III.
Vorskis SohnVeronika saß am Steuerbord auf einer Kiste, das Gesicht Honorine zugewandt, und lächelte. Noch war es ein befangenes, zurückhaltendes Lächeln, wie ein Sonnenstrahl, der die letzten Gewitterwolken durchdringen will, und trotzdem war es glücklich; Glück schien der natürliche Ausdruck zu sein für dieses wunderbare Gesicht, dessen Züge jenen Adel, jene besondere Reinheit zeigten, die ein tiefer Lebensernst und der Verzicht auf jede weibliche Gefallsucht gerade den Frauen verleiht, die von unerhörten Schicksalsschlägen verfolgt werden oder von der Liebe unberührt sind.
Ihr schwarzes, an den Schläfen schon ein wenig ergrautes Haar war tief im Nacken zu einem Knoten geschlungen. Sie hatte die matte Hautfarbe einer Südländerin. Die Augen waren von einem so durchsichtigen Blau, daß sie an die Klarheit eines Winterhimmels erinnerten. Sie war hoch gewachsen, breitschultrig, voll und schlank. Ihre melodische und ein wenig tiefe Stimme klang leicht und freudig, als sie jetzt von dem wiedergefundenen Sohne sprach, und nur von ihm wollte Veronika sprechen.
Vergeblich suchte Honorine auf die Fragen, die sie quälten, zurückzukommen, indem sie sagte:
»Zwei Dinge kann ich mir immer noch nicht erklären. Wer hat die Richtung angegeben, deren Spur Sie bis nach Faouët geführt hat, gerade bis an den Ort, wo ich immer anlege? Man sollte meinen, es sei schon jemand von Faouët nach der Insel Sarek gekommen? Und dann, wie ist der alte Maguennoc dazu gekommen, die Insel zu verlassen? Ist er freiwillig gegangen, oder hat man seine Leiche weggeschafft? Und auf welchem Wege?«
»Warum fragen Sie?« warf Veronika ein.
»Aber bedenken Sie nur! Außer mir, die ich alle vierzehn Tage mit meinem Boot Lebensmittel hole, entweder in Beg-Meil oder in Pont-l'Abbé, gibt es ja nur noch zwei Fischerboote, die immer weiter oben die Küste herauffahren bis nach Audierne zum Fischmarkt. Wie hat also Maguennoc übers Meer kommen können? Und dann noch eins, hat er sich selbst getötet? Weshalb wäre seine Leiche dann aber verschwunden?«
»Ich bitte Sie,« wandte jetzt Veronika dagegen ein, »das hat doch für den Augenblick gar keine Bedeutung. All das wird sich schon aufklären. Sprechen wir lieber von Franz. Sagten Sie nicht eben, daß er nach Sarek gekommen sei? ...«
Endlich gab Honorine den Bitten der jungen Frau nach.
»Ja, der arme Maguennoc hat ihn damals auf seinen Armen gebracht, wenige Tage nachdem man Ihnen das Kind genommen hatte. Maguennoc erzählte auf Geheiß des Herrn von Hergemont, eine fremde Dame habe ihm das Kind anvertraut. Er ließ es von seiner Tochter, die inzwischen gestorben ist, nähren. Ich war damals gerade mit meiner Herrschaft, bei der ich seit zehn Jahren im Dienst war, auf Reisen. Als ich wiederkam, war er schon ein netter kleiner Junge, der in der Heide auf den Felsen herumstrich. Damals trat ich dann bei Ihrem Vater in Dienst, der sich in Sarek niedergelassen hatte. Als Maguennocs Tochter gestorben war, nahmen wir das Kind zu uns ins Haus.«
»Unter welchem Namen?«
»Unter seinem richtigen Namen Franz ... Einfach Franz. Herr von Hergemont ließ sich Herr Anton nennen. Das Kind nannte ihn Großvater. Kein Mensch hat jemals dabei etwas gefunden.«
»Wie war denn sein Charakter?« Mit einer gewissen Angst fragte Veronika.
