»Zwei sind eines natürlichen Todes gestorben, schon vor Jahren. Der dritte ist ein gewisser Maguennoc, ein alter Mann, den Sie in Sarek finden werden. Den vierten haben Sie vielleicht eben selbst gesehen. Mit dem Geld, das diese Angelegenheit ihm einbrachte, hat er in Beg-Meil einen Krämerladen aufgemacht.«
»Ach, der war es. Den kann ich also gleich sprechen«, sagte Veronika zitternd vor Erregung. »Gehen wir gleich zu ihm.«
»Weshalb, ich weiß mehr von der Sache als er.«
»Sie wissen etwas?«
»Ich weiß alles, was Sie nicht wissen. Ich kann Ihnen alle Ihre Fragen beantworten. Fragen Sie nur.«
Veronika jedoch wagte nicht die wichtigste Frage an sie zu stellen. Sie fürchtete sich vor einer Wahrheit, die sie immerhin als möglich erkannte und die sie dunkel ahnte. In schmerzlichem Tone stammelte sie:
»Ich begreife nicht ... Warum sollte denn mein Vater so gehandelt haben? Warum sollte er gewollt haben, daß man an seinen und meines unglücklichen Kindes Tod glaubte?«
»Ihr Vater hat geschworen sich zu rächen.«
»An Vorski wohl, aber an mir?« ...
»An seiner Tochter ... Und auf diese Weise. Sie liebten Ihren Gatten. Sie standen unter seinem Einfluß, und anstatt ihn zu fliehen, haben Sie eingewilligt, ihn zu heiraten. Außerdem war die Beleidigung eine öffentliche gewesen, und Sie kannten Ihren Vater als aufbrausenden, rachsüchtigen Charakter.
»Aber seither? ...«
»Seither, ja, seither! ... Seither hat sich mit zunehmendem Alter auch die Reue eingestellt. Er liebte das Kind, und so hat er Sie überall suchen lassen ... Was habe ich nicht für Reisen gemacht! Zuerst nach Chartres zu den Karmeliterinnen, aber dort waren Sie schon lange nicht mehr ... und wo, wo nur sollte ich Sie finden?«
»Weshalb haben Sie nicht einen Aufruf in die Zeitung gesetzt?«
»Er hat es getan, aber diese Anzeige war sehr vorsichtig gehalten, schon wegen des damaligen Skandals. Es hat sich auch jemand gemeldet. Es wurde eine Zusammenkunft vereinbart, und wissen Sie, wer sich einstellte? Vorski! Vorski suchte Sie auch, er liebte Sie noch immer und haßte Sie auch. Ihr Vater wurde ängstlich und hat nicht mehr gewagt, öffentlich Schritte zu tun.«
Veronika schwieg, sie drohte umzusinken und setzte sich auf den Stein. Hier blieb sie mit gesenktem Kopf sitzen.
»Sie sprechen von meinem Vater, als ob er noch lebte«, murmelte sie.
»Er lebt.«
»Und als ob Sie ihn häufig sähen ...«
»Jeden Tag sehe ich ihn ...«
Aber Veronika sprach leiser: »Aber Sie reden kein Wort von meinem Sohn ... Ich zittere bei dem Gedanken ... Ist er nicht gerettet worden? ... Ist er etwa gestorben? Sprechen Sie darum nicht von ihm?«
Mühsam wandte sie Honorine ihr Gesicht zu. Diese lächelte.
»Oh, ich flehe Sie an, sagen Sie mir die Wahrheit, es ist entsetzlich, sich Hoffnungen hinzugeben, die ... Ich flehe Sie an ...«
Honorine legte ihr den Arm um den Hals.
»Aber meine liebe, gute Dame, würde ich Ihnen dies alles erzählt haben, wenn er nicht lebte, mein lieber, kleiner Franz?«
»Er lebt, er lebt?« rief Veronika wie von Sinnen.
