Kapitel 7

2444 Words
Kapitel 7 Dritte Person Zu behaupten, dass Kalea sprachlos war, wäre die Untertreibung des Jahrhunderts. Sie war völlig fassungslos, als sie ihren Lehrer sah – komplett in Rüstung gekleidet und mit einem Schwert bewaffnet. Für einen kurzen Moment wirkte er wie in der Zeit eingefroren. Doch dann erkannte Kalea, dass es Herr Scout gewesen war, der dem Schurken den Kopf abgeschlagen hatte. „Herr Scout!?“ rief Kalea überrascht aus. „Kalea...“, sagte er, während er sich aufrichtete. Sie bemerkte, dass weitere Schurken auf sie zukamen. „Steh auf und renn, verdammt nochmal!“ brüllte er mit einer solchen Autorität, dass Kalea kaum glauben konnte, dass ein einsamer Wolf diese Stärke besitzen konnte. „Was ist mit dir!?“ fragte sie, obwohl sie wusste, dass er sich verteidigen konnte. „Mach dir keine Sorgen um mich. Ich brauche dich lebend! Lauf! Hör nicht auf zu rennen. Hier bist du nicht mehr sicher. LOS, BEWEG DICH!“ Herr Scout brüllte erneut, während er einen Schurken mit seinem Schwert aufspießte. Er musste sich nicht wiederholen. Kalea sprang auf und rannte in die entgegengesetzte Richtung. Sie hörte die Schurken hinter sich näher kommen, drehte sich um und war erstaunt zu sehen, dass niemand an Herr Scout vorbeigekommen war. Keiner kam ihm näher als ein paar Meter, bevor er ihnen mit gezielten, mühelosen Bewegungen die Brust aufschlitzte oder Gliedmaßen abtrennte. Wer zum Teufel ist dieser Mann? fragte sich Kalea. Doch sie hatte keine Zeit, um darauf eine Antwort zu suchen. Kalea konzentrierte sich wieder auf das Laufen. Bevor sie es bemerkte, hatte sie bereits drei Meilen zurückgelegt. Als sie sich umsah, stellte sie fest, dass sie nicht mehr verfolgt wurde. Es schien, als hätte Herr Scout die gesamte Aufmerksamkeit der Schurken auf sich gezogen. Doch das nagende Gefühl des Schreckens ließ sie nicht los. Er hatte sein Leben riskiert, um ihres zu retten – und sie hatte keine Ahnung, warum. Kalea wusste nicht, ob die Schlacht noch andauerte oder wie viele Menschen ihr Leben verloren hatten. Sie wusste nur, dass Alpha Harding, Joshs Vater, tot war. Und das bedeutete, dass auch Joshs Mutter, Luna Mandy, allmählich zerfallen würde. Kalea konnte nicht aufhören, an ihre Eltern zu denken. Adoptiert oder nicht, sie waren ihre Eltern. Sie liebten sie wie ihr eigenes Kind und taten alles, um ihr ein gutes Leben zu ermöglichen. Nun würde sie ihre liebenden Gesichter nie wiedersehen. Sie würde nie wieder ihre Mutter beim Kochen der köstlichen Mahlzeiten beobachten, nie wieder würde sie ihren Vater stolz zu seinen Pflichten als Krieger aufbrechen sehen. Und sie würde nie wieder hören, wie er sie mit dem Spitznamen rief, den sie so sehr hasste. Kaleas Augen brannten vor Tränen, als sie realisierte, dass sie nun vollkommen allein war. Und dann fiel ihr die kleine Kiste ein. „Oh nein,“ stieß sie erschrocken hervor und wandte sich um, in Richtung des Schlachtfeldes. Sie war so sehr darauf bedacht gewesen, zu entkommen, dass sie die Kiste vergessen hatte, in der ihre Babydecke und der Brief ihres leiblichen Vaters lagen. „Verdammt!