„Vor zwei oder drei Tagen?“, erwiderte Jared. „Er kam ins Howl Café, um Kuchen zu essen und war sehr sauer über irgendetwas. Ich habe noch nie erlebt, dass jemand, der den Mund voll mit köstlichem Pekannusskuchen hat, so wütend sein kann.“
Jodi fuhr sich mit den Fingern durch ihr kurzes Haar. „Ich habe Brad vor einigen Tagen erzählt, dass ich Jim zu meinem Nachfolger als Alpha ernennen würde. Ich wollte nicht, dass er es von jemand anderem erfährt.“
„Wir wussten alle, dass Brad scharf auf den Job war, aber das ist Wahnsinn. Was hat er davon, wenn er uns das Geld wegnimmt, das wir dringend für die Reparaturen benötigen?“, fragte Charlie. „Na ja ...außer Geld, nehme ich an.“
„Brad war noch nie besonders gut im Vorausplanen“, antwortete Morgan.
Aber Jim konnte Brads verrückte Logik erkennen. Wenn Brad nicht selbst Alpha sein konnte, dann wollte er wenigstens Jodi beweisen, dass Jim einer Krisensituation nicht gewachsen war.
„Warum rufen wir nicht einfach die Polizei?“, fragte Morgan ruhig.
Charlie stieß ihn mit dem Ellbogen an. „Die Bullen können doch mit einem wütenden Werwolf nicht fertig werden. Außerdem sollten wir dieses Problem innerhalb der Familie lösen.“ Charlie ließ seine Fingerknöchel knacken und sah grimmig vor sich hin.
Jodi sah ihn entschlossen an. „Nichts da. Brad ist euer Bruder. Wir werden diese Sache mit Mitgefühl lösen, nicht mit Gewalt. Denkt immer daran.“
„Wir müssen das Geld zurückbekommen. Wenn Brad es hat, hole ich es wieder“, sagte Jim.
Jodi sah ihn an, als wollte sie etwas einwenden, nickte dann aber. „Stell fest, wer das Geld genommen hat und hole es dir zurück. Wenn du auch Brad wieder nach Hause bringen kannst, wäre das sehr schön, aber im Moment ist unser wichtigstes Anliegen, dass wir die Stadt wieder auf Vordermann bringen. Ich bleibe hier und sorge dafür, dass alles geregelt wird, bis wir das Geld wiederhaben.“
„Ja, Mama“, antwortete Jim. Sie musste lächeln und nickte dann ihren anderen Söhnen zu.
„Befolgt Jims Anweisungen und helft ihm, wo immer ihr könnt. Sonst läuft alles wie immer. Keiner muss davon irgendetwas erfahren.“ Sie drehte sich um und ging zurück in das Café, wo die Werwölfe von Singer Valley aufgeregt auf sie warteten.
Jim sah ihr nach, wie sie zu ihren Pflichten zurückkehrte. Die Brust war ihm eng. Warum müssen Tage, die so gut anfangen, immer böse enden? An dem Tag, als die Mine einstürzte und ihm seine Eltern nahm, war für Jim der schlimmste Tag seines Lebens gewesen. Aber die Ereignisse von heute beeinflussten mehr als nur sein eigenes, unbedeutendes Leben. Die Sicherheit der gesamten Stadt stand auf dem Spiel.
Wie zur Hölle soll ich das bloß wieder hinkriegen?
„Also Boss, hast du schon einen Plan?“ Charlie versuchte zu lächeln, aber selbst seine sonnige Frohnatur hatte einen Dämpfer bekommen, seit sie alle gesehen hatten, was Brad dem Gemeindekonto angetan hatte.
Jim atmete tief durch und nickte den Zwillingen zu. „Die gesamte Summe wurde heute am frühen Morgen bar in der Westfiliale der Bank abgehoben. Ihr beide geht bitte zur Bank und überprüft die Überwachungskameras. Wir sind zwar alle der Meinung, dass wir den richtigen Verdacht haben, aber wir müssen sicher sein, dass es wirklich Brad war. Schickt mir eine Textnachricht sobald ihr wisst, wer unser Konto geplündert hat.“ Die Zwillinge nickten einstimmig und liefen zum Parkplatz, wo sie ihre Autos geparkt hatte. Jim blieb mit Jared zurück.
Jared zog eine Braue hoch und sah Jim an. „Ist das überhaupt nötig? Wir wissen doch, dass Brad es getan hat.“
Jim erwiderte seinen Blick. „Wir wissen es nicht. Im Zweifelsfalle für den Angeklagten. Schließlich ist er unser Bruder.“
Jared nickte nachdenklich.
Jim lief durch die kleine Gasse hinter dem Howl Café. Er hegte noch einen kleinen Funken Hoffnung, dass es sich um einen Computerfehler der Bank handelte oder irgendein Hacker das Geld gestohlen hatte. Allerdings konnte er sich beim besten Willen nicht einreden, dass Brad ein anständiger Kerl war. Wenn er das Geld wirklich hatte, dann hatten sie ein Riesenproblem. Brad war ein mieses Arschloch. Er würde sie richtig leiden lassen.