»Aber gewiß, und es geht ihm gut. Oh, es ist ein kräftiger Junge, er steht fest auf seinen Beinen und ich kann mit Recht stolz auf ihn sein, denn ich bin es, die ihn erzogen hat, Ihren Franz.«
Unter der Wucht ihrer Gefühle, die ebensoviel Schmerz wie Freude in sich bargen, lehnte sich Veronika an Honorine, die ihr freundlich zusprach.
»Weinen Sie nur, meine Liebe, das wird Ihnen wohltun. Diese Tränen sind besser als die früheren, nicht wahr? Weinen Sie nur, damit Sie all Ihr Elend vergessen. Ich gehe jetzt ins Dorf. Sie haben sicher noch einen Koffer dort? Man kennt mich. Ich hole ihn, und wir fahren ab.«
Als Honorine eine halbe Stunde später zurückkam, sah sie Veronika aufrecht im Boot stehen, die ihr zuwinkte und rief:
»Schnell doch, wie langsam Sie sind! Wir haben keine Minute zu verlieren.«
Honorine ging aber trotzdem nicht schneller, sie antwortete nicht. Kein Lächeln zeigte sich auf ihrem strengen Gesicht.
»Fahren wir denn nicht ab?« rief Veronika, »weshalb zögern wir, was hindert uns? Sie scheinen mir verändert.«
»Aber ja, aber ja ...«
»Beeilen wir uns also.«
Zusammen trugen sie den Koffer und die Säcke mit Vorräten in das Schiff. Plötzlich aber trat Honorine dicht an Veronika heran und sagte:
»Sind Sie wirklich sicher, daß die Frau auf dem Kreuz Sie selbst darstellte?«
»Vollkommen sicher; außerdem stand mein Namenszug darüber! ...«
»Wie seltsam«, murmelte Honorine, »und wie beunruhigend.«
»Wieso? ... Irgend jemand, der mich vielleicht kannte, hat sich ein Vergnügen daraus gemacht ... Ein bloßer Zufall, ein rätselhaftes Zusammentreffen hat Vergangenes heraufbeschworen.«
»Ach, nicht die Vergangenheit ist es, die mir Sorgen macht, es ist die Zukunft.«
»Die Zukunft?«
»Erinnern Sie sich an die Prophezeiung?«
»Sie kennen sie?«
»Ja, ich kenne sie, und es ist gräßlich, daran und an andere Dinge zu denken, die Sie nicht wissen und die noch viel entsetzlicher sind.«
Veronika brach in Lachen aus.
»Und deshalb zögern Sie, mich mitzunehmen? ... Denn darum handelt es sich doch?«
»Lachen Sie nicht! Wenn man die Hölle vor sich sieht, vergeht einem das Lachen!«
Bei diesen Worten schloß Honorine die Augen und bekreuzigte sich, dann fuhr sie fort:
»Es scheint, daß Sie sich über mich lustig machen! Sie glauben, ich bin eine Frau, die wie andere in der Bretagne abergläubisch ist, an Gespenster und Irrlichter glaubt. Ich leugne es nicht durchaus, aber es gibt noch ganz andere Dinge. Sie können mit Maguennoc darüber sprechen, wenn Sie sein Vertrauen gewinnen.«
»Maguennoc?«
»Der eine von den vier Matrosen. Er ist ein alter Freund Ihres Sohnes, er hat ihn erzogen, Maguennoc weiß mehr als alle Gelehrten, mehr als Ihr Vater.«
»Ja, ja ... aber ...?«
»Maguennoc hat das Schicksal herausfordern wollen und hat das erfahren wollen, was man kein Recht hat zu wissen.«
»Was hat er denn getan?«
»Er wollte mit eigener Hand, wie er mir selbst gesagt hat, an das Dunkle rühren.«
»Und was geschah?« rief Veronika, die, obwohl sie dagegen ankämpfte, ein Angstgefühl überkam.
