Vom Werwolf Geraubt-1

2011 Words
Die Berggemeinde Singer Valley hatte einen schweren Winter hinter sich. Die Straßen waren nach dem Frost durchlöchert wie ein Schweizer Käse und eine der wichtigsten Zufahrtsbrücken musste gesperrt werden, weil die Tragekonstruktion von den unbarmherzigen Schneestürmen stark beschädigt worden war. Aber Werwölfe waren noch nie leicht unterzukriegen, und schon gar nicht das Rudel aus Singer Valley. Ein herzhaftes Aroma von frischem Speck-und-Tabasco-Omeletts vermischt mit dem moschusartigen Geruch eines großen Rudels von Werwölfen, zog durch das Howl Café. Jim Stewart atmete den besonderen Duft genussvoll ein und seufzte zufrieden. Der Frühling stand vor der Tür und die ersten Reparaturen der Winterschäden, die die Stadt erlitten hatte, konnten begonnen werden. Auf Jims Teller lagen die Reste eines beträchtlichen Stapels Pfannkuchen und eines großen Stücks Rhabarberkuchen. Jims Adoptivfamilie, die Huntingtons, hatte ihn auf den „Ehrenplatz“ am hinteren Ende ihrer angestammten Nische gedrängt. Die Zwillinge, Charlie und Morgan, hatten ihn von beiden Seiten eingekeilt, während Mutter Jodi und Bruder Jared die beiden Ausgänge der Nische scharf bewachten. „Du wirst diese Ehre annehmen oder ich beiße dich“, erklärte die Alphawölfin von Singer Valley, Jodi Huntington. Jodi war eine attraktive Frau von Anfang Sechzig. Die feinen Fältchen um Augen und Mund verliehen ihrem Gesicht Ausdruck und betonten ihre Klasse. Sie tippte Jim mit dem Finger auf die Brust. „Stell dich jetzt bloß nicht so an. Ich weiß, dass du gerne Alpha sein willst, genauso sehr wie ich es mir für dich wünsche.“ Jim wand sich unter ihrem Blick in seinem Stuhl und bereute es in diesem Moment sehr, dass er den sechsten Pfannkuchen auch noch verdrückt hatte, der sich jetzt in seinem Magen in einen harten Ball verwandelt hatte. Diese Frau hatte einfach immer recht. Es war schon beinahe beängstigend. „Jodi, es wird noch Jahre dauern, bis du in Rente gehst. Müssen wir es wirklich jetzt schon öffentlich bekannt machen-?“ Jodi lachte. „Natürlich müssen wir das. Setz dich gerade hin, Jimmy.“ Jim lächelte. Genau die gleichen Worte hatte sie an seinem ersten Abend zu ihm gesagt, als er vor zehn Jahren im Haus der Huntingdons angekommen war. Damals war er ein unbeholfener, fünfzehnjähriger Junge gewesen, das Gesicht noch nass von den Tränen, die er am Grab seiner Eltern vergossen hatte. Sie hatte bis tief in die Nacht bei ihm gesessen, während er versuchte, die endlose Leere auszudrücken, die er empfand. Damals war er sicher gewesen, dass diese furchtbare Leere niemals gefüllt werden könnte. Jared, der größte der Huntington Brüder, klopfte Jim hart auf die Schulter. „Nun komm schon, Jim. Du hast es verdient. Es ist ja nicht so, dass einer von uns Chaoten hier den Job haben will.“ Jareds Lächeln war dem seiner Mutter sehr ähnlich und, genau wie sie, strahlte er vor Stolz. „Dich kann man ja nun wirklich nicht als Chaoten bezeichnen“, entgegnete Jim. Jared war Besitzer des Howl Cafés—es war das Herz von Singer Valley und das einzige Restaurant in der ganzen Stadt—dadurch war Jared genauso wichtig für die Gemeinde wie ein Alpha und alle waren sich dessen bewusst. Er war ein blonder Hüne von Mann, der alle Geburtstagsfeiern, Hochzeiten und Bar Mitzwas ausrichtete und den neuesten Klatsch und Tratsch wie ein Lebenselixier aufsog. „Ja schon, aber ich bin kein Alpha. Ich liebe es, über alle Geheimnisse und Problemchen in der Stadt Bescheid zu wissen, aber ich habe keine l**t tatsächlich für Lösungen zu sorgen“, sagte Jared. Jodi brachte ihre Söhne mit einem Blick zum Schweigen. Dann sprang sie auf den Tisch, mit den Füßen zwischen Jims Teller und einer halb gegessenen Portion Eier Benedikt. Jared sammelte schnell die Teller ein und murmelte: „Was hier zu Bruch geht, wird auch bezahlt“, als seine Mutter die Arme hob, um die Aufmerksamkeit der anderen Werwölfe auf sich zu ziehen. Das Howl Café war zum Samstagsbrunch brechend voll. Es waren ungefähr fünfzig andere Rudelmitglieder anwesend, die alle begierig