»Ach, das ist ein wahrer Segen. Er hat gar nichts von seinem Vater, auch nichts von seinem Großvater, wie Herr von Hergemont selbst zugibt. Er ist ein sanftes, freundliches, gefälliges Kind. Niemals gerät er in Zorn. Immer ist er guter Laune. Damit hat der Junge auch das Herz seines Großvaters gewonnen, und dadurch ist auch das Gefühl Ihres Vaters für Sie wieder erwacht, so sehr erinnerte ihn der Enkel an die Tochter, die er verleugnet hatte. Ganz das Abbild seiner Mutter, sagte er. Bald darauf hat er angefangen, nach Ihnen zu forschen.«
Veronika strahlte vor Freude.
»Ja, kennt der Junge mich denn,« sagte sie, »weiß er, daß seine Mutter am Leben ist?«
»Ob er es weiß! Herr von Hergemont wollte zuerst das Geheimnis für sich behalten, aber ich habe bald alles erzählt.«
»Alles?«
»Nein, er glaubt, daß sein Vater tot ist, und daß Sie alsbald nach dem Schiffbruch in ein Kloster gegangen seien, ohne daß man Sie finden konnte. Nur um Sie zu suchen, kann er nicht schnell genug groß werden und seine Studien beenden.«
»Seine Studien? Er arbeitet also?« ...
»Ja, mit seinem Großvater, und seit zwei Jahren auch mit einem guten Jungen, den ich aus Paris mitgebracht habe, Stephan Maroux, einem Kriegsbeschädigten, der alle möglichen Auszeichnungen hat. Franz hat sich von ganzem Herzen an ihn angeschlossen.«
Auf der glatten Meeresfläche zog das Boot rasch dahin. Seine schäumende Spur im Wasser glänzte wie Silber. Die Wolken am Himmel hatten sich verzogen, und der Tag versprach ruhig und heiter zu bleiben.
»Weiter, weiter«, rief Veronika, die nicht müde wurde, zuzuhören. »Sagt, wie kleidet er sich denn, mein Sohn?«
»Er trägt kurze Hosen, die die runden Knie hervorsehen lassen, ein dickes Flanellhemd mit goldenen Knöpfen und eine Mütze wie sein großer Freund, Herr Stephan, aber seine ist rot, und sie steht ihm zum Entzücken.«
»Hat er noch andere Freunde außer dem Herrn Maroux?«
»Ehemals versammelte er alle Fischerjungen der Insel um sich, aber jetzt sind sie mit Ausnahme von drei oder vier ganz kleinen Knirpsen mit ihren Müttern fortgezogen, sie arbeiten an der Küste von Concarneau und Lorient. Ihre Väter sind im Krieg, und nur die Alten sind hiergeblieben.«
»Mit wem spielt er aber? Mit wem geht er spazieren?«
»Oh, da seien Sie ohne Sorge. Er hat die beste Gesellschaft.«
»Und wen denn?«
»Einen kleinen Hund, den Maguennoc ihm geschenkt hatte?«
»Einen Hund?«
»Ja, und den drolligsten, den Sie sich denken können. Ein lächerlicher Kerl. Eine Kreuzung von Fox und Pudel, aber so possierlich und so spaßig. Ich kann Ihnen sagen, dieser Herr Allesgut hat's in sich.«
»Allesgut?«
»Ja, so nennt ihn Franz, und kein Name paßt besser für ihn. Immer sieht er zufrieden und glücklich aus. Er liebt übrigens die Freiheit und verschwindet auf Stunden, sogar auf mehrere Tage. Aber wenn man ihn braucht und wenn man traurig ist und einem etwas schief geht, dann ist er da ... Allesgut verabscheut Tränen, Scheltworte und Zank. Sobald jemand weint oder traurig aussieht, setzt er sich auf die Hinterbeine, zwinkert mit dem einen Auge, macht das andere halb auf und scheint so herzlich zu lachen, daß man selbst lachen muß. Dann sagt Franz: ›Ja, du hast recht, alter Freund, alles wird gut, man muß sich keine Sorgen machen, nicht wahr?‹ und sobald man getröstet ist, trottet Allesgut davon, er hat seine Pflicht getan.«
Veronika lachte und weinte zugleich. Lange Zeit saß sie schweigend da. Ihre Miene verdüsterte sich nach und nach, und ihre Freude wich einem Gefühl der Verzweiflung. Sie dachte daran, was sie in diesen vierzehn Jahren für ein Glück entbehrt hatte. Sie war eine Mutter gewesen ohne Kind und hatte um einen Sohn getrauert, der noch lebte.