Die einzige Möglichkeit das Geld zurückzubekommen war, es Brad zu stehlen.
Im Café herrschte wieder das normale Stimmengewirr. Die Leute lebten ihr normales Leben und keiner hatte auch nur die geringste Ahnung, dass ein Sohn der Alphawölfin das Geld gestohlen hatte, das so dringend für lebenswichtige Arbeiten zum Wohl der Gemeinde benötigt wurde. Die Verantwortung, die bereits im Café schwer auf ihm gelastet hatte, drohte ihn jetzt fast zu ersticken. Jim konnte nicht fassen, dass dies seine erste Aufgabe als Alphanachfolger war.
Er hatte noch keine Ahnung, wie er die Sache angehen sollte. Keiner, den er kannte, hatte die notwendige kriminelle Energie und Erfahrung für diese Aufgabe. Die Zwillinge betrieben ein Boxsportstudio und eine Autowerkstatt. Jared hatte das Café. Und Jim war eigentlich ein einfacher Beamter. Was verstanden sie schon von Diebstahl?
„Jared, wie soll ich es anstellen, das Geld von Brad zurückzustehlen?“, fragte Jim verzweifelt.
Jared rieb sich das Kinn. „Ich habe keinen blassen Schimmer, schließlich kenne ich mich nur mit Klatsch und Tratsch aus. Wir brauchen jemanden, der sich in der Szene auskennt, aber wir müssen ihm vertrauen können …“ Er verstummte und sah nachdenklich vor sich hin. Jim blickte ihn an und wurde nervös. Er kannte diesen Gesichtsausdruck von Jared nur allzu gut.
„Osric Tan. Erinnerst du dich an ihn?“ Jared war ein echtes Schlitzohr. „Es gibt Gerüchte, dass Osric eine steile kriminelle Laufbahn eingeschlagen hat, seit er damals von hier weggelaufen ist. Wie alt wart ihr beide damals? Fünfzehn, oder so? Man sagt, dass er in den letzten Monaten in der City aktiv war. Seid ihr beide damals nicht ziemlich dicke Freunde gewesen ...?“
Jared ließ den letzten Satz wie eine Frage klingen, aber natürlich kannte er die Antwort bereits. Jared hatte ein ausgezeichnetes Gedächtnis für alles, das mit Klatsch und Tratsch zu tun hatte zu tun hatte. Jeder in der Stadt wusste von der Freundschaft zwischen Jim und Osric sowie der Romanze, die sich langsam zwischen ihnen entwickelte und der plötzlichen, dramatischen Trennung.
Jim wandte sich ab, um die Gefühle zu verbergen, die wieder in ihm aufstiegen. Osric war von Kindesbeinen an Jims allerbester Freund gewesen. Er war bei Osrics Familie ein- und ausgegangen. Die beiden hatten sich in den Elternhäusern des anderen wie zu Hause gefühlt, sich in den Wohnzimmern gelümmelt und die Kühlschränke geplündert wie Familienmitglieder. Als sie in die Pubertät kamen, traf es Jim wie ein Schlag, welche Gefühle er hatte, jedes Mal wenn er Osrics geliebtes Gesicht sah. Er hatte sich unsterblich in Osric verliebt, und als dieser ihm gestand, dass er genauso empfand, hatte Jim geglaubt, dass sie bis an ihr Lebensende glücklich sein würden, das perfekte Happy End. Am Abend ihres ersten Kusses war Jim überzeugt, dass dies der schönste Moment seines Lebens war.
Dann bebte die Erde, die Mine stürzte ein, Osrics und Jims Eltern wurden tief unter Tage verschüttet und die Nacht brach an.
Osric war am nächsten Morgen verschwunden, ohne ein Wort, und ließ Jim allein und fassungslos zurück.
Jared, der schon damals gern seine Nase in die Angelegenheiten anderer steckte, hatte ihm geraten, seine große Liebe zu suchen und zurück zu bringen, aber Jim hatte sich geweigert.
Es kann doch nicht sein, dass Jared ausgerechnet jetzt versucht, mich zu verkuppeln ... “Wir können Osric nicht trauen.“ Jim erkannte kaum seine eigene Stimme. „Er ist noch egoistischer als Brad.“
Jared zuckte die Achseln und machte ein unschuldiges Gesicht. „Ich habe damals schon immer gedacht, dass er ein netter Kerl war und jetzt hat er einen Ruf als Gentlemandieb. Er ist ein Trickbetrüger, kein Gangster. Einer, der die Reichen übertölpelt, so was in der Art. Na ja, vielleicht hast du ja eine bessere Idee, wie wir die Sache anstellen sollen …“ Jared schwieg und sah Jim fragend, mit hochgezogener Augenbraue, an.
Verflixt.