“ schrie sie und stampfte mit den Füßen auf den Boden. Sie hatte alles verloren, und das nur wegen eines Schurkenangriffs. Es war nun zu spät, um zurückzukehren. Sie musste weitermachen. Sie wusste nicht, wohin sie ging, aber sie wusste, dass sie so weit wie möglich von Silver Moon wegkommen musste. Mit Alpha Hardings Tod fragte sie sich, was nun aus Josh werden würde. Auch wenn er offiziell der Alpha war, könnte der Tod seines Vaters unvorhergesehene Konsequenzen haben. Sie fragte sich, was aus Silver Moon werden würde, wenn ein Heuchler wie Josh das Rudel führen würde. Würde Josh Cora endlich als seine Luna krönen? Es war kein Geheimnis, dass Josh mit vielen Frauen im Rudel spielte, doch Cora war immer seine Nummer Eins. „Ist diese Schlampe überhaupt noch am Leben?“ murmelte Kalea vor sich hin. Sie schüttelte diese Gedanken ab. Sie hatte keine Zeit, sich über Dinge zu sorgen, die sie nicht mehr betrafen. Sie musste sich auf das Hier und Jetzt konzentrieren. Nachdem sie zu Atem gekommen war, begann Kalea erneut zu laufen. Nach weiteren etwa vierzig Minuten erreichte sie eine abgelegene Straße. Die Gegend war öde, kein Anzeichen von Leben – weder von Mensch noch Tier. Sie blickte in beide Richtungen die Straße hinunter. Eine führte nach Westen, irgendwann durch die Rocky Mountains in Richtung Wüste. Die andere Richtung führte nach Norden nach Wyoming. Da Wyoming größtenteils unbewohnt war, entschied sie sich, nach Norden zu gehen. Leider war Kalea über und über mit Blut, Schmutz und anderen Körperflüssigkeiten bedeckt. Sie musste dringend einen Rastplatz finden, um sich einigermaßen zu säubern. Nach einigen weiteren Meilen entdeckte sie eine Tankstelle, die jedoch geschlossen war. Ein Blick auf ein Schild wies darauf hin, dass sich die Toiletten draußen hinter dem Gebäude befanden. Erleichtert ging sie dorthin. Zum Glück war die Tür unverschlossen. Kalea betrat die Toilette und war überrascht, dass sie relativ sauber war. Nicht perfekt, aber besser, als sie erwartet hatte. Doch ihre Erleichterung wich bald einer Enttäuschung, als sie feststellte, dass es kein warmes Wasser gab. Sie seufzte tief. Trotzdem blieb ihr nichts anderes übrig, als sich mit kaltem Wasser und Seife so gut es ging zu reinigen. Sie nahm ein paar Papiertücher, feuchtete sie an und begann, den Schmutz und das Blut von ihrem Gesicht und Körper zu wischen. Obwohl das Wasser eisig kalt war, fühlte sie sich nach drei Runden Waschen erfrischt. Nachdem sie sich bestmöglich gesäubert hatte, trat sie aus der Toilette. Ihr Blick fiel auf einen großen Container auf der anderen Seite der Tankstelle. Es war eine Spendenbox. Kalea schickte ein stummes Dankgebet an die Mondgöttin und eilte dorthin. Sie wühlte in den Kleidersäcken und fand saubere Kleidung, die ihr passte. Sie fand sogar einen Rucksack, der ihr erlaubte, mehr Kleidung mitzunehmen. Zufrieden zog sie sich frische Sachen an und entsorgte ihre schmutzige Kleidung. Als sie schließlich aus dem Badezimmer trat, sah sie ein Auto an der Tankstelle stehen. Ein Mann tankte Benzin. Etwas in ihr sagte ihr, dass sie versuchen sollte, um Hilfe zu bitten. Sie hatte nichts zu verlieren. Langsam und vorsichtig näherte sie sich. „Entschuldigen Sie?“ „Ja?