»Seine Hand verbrannte in den Flammen. Er trägt eine furchtbare Wunde, die er mir selbst gezeigt hat, die ich mit eigenen Augen gesehen habe, ähnlich einer Krebswunde. Und er litt derartig, daß ... daß er mit seiner linken Hand zur Axt greifen mußte und sich damit selbst die rechte Hand abschlug.«
Veronika verstummte voll Entsetzen. Die Erinnerung an den Leichnam in Faouët tauchte auf, und sie stammelte:
»Seine rechte Hand! Sie behaupten, daß Maguennoc sich die rechte Hand abgeschlagen hat?«
»Ja, mit der Axt. Es sind jetzt zehn Tage her, gerade kurz vor meiner Abreise. Ich habe ihn damals gepflegt ... Warum fragen Sie danach?«
»Weil dem Toten, dem alten Mann, den ich in der verlassenen Hütte fand und der dann verschwunden war, die rechte Hand fehlte, sie war frisch abgeschlagen.«
Honorine fuhr zusammen. Auf ihrem Gesicht malte sich starrer Schrecken, der zu der gewöhnlichen Ruhe ihrer Züge im Gegensatz stand.
»Sind Sie sicher?« stieß sie hervor. »Ja, Sie haben recht, er ist es, Maguennoc, er hat lange weiße Haare, nicht wahr, und einen breiten Bart ...«
Sie hielt inne und blickte sich um, als fürchte sie, zu laut gesprochen zu haben. Von neuem bekreuzigte sie sich und sagte langsam, wie zu sich selbst:
»Er ist der erste von denen, die sterben müssen ... Er hatte es mir vorausgesagt ... Und die Augen des alten Maguennoc lasen so gut im Buch der Zukunft, wie in dem der Vergangenheit. Er sah auch das, was wir nicht sehen. Das erste Opfer werde ich sein, sagte er ... und wenn der Diener nicht mehr sein wird, wird einige Tage später sein Herr an die Reihe kommen.«
»Und wer ist sein Herr ...« stieß Veronika tonlos hervor.
Honorine richtete sich auf und ballte energisch die Fäuste. »Ich werde ihn verteidigen,« rief sie, »ich werde ihn retten. Ihr Vater soll nicht das zweite Opfer werden. Nein, nein, ich werde schon noch rechtzeitig hinkommen. Lassen Sie mich abfahren.«
»Wir fahren zusammen«, sagte Veronika entschlossen.
»Ich beschwöre Sie, geben Sie den Gedanken auf«, flehte Honorine. »Lassen Sie mich machen, noch vor dem Abend bringe ich Ihren Vater und Ihren Sohn hierher ...«
»Aber weshalb?«
»Dort ist die Gefahr zu groß ... für Ihren Vater und besonders für Sie. Denken Sie an die vier Kreuze! Dort werden sie aufgerichtet werden. Ach, Sie dürfen nicht hingehen, die Insel ist verflucht.«
»Und mein Sohn?«
»Sie werden ihn heute noch sehen, in wenigen Stunden schon.«
Veronika lachte heiser auf.
»In wenigen Stunden! Aber das ist Wahnsinn! Seit vierzehn Jahren habe ich schon keinen Sohn mehr! Plötzlich höre ich, daß er lebt, und da soll ich warten, bis ich ihn in meine Arme schließen kann?! Keine Stunde warte ich! Lieber will ich mich tausendmal in Todesgefahr begeben als diesen Augenblick aufschieben.«
Honorine sah sie an und schien zu begreifen, daß man Veronikas Entschluß vergebens bekämpfen würde. Sie gab nach. Zum dritten Male bekreuzigte sie sich und sagte einfach:
»Gottes Wille geschehe.«
Beide Frauen setzten sich neben die Gepäckstücke, die das enge Deck des Schiffes beinahe ausfüllten.
Honorine setzte den Motor in Bewegung, ergriff das Steuer und lenkte das Boot mit großer Sicherheit zwischen den bis an die Oberfläche des Meeres ragenden Klippen hindurch.