waren, endlich wieder die warme Sonne zu spüren. Als Jodi in die Hände klatschte, um sich Gehör zu verschaffen, wurden alle, die um die dunklen Holztische saßen still und richteten ihre Blicke auf die Alphawölfin. Jim richtete sich auf und setzte sich gerade hin. Er wusste schon seit Monaten, dass diese Ankündigung bevorstand, seit Jodi erklärt hatte, dass sie keine l**t mehr hatte, sich allein mit schwierigen Unternehmern herumzuschlagen. Als ihr ältester Sohn und Nachfolger, würde Jim genauso verantwortungsbewusst handeln wie Jodi, um zu gewährleisten, dass die Stadt sicher war. Er hoffte nur, dass er der Aufgabe auch gewachsen war. „Wölfe von Singer Valley, ich habe euch etwas Wichtiges mitzuteilen“, wandte sich Jodi an die ihr zugewendeten Gesichter. Jims Hände zitterten vor Aufregung so stark, dass er sie schnell unter dem Tisch versteckte. Es war nicht so, dass Jim den Job nicht wollte. Jodi arbeitete bereits seit fünf Jahren mit ihm, seit er seinen Abschluss als Verwaltungswirt gemacht hatte, um ihn auf seine Aufgaben als ihr Nachfolger vorzubereiten. Aber nun, als der Moment gekommen war, fühlte sich die Last der Verantwortung schwerer an, als er es erwartet hatte. Jodi strahlte in die Runde. „Wir haben den Winter ohne ernsthafte Verluste hinter uns gebracht.“ Die Leute klatschten in die Hände und einige johlten freudig. „Damit wir schnell alles wiederaufbauen können, habe ich einen Nachfolger erwählt, der euch führen wird, wenn ich entscheide, mich zur Ruhe zu setzen. Dieser Nachfolger ist mein Sohn, Jim Stewart.“ Sie deutete hinab auf Jim und der ganze Raum brach in begeisterten Applaus und Jubelrufe aus. Jim wäre am liebsten im Erdboden versunken. „Jim ist seit langer Zeit schon der beste Assistent, den ich jemals hatte. Er ist klug und aufmerksam; das Wohl der Gemeinde liegt ihm am Herzen, und er wird alles tun, um unsere Sicherheit und unseren Wohlstand zu schützen. Applaus für Jim!“ Wieder brach lauter Jubel um sie herum aus, bis die Dachbalken erzitterten und Jim die Zimmerdecke etwas nervös beobachtete. Jared, Charlie und Morgan klatschten Jim auf den Rücken und riefen ihm ermutigende Worte zu, die er über dem Tumult im Raum kaum wahrnahm. Plötzlich wurde er von Jodi hochgezogen, bis er neben seiner Adoptivmutter auf dem Tisch stand. Sein Kopf berührte fast die Decke. Eine Hitzewelle durchfuhr seine Brust und sein Gesicht, und er befürchtete, dass er feuerrot angelaufen war. Dass er vor so vielen Leuten auftreten musste, war ein Teil des Jobs, den er nicht so sehr schätzte. „Rede!“, schrie Jared, und Jim hätte seinen Bruder am liebsten erwürgt. „Rede!“, riefen auch Charlie und Morgan sofort und klatschten rhythmisch in die Hände. Die übrigen Gäste des Cafés fielen mit ein, bis das Restaurant vom Stampfen der Füße und den lauten Rufen erbebte. „Ist ja gut! Okay!“ Jim hob die Hände, um sie zum Schweigen zu bringen. Sie werden noch die ganze Hütte demolieren. Fieberhaft suchte er nach den richtigen Worten. „Vielen Dank, Leute. Es ist mir eine große Ehre und ein Privileg, den Leuten zu dienen, die so gut zu mir gewesen sind. Singer Valley ist ein magischer Ort und ich--“ Die Tür zum Howl Café wurde aufgerissen und eine riesige Frau stürmte herein. In einer Hand hielt sie ein Blatt Papier und in der anderen eine Breitaxt, die groß genug war, um Schädel mühelos zu spalten. „Ich will die Alphawölfin sehen“, brüllte die Frau wütend. Alle Köpfe im Café wandten sich in einem Ruck von der wütenden Frau zu Jodi und Jim, die noch immer auf dem Tisch standen. Mit einem geschmeidigen Satz sprang Jodi zurück zu Boden. „Was ist denn los, Beatrice?“, fragte sie ruhig, schritt durch das Café zu der Frau hin und zog sie nach draußen, um außerhalb der Hörweite der vielen neugierigen Ohren mit ihr zu sprechen. Jim lief, nicht ganz so anmutig wie Jodi, hinter den beiden her. Seine Brüder folgten ihm nach draußen vor das Restaurant, bis alle Männer der Huntingdons hinter Jodi auf dem Marktplatz Beatrice gegenüberstanden. „Er ist geplatzt.