“ Der Mann blickte auf. „Es tut mir leid, dass ich Sie störe, aber könnten Sie mir vielleicht helfen? Ich habe meine Brieftasche verloren und brauche etwas Geld für den Bus.“ „Bus? Hier gibt es keine Bushaltestellen, meilenweit!“, antwortete der Mann. „Oh. Wissen Sie, wo die nächste Bushaltestelle ist?“ „Die letzte, die ich gesehen habe, war etwa zwanzig Meilen südlich.“ „Oh, ähm, wenn es Ihnen nichts ausmacht, könnten Sie mir vielleicht ein paar Dollar geben? Ich könnte dorthin laufen und den Bus nehmen.“ „Was? Du willst zwanzig Meilen zu Fuß gehen?“ Der Mann sah sie an, als wäre sie verrückt. „Schatz, was ist los?“ Kalea hörte eine Frau aus dem Auto rufen. „Nichts, Liebling. Dieses junge Mädchen hier fragt nach Geld für den Bus.“ „Was? Aber die letzte Bushaltestelle war zwanzig Meilen zurück“, sagte die Frau und stieg aus dem Auto. „Ich weiß. Sie hat gesagt, sie würde zu Fuß gehen“, erklärte der Mann. „WAS!?“ Die Frau schaute Kalea entsetzt an. Sie schien in ihren Vierzigern zu sein und trat auf sie zu. „Oh, du arme Kleine!“ rief sie aus, als sie Kalea genauer ansah. „Wie bist du hier draußen ganz allein gelandet?“ fragte sie besorgt und hielt Kalea an den Schultern fest. Kalea schluckte schwer und blickte sich unsicher um. Das Paar war menschlich, also wie sollte sie ihnen erklären, was wirklich passiert war, ohne wie eine Verrückte zu klingen? „Ich... ähm... na ja...“, stotterte Kalea unsicher. „Schätzchen, ist dir etwas Schlimmes passiert?“ fragte die Frau sanft. Kalea nickte leicht mit dem Kopf, denn ja, etwas Furchtbares war ihr zugestoßen. „Wo ist deine Familie?“ Die Frau schaute Kalea eindringlich an, die jedoch immer noch nicht wusste, wie sie antworten sollte. „Ähm, wir waren... campen, und Wölfe haben uns angegriffen“, brachte Kalea schließlich hervor. Es war nicht ganz die Wahrheit, aber auch nicht gelogen. „Meine Eltern haben versucht, die Wölfe abzuwehren, aber sie konnten es nicht. Mein Vater nahm den größten Teil des Angriffs auf sich, während meine Mutter versuchte, mich in Sicherheit zu bringen. Doch einer der Wölfe erwischte sie.“ Kaleas Stimme zitterte leicht, als sie sprach. „Oh mein Gott! Du armes Ding!“, rief die Frau entsetzt. Sie wandte sich an den Mann. „Schatz, wir können sie unmöglich zwanzig Meilen laufen lassen, besonders nicht, wenn es gleich dunkel wird!“ „Nein, das können wir nicht“, stimmte der Mann zu. „Komm mit uns, wir bringen dich zur nächsten Bushaltestelle, junge Dame.“ „Nein, das ist wirklich nicht nötig. Ich möchte euch keine Umstände bereiten“, lehnte Kalea höflich ab und hob abwehrend die Hände. „Uns zur Last fallen?“, fragte die Frau und lachte leicht. „Mach dir darüber keine Sorgen. Wir haben eine Tochter in deinem Alter, und ich würde es nicht ertragen, sie in einer ähnlichen Situation allein zu lassen. Zwanzig Meilen sind keine große Sache. Es dauert höchstens eine halbe Stunde, und es würde uns beruhigen, dich in Sicherheit zu wissen.“ Kalea lächelte dankbar und wollte sich gerade bedanken, als ihr Magen laut zu knurren begann. Sie wurde rot vor Verlegenheit. „Schätzchen, wann hast du das letzte Mal etwas gegessen?“ fragte die Frau mitfühlend. „Ähm... gestern Nachmittag“, antwortete Kalea schüchtern. „Oh je!