»Wir sind am Ziel«, sagte Honorine und holte aus einer Kiste unter der Bank eine große Muschel hervor, die ihr nach altem Brauch als Signalhorn diente. Sie legte sie an die Lippen, blies die Backen auf und entlockte ihr einige kräftige Töne, die wie ein Stiergebrüll die Luft erfüllten.
Veronika sah sie fragend an.
»Jetzt rufe ich ihn«, sagte Honorine.
»Franz rufen Sie, Franz!«
»Jedesmal, wenn ich zurückkehre, mache ich es so, er klettert dann schleunigst den Felsen herunter, auf dem unser Haus steht, und kommt bis an die Mole.«
»Sie werden ihn sehen. Legen Sie Ihren Schleier doppelt vor Ihr Gesicht, damit er Sie nicht nach den Bildern erkennt. Ich werde mit Ihnen sprechen wie zu einer Fremden, die nach Sarek zu Besuch kommt.«
Jetzt sah man die Insel deutlich vor sich liegen, aber eine Anzahl von Klippen verdeckte den unteren Teil der Felsen.
»Ja, ja, Klippen, an denen fehlt es hier nicht, das wimmelt wie eine Heringsbank!« rief Honorine, die den Motor ausgeschaltet hatte und zwei kurze Ruder ergriff. »Sie sehen, wie ruhig das Meer eben noch war, hier aber ist es immer wild.«
In der Tat sah man ringsum ungezählte Wogen, die aufeinanderprallten, sich überstürzten und unaufhörlich, unermüdlich gegen die Felsen donnerten. Das Boot schien von der Gischt eines Sturzbaches umgeben. Nirgends war in dem schäumenden Strudel ein Stückchen blau oder grün leuchtendes Meer zu erblicken. Nichts als weißer Schaum, den die unermüdlich gegen die spitzen Klippen anprallenden Wasser aufwirbelten.
»Überall ist dasselbe,« fuhr Honorine fort, »und Sarek ist nur mit einem Boot zu erreichen. Nur an der Westseite sind einige Höhlen, die zur Zeit der Ebbe eine Einfahrt bilden. Hier gibt es Felsen, nichts als Felsen, spitze, die verräterisch von unten das Boot aufreißen, und obgleich dies die gefährlichsten sind, sind die anderen nicht weniger zu fürchten. Dort drüben die großen, da hat jeder seinen Namen und seine Geschichte, die von Verbrechen und Schiffbruch erzählt. Ja, das sind die schlimmsten! ...«
Ihre Stimme klang dumpf, zögernd, fast scheu deutete sie mit der Hand auf einige Riffe, die massig aufragten und die verschiedensten Formen bildeten. Da waren Tiere, die sich duckten, zinnenbesetzte Türme, gewaltig aufstrebende Pfeiler, Sphinxgestalten, grob umrissene Pyramiden aus schwarzem Granit, der rötlich schimmerte, als sei er in Blut getaucht.
