wollte.“ „Das erste, was er sagt, ist: Warum holen wir nicht Avery Black zu diesem Fall?“, schloss er und durchbohrte Avery mit seinem Blick. O'Malley versuchte, die Situation zu entspannen. „Das hast du mir anders erzählt, Will. Du sagtest, dass deine Leute kamen und nicht verstanden, was sie sahen und so schlug der Bürgermeister vor, dass jemand kommen solle, der schon etwas Erfahrung mit solchen Fällen hat.“ „Egal“, knurrte Holt und hob wichtigtuerisch das Kinn. „Gehen Sie hin“, sagte O'Malley und deutete auf die Yacht. „Schauen Sie, was Sie finden können. Wenn sie mit leeren Händen kommt“, fügte er zu Holt hinzu, „machen wir uns vom Acker. Ist das fair?“ Holt ging auf seine beiden anderen Detektive zu. „Die Beiden sind von seiner Mordkommission“, sagte O'Malley. „Schaut sie nicht an. Redet nicht mit ihnen. Nicht aufplustern. Das ist eine sehr heikle politische Situation. Halten Sie einfach den Mund und sagen Sie mir, was Sie sehen.“ Ramirez schwankte etwas, als sie zu der großen Yacht gingen. „Das ist ein nettes Schiff“, sagte er. „Sieht aus wie eine Sea Ray 58 Sedan Bridge. Doppeldecker. Oben Schatten, Wechselstrom nach innen.“ Avery war beeindruckt. „Woher weißt du das alles?“, fragte sie. „Ich fische gern.“ Er zuckte die Achseln. „Auf so etwas war ich noch nie fischen, aber man darf doch träumen, nicht wahr? Ich sollte dich irgendwann auf meinem Boot mitnehmen.“ Avery hatte das Meer nie wirklich gemochte. Manchmal Strände, immer Seen. Aber Segelboote und Motorschiffe, die weit draußen auf dem Meer schwammen? Panikattacken. Sie wurde im Flachland geboren, ist dort aufgewachsen und der Gedanke, auf den wackligen, wechselnden Gezeiten zu schwimmen, ohne eine Ahnung, was gerade unter den Wellen lauern könnte, war ihr nicht angenehm. Als Avery und Ramirez vorbei gingen und bereit waren, an Bord des Schiffes zu gehen, ignorierten sie Holt und auch seine beiden Detektive. Ein Fotograf nahm am Bug ein letztes Bild und signalisierte es Holt. Er ging Steuerbord entlang und hob bei Averys Anblick die Augenbrauen. „Du wirst nie wieder eine Yacht mit gleichen Augen sehen“, scherzte er. Eine silberne Treppenleiter führte zur Schiffsseite. Avery kletterte hinauf, legte ihre Handflächen auf die schwarzen Fenster und ging nach vorn. Eine Frau mittleren Alters, sie sah irgendwie heilig aus, mit wildem rotem Haar, war auf der Vorderseite des Schiffes positioniert, kurz vor dem Seitenlicht. Sie lag auf der Seite, nach Osten gerichtet, sie hielt mit ihren Händen die Knie umgriffen und der Kopf lag nach unten. Wenn sie aufrecht gesessen hätte, hätte es den Anschein erwecken können, sie wäre vielleicht eingeschlafen. Sie war ganz nackt, die einzige sichtbare Wunde war eine dunkle Linie um den Hals. Er ist durchgedreht, dachte Avery. Das Besondere an dem Opfer, abgesehen von dessen Nacktheit und die öffentliche Zurschaustellung des toten Körpers, war der Schatten, den die Leiche warf. Die Sonne stand im Osten. Ihr Körper war leicht nach oben gewinkelt und der Körper spiegelte sich in seiner gekrümmten Form in einem langen, verzogenen Schatten. „Leck mich doch“, flüsterte Ramirez. Avery tat, was sie auch beim Putzen der Oberflächen in ihrer Wohnung tat, sie kniete sich hin und warf einen Blick auf den Schiffsbogen. Der Schatten war entweder Zufall oder ein wichtiges Zeichen des Mörders und wenn er ein Zeichen hinterlassen hätte, hat er vielleicht auch andere hinterlassen. Sie bewegte sich von einer Seite des Schiffes zur anderen. Im Sonnenlicht, auf der weißen Fläche des Schiffsbogens, direkt über dem Kopf der Frau, zwischen ihrem Körper und dem Schatten, entdeckte Avery einen Stern. Jemand hatte ihren Finger benutzt, um einen Stern zu zeichnen, entweder mit Speichel oder Salzwasser. Ramirez rief nach O'Malley. „Was sagt die Spurensicherung?