Jim lief an fremden Häuserblocks in der nahe gelegenen City entlang. Er versuchte, nicht darüber nachzudenken, wie Jodi und die anderen mit den Problemen in der Gemeinde fertig wurden. Ob Beatrices Arbeitstrupp schon mit der Arbeit an der Brücke begonnen hatte? Es war äußerst wichtig, diese Brücke zu reparieren, bevor man die schweren Maschinen für die erforderlichen Straßenarbeiten in die Stadt bringen konnte. Er konnte sich gerade noch zurückhalten, sein Telefon zum dritten Mal in ebenso vielen Minuten zu checken. Jodi und Jared hatten ihm versprochen, dass sie ihn auf dem Laufenden halten würden. Er war sich gar nicht bewusst gewesen, wie sehr er daran gewöhnt war, in seiner kleinen Stadt ständig von Familie und Freunden umgeben zu sein. In den Menschenmengen der Großstadt fühlte er sich unbeschreiblich einsam.
Er war schon seit zwei Tagen in der Stadt und so lange hatte es auch gedauert, bis er Osrics Witterung aufgenommen hatte, und zwar bei dem einzigen Chinarestaurant in der Stadt, das ein echtes Guo Bao Rou anbot, ein köstliches chinesisches Gericht mit Schweinefleisch, das Osrics Mutter so gut zuzubereiten wusste.
Da sie sich seit dreizehn Jahren nicht mehr gesehen hatten, hatte Jim schon befürchtet, dass er Osrics Duft vergessen hatte. Aber sobald ihm der erste Hauch des für Osric typischen, einzigartigen, würzigen Moschusduftes in die Nase gestiegen war, fühlte sich Jim in die alten Zeiten zurückversetzt. Damals hatten sie im Baumhaus Räuber und Polizei gespielt (selbst da hatte Osric schon immer die Rolle des Räubers übernehmen wollen), Jims Vater eine Flasche Whisky gestohlen und sich unter dem hellen Sternenhimmel kichernd ihre Geheimnisse erzählt. Eine Erinnerung nach der anderen stürmte auf Jim ein. Er dachte an die hormongeschwängerten Highschool-Zeiten. Sie hatten ein gemeinsames Projekt im Chemieunterricht aufgetragen bekommen. Jedes Mal, wenn Jim sich ein Reagenzglas nahm, hatte er heimlich an Osrics Hals geschnüffelt und seinen Duft eingeatmet, wenn er sich vorbeugte.
Was soll ich denn nur zu ihm sagen? Bitte hilf uns, Osric Tan, du bist unsere einzige Hoffnung? Wenn der erwachsene Osric genauso war wie der Teenager, dann würde er sich kaputtlachen und über die Schulter eine witzige Bemerkung zurückwerfen, während er sich aufmachte zu neuen Abenteuern.
Jim folgte der Spur von dem Chinarestaurant zu einem Apartmentgebäude. Er vermutete, dass Osric dort wohnte, aber die Spur an der Haustür war schon einige Tage alt. Verdammt. Jim dehnte seine Schultern und sah sich um. Er könnte hier warten, aber wenn Osric mitten in einem Job war, würde er vielleicht lange nicht zurückkehren.
Es sei denn ... Eine Ahnung trieb Jim zu der Hintertür des Gebäudes. Wenn Osric gerade jemanden übers Ohr haute, dann würde er sicherlich nicht so gern die gut bewachte Vordertür benutzen.
Jim hätte am liebsten laut gelacht, als er die neue Spur aufnahm—sie war nur wenige Stunden alt!—und führte die Straße hinunter. In einer kleinen Nebengasse verwandelte Jim sich schnell in seine Wolfsgestalt, um seine schärferen Sinne zu nutzen. Seine Kleidung packte er in eine magische Tasche an seiner Taille, die sich seiner schmaleren Tierfigur anpasste. Dann folgte er der Witterung.
Es kostete ihn etwas Mühe, seine Wolfsgestalt freundlich aussehen zu lassen: wedelnder Schwanz und hängende Zunge, so würde jeder ihn für einen normalen streunenden Hund halten und nicht weiter beachten.
Aber die ganze Zeit klopfte sein Herz zum Zerspringen.
Osric Tan.
Mit jedem Schritt kam er ihm näher. Jim hatte jahrelang darüber nachgedacht, was er seinem besten Freund sagen würde, wenn er ihn jemals wiedersah.
Warum hast du mich verlassen?
Warum hast du nicht daran geglaubt, dass wir den Schmerz gemeinsam überwinden und gemeinsam trauern könnten?
Von allen Seiten strömten Gerüche auf Jim ein, als er die Straße entlanglief: Abfalleimer und Tierkot, Auspuffgase und die vermischten Spuren von Hunderten von Fußgängern, die über die belebten Bürgersteige der Stadt liefen. Aber zwischen all diesen Gerüchen, wie eine glitzernde Spur inmitten des Chaos, war unverkennbar Osrics Duft. In der Hoffnung, bald Antworten zu finden, folgte Jim dieser Witterung durch das Straßennetz der Stadt bis zu den Stufen des größten städtischen Kunstmuseums.