Honorine machte das Zeichen des Kreuzes und fuhr ruhiger fort:
»Es sind ihrer dreißig. Ihr Vater sagt, daß man Sarek die Insel mit den dreißig Särgen nennt, weil das Volk bei den Klippen schon an den Tod denkt ... Und sie haben recht, es sind schon wahre Särge, Frau Veronika, und wenn man sie öffnen könnte, würde man sicherlich eine Unzahl menschlicher Gerippe finden. Auch meint Herr von Hergemont, das Wort Sarek käme von Sarkophag, was nach seiner Erklärung der gelehrte Ausdruck für Sarg ist.«
Zerstreut hatte Veronika Honorines Erklärungen zugehört. Sie neigte sich tiefer über den Bootsrand, um so früh als möglich die Gestalt ihres Sohnes zu erblicken, während ihre Gefährtin, in Gedanken noch bei ihrer Erzählung, fortfuhr:
»Außerdem gibt es auf Sarek, und deshalb hat Ihr Vater sich gerade hier niedergelassen, eine Anzahl Dolmen Dolmen, die Altarsteine der keltischen Ureinwohner Frankreichs., die nichts Merkwürdiges an sich haben, die aber eigentümlicherweise alle ungefähr gleich sind. Und wissen Sie, wieviel solcher Dolmen es hier gibt? Gerade dreißig, ebensoviel wie Klippen, und die dreißig stehen auf der Insel verteilt, jeder genau vor der Klippe, die seinen Namen trägt! Dol-er-H'rock, Dol-ker-litu usw. Was sagen Sie dazu?«
Sie hatte diese Namen mit ängstlicher Stimme geflüstert, wie immer, wenn sie von all diesen Dingen sprach, als fürchte sie, daß diese Dinge sie hören könnten. »Was meinen Sie dazu, Frau Veronika? Oh, in allem dem liegt viel Geheimnisvolles, und ich sage immer, es ist besser, darüber zu schweigen. Ich will Ihnen das einmal erzählen, wenn wir von hier fort sein werden, weit fort, und wenn Sie erst Ihren Vater und Franz in den Armen halten ...«
Veronika schwieg immer noch und maß mit den Blicken den Raum, der sie noch vom Ufer trennte. Sie hatte ihrer Gefährtin den Rücken zugewandt, klammerte sich mit beiden Händen an den Rand des Bootes und blickte starr geradeaus. Dort, durch die Öffnung zwischen den Felsen, sollte sie zum ersten Male ihr wiedergefundenes Kind erblicken, und sie wollte von dem Augenblick an, wo Franz am Hafen auftauchen konnte, keine Minute verlieren.
Jetzt erreichten sie die Küste.
Eines der Ruder berührte den Hafendamm, den sie bis zum äußersten Ende entlangfuhren.
»Oh,« rief Veronika schmerzlich bewegt, »er ist nicht da.«
»Das ist nicht möglich«, rief Honorine.
Ihr Blick hing an den drei- bis vierhundert Meter entfernt liegenden mächtigen Steinen, die dem Strand als Damm vorgelagert waren. Drei Frauen, ein kleines Mädchen und ein paar alte Fischer erwarteten das Boot. Ein Knabe mit roter Mütze war nirgends zu sehen.
»Wie sonderbar,« sagte Honorine, »zum ersten Male ist er auf mein Zeichen nicht gekommen.«
»Vielleicht ist er krank«, meinte Veronika.
»Nein, krank ist er nie.«
»Was dann?«
»Ich weiß es nicht.«
»Und Sie können so ruhig sein«, fragte Veronika, die von wahnsinniger Angst ergriffen war.
»Seinetwegen bin ich ruhig ... Aber wegen Ihres Vaters. Maguennoc hatte mir geraten, ihn nicht zu verlassen; er ist in Gefahr.«
»Aber Franz ist ja da, um ihn zu verteidigen, und auch Herr Maroux, sein Lehrer. Was vermuten Sie denn?«
Honorine schwieg, dann zuckte sie mit den Schultern.
»Es sind Torheiten! Mir kommen sonderbare, sehr unwahrscheinliche Gedanken. Seien Sie mir deshalb nicht böse. Immer wieder merke ich, daß ich Bretonin bin. Mit Ausnahme weniger Jahre habe ich mein ganzes Leben in diesem von Legenden und Geschichten erfüllten Land zugebracht ... nichts mehr davon.«
Die Insel Sarek bildet eine langgestreckte, hügelige Hochfläche, die von alten Bäumen bedeckt ist und von phantastisch zerrissenen Klippen getragen wird. Die Insel ist umgeben von einem Kranz ungleichförmiger spitzer Klippen, an denen Wind und Regen, Sonne und Hagel, Nebel und Frost, alles vom Himmel stürzende und alles aus der Erde dringende Wasser unaufhörlich nagen. Die einzig zugängliche Stelle liegt im Osten an einer Bodensenkung, wo einige verlassene Fischerhütten das Dorf bilden. Dort ist ein kleiner Hafen entstanden, der durch eine kleine Mole geschützt ist. Hier ist das Meer völlig ruhig. Zwei Boote lagen vor Anker.