“ „Haare auf dem Körper gefunden. Könnte von einem Teppich sein. Das andere Team ist noch in der Wohnung.“ „Welcher Wohnung?“ „Die Wohnung der Frau“, rief O'Malley. „Wir glauben, dass sie von dort entführt wurde. Keine Fingerabdrücke. Der Kerl hat wohl Handschuhe getragen. Wie er sie hier, an ein stark frequentiertes Dock gebracht hat, ohne dass es jemand sehen konnte, wissen wir nicht. Er deckte einige der Kameras hier im Hafen ab. Das muss schon vor dem Mord passiert sein. Sie wurde möglicherweise letzte Nacht getötet. Der Körper scheint unversehrt, aber der Gerichtsmediziner at das letzte Wort.“ Holt spottete. „Das ist reine Zeitverschwendung“, schnappte er in Richtung O'Malley. „Was hat diese Frau zu bieten, das meine Männer noch nicht entdeckt haben? Ich interessiere mich nicht für ihren letzten Fall oder ihre öffentliche Persönlichkeit. Was mich betrifft, ist sie nur ein ausrangierter Anwalt, der mit seinem ersten großen Fall Glück hatte, weil ein Serienmörder, den sie vor Gericht verteidigte, ihr dabei half!“ Avery stand auf, lehnte sich auf das Geländer und beobachtete Holt, O'Malley und die beiden anderen Detektive auf dem Dock. Der Wind kräuselte ihre Jacke und Hose. „Haben Sie den Stern gesehen?“, fragte sie. „Welchen Stern?“, rief Holt. „Ihr Körper ist seitlich und nach oben angewinkelt. Im Sonnenlicht entsteht deutlich ein Schattenbild ihrer Körperform. Es sieht fast wie zwei Menschen aus, die Rücken an Rücken liegen. Zwischen ihrem Körper und diesem Schatten zog jemand einen Stern. Könnte Zufall sein, aber die Platzierung ist perfekt. Vielleicht haben wir Glück, wenn der Mörder den Stern mit seiner Spucke zeichnete.“ Holt konsultierte mit einem seiner Männer. „Hast du einen Stern gesehen?“ „Nein, keinen“, antwortete ein magerer, blonder Detektiv mit braunen Augen. „Die Forensiker?“ Der Detektiv schüttelte den Kopf. „Lächerlich“, murmelte Holt. „Ein gezeichneter Stern? Ein Kind hätte das tun können. Ein Schatten? Schatten entstehen durch Licht. Das ist nichts Besonderes, Kommissarin Black.“ „Wem gehört die Yacht?“, Fragte Avery. „Das ist eine Sackgasse.“ O'Malley zuckte mit den Achseln. „Ein wichtiger Immobilienentwickler. Er ist in Brasilien auf Geschäftsreise, er war schob den ganzen letzten Monat unterwegs.“ „Wenn das Boot im letzten Monat geputzt worden ist“, sagte Avery, „dann wurde dieser Stern von dem Mörder gezeichnet und da er zwischen dem Körper und dem Schatten perfekt platziert ist, muss er etwas bedeuten. Ich bin mir nicht sicher was, aber etwas hat er zu bedeuten.“ O'Malley schaute zu Holt. Holt seufzte. „Simms“, sagte er zu dem blonden Polizisten. Sieh dir diesen Stern und den Schatten an. Ich ruf dich an, wenn wir fertig sind.“ Unglücklich schaute Holt zu Avery und schüttelte dann den Kopf. „Lassen Sie uns ihre Wohnung ansehen.“
Free reading for new users
Scan code to download app
Facebookexpand_more
  • author-avatar
    Writer
  • chap_listContents
  • likeADD