“ Beatrice war atemlos vor Wut. Sie reichte Jodi das Blatt Papier. Die Alphawölfin las das Dokument sorgfältig durch und gab es dann stumm an Jim weiter. Jodis Gesicht hatte plötzlich alle Farbe verloren. Das besagte Papier war ein Scheck für Beatrices Bauunternehmen, das die Stadt vor einigen Wochen angeheuert hatte, um die Brücke zu reparieren, die nach Singer Valley führte. „Was zieht ihr hier ab, hey?“, rief Beatrice aufgebracht. „Was soll ich davon halten, wenn ein Scheck, den die Stadt ausgestellt hat, einfach platzt?“ Jared und Jodi versuchten sofort Beatrice zu überzeugen, dass es sich nur um einen schrecklichen Irrtum handeln könnte. Jim zog sein Handy hervor, um den Kontostand des Gemeindekontos zu überprüfen. Er wurde totenbleich, als er die blinkende Null auf seinem Bildschirm erblickte. Heilige Scheiße. Jim wurde übel, als er an die endlose Liste der Reparaturen dachte, die nach dem harten Winter erforderlich waren. Er drehte sein Telefon, so dass Jodi es sehen konnte und ihre Lippen wurden schmal. Schnell griff Jodi in ihre Handtasche, zog ihr Scheckheft hervor, schrieb die vereinbarte Summe auf einen Scheck und reichte ihn Beatrice. „Hier! Das ist ein Scheck von meinem Privatkonto. Der ist ganz sicher gedeckt. Arbeitet weiter. Es handelt sich hier sicherlich um einen buchhalterischen Fehler. Wir werden die Sache klären, aber bitte arbeitet weiter und macht die Brücken der Stadt sicher. Okay?“ Beatrice zog eine Grimasse, als sie den Scheck betrachtete, dann aber drehte sich auf dem Absatz um und stürmte zur Bank. Jodi atmete tief durch und drehte sich zu ihren Söhnen um. „Irgendwelche Ideen?“, fragte sie. „Das Geld war gestern noch auf dem Konto“, sagte Jim. „Ich habe den Kontostand überprüft, bevor ich den Scheck für den neuen Generator für das Krankenhaus ausgestellt habe.“ Sein Puls fing an zu rasen, als er an die vielen Schecks dachte, die er in der letzten Woche geschrieben hatte. Die Stadt würde arge Probleme bekommen, wenn sie die Reparaturen nicht bezahlen konnten. „Ihr wisst doch genau, wer das getan hat“, knurre Jared wütend. „Die ganze Sache stinkt bis zum Himmel nach Brad.“ Brad Huntington. Der älteste Sohn der Huntingtons. Raffiniert, sehr charmant, wenn er es sein wollte, und das selbstsüchtigste und anspruchsvollste Arschloch, das Jim jemals in seinem Leben kennengelernt hatte. Jim war dankbar, dass er nicht der Erste war, der die Vermutung äußerte, dass sein entfremdeter Adoptivbruder hinter dieser miesen Sache steckte. Jodi nahm ihr Telefon und versuchte sofort ihn zu erreichen. Doch sie landete nur auf seinem Anrufbeantworter. „Verdammt. Vielleicht hast du recht.“ Jodi ließ die Schultern sinken und tiefe Sorgenfalten bildeten sich auf ihrer Stirn. Charlie und Morgan gingen zu ihrer Mutter und umarmten sie liebevoll. Sie lächelte, gab beiden einen Kuss auf die Stirn und löste sich dann sanft aus ihrer Umarmung. „Ist schon gut, ihr Lieben. Ich weiß ja, dass mein Sohn eine selbstsüchtige Ader hat, aber ich hätte nie gedacht, dass Brad zu so einer Gemeinheit fähig ist.“ „Aber das ist doch typisch Brad“, entgegnete Charlie knurrend. „Wir hätten ihm niemals vertrauen und ihm die Stelle als Kämmerer zuteilen dürfen.“ Morgan, der ruhigere der Zwillinge, nickte zustimmend. Jim sah von einem der Huntington Brüder zum anderen. Er wollte sich nicht einmischen. Sein gespanntes Verhältnis zu Brad war kein Geheimnis, weder innerhalb der Familie, noch in der Stadt. Jim war von den Huntingtons aufgenommen worden, nachdem er seine Familie verloren hatte. Brad war eifersüchtig auf die Aufmerksamkeit, die die Familie Jim zukommen ließ, und hatte es ihn bei jeder Gelegenheit spüren lassen und sich ihm gegenüber wie ein richtiges Arschloch verhalten. Jim zahlte es ihm heim, indem er sich Brads Lunchpaket vornahm und sein leckeres Sandwich durch ein mit Zahnpasta bestrichenes ersetzte. Seitdem lagen sie im Streit miteinander und es war mit den Jahren immer schlimmer geworden. „Wer hat Brad das letzte Mal gesehen und wann?“, wandte Jodi sich an ihre Söhne.
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