“, rief die Frau aus. Sie ging zurück zum Auto und kam mit einer Plastiktüte in der Hand zurück. „Ich bin so froh, dass ich eine Extra-Mahlzeit gekauft habe. Iss das hier!“ Sie hielt Kalea einen Burger hin. Kalea fühlte, wie ihr das Wasser im Mund zusammenlief, wollte jedoch ablehnen. „Nein, wirklich, es ist schon gut, ich...“ „Unsinn!“, unterbrach die Frau sie. „Du musst etwas essen, sonst fällst du uns noch um. Also iss!“ Es war klar, dass die Frau keine Widerrede duldete. Kalea nickte schließlich dankbar, nahm den Burger und begann langsam zu essen. Der Mann stellte ihr eine Wasserflasche auf den Kofferraum des Autos. Kaleas Augen füllten sich mit Tränen der Dankbarkeit, während sie den Burger in Stille aß. Nachdem sie gegessen hatte, stieg Kalea in das Auto des Paares und sie fuhren sie zwanzig Meilen zur Bushaltestelle. Als sie dort ankamen, sah Kalea, dass bereits andere Menschen auf den Bus warteten, was bedeutete, dass er bald ankommen würde. Kalea öffnete die Autotür, um auszusteigen, doch bevor sie das tat, reichte der Mann ihr ein paar Geldscheine. „Hier, nimm das“, sagte er und hielt ihr mehrere Hundert-Dollar-Scheine hin. „Nein, das kann ich wirklich nicht annehmen! Ich brauche nur fünf Dollar für den Bus!“ protestierte Kalea und versuchte, das Geld zurückzugeben. „Junge Dame“, sagte der Mann sanft, „weißt du überhaupt, wohin du gehst?“ Kalea biss sich auf die Lippe und schüttelte den Kopf. „Und was ist mit Essen oder Wasser? Wenn du nicht einmal genug Geld für den Bus hast, wie willst du dich dann unterwegs versorgen?“ Kalea schwieg. Sie wusste, dass er recht hatte. „Nimm das Geld, Schätzchen“, sagte die Frau sanft. „Es gibt uns ein gutes Gefühl, dir zu helfen.“ Kalea seufzte tief und nahm schließlich das Geld an. „Vielen Dank“, sagte sie aufrichtig. „Ihr habt keine Ahnung, was das für mich bedeutet. Ich hoffe, dass ich mich eines Tages revanchieren kann.“ „Uns zurückzahlen?“, sagte die Frau lächelnd. „Pass einfach die Güte weiter, wenn du kannst.“ Kalea nickte, lächelte und stieg aus dem Auto. Sie winkten sich zum Abschied zu, bevor das Paar davonfuhr. Kalea ging zur Bushaltestelle, kaufte sich ein Ticket und setzte sich in die Nähe der anderen Wartenden. Zum Glück sprach niemand ein Wort, und Kalea ließ sich gegen die Plexiglasscheibe des Wartehäuschens sinken. Während sie dort saß, dachte sie über ihre Zukunft nach. Würde sie einen Job finden müssen? Wie sollte sie das anstellen, ohne jegliche Erfahrung? Vielleicht könnte sie sich einem neuen Rudel anschließen, aber da sie weggelaufen war, galt sie nun als Vagabundin. Könnte mein Leben noch schlimmer werden?, dachte sie verzweifelt. Herr Scout Nachdem der Kampf vorbei war, wanderte ich durch das Gebiet des Rudels und sah nichts als Tod und Zerstörung. Was auch immer diese Schurken dazu veranlasst hatte, anzugreifen, sie hatten genug Männer mitgebracht, um Silver Moon vollständig zu vernichten. Alle überlebenden Schurken flohen, um ihre Haut zu retten. Aber das bedeutete nicht, dass Silver Moon gewonnen hatte. Ihr ehemaliger Alpha war tot. Und nun würde sein jämmerlicher Nachfolger das Rudel allein führen müssen. Das Problem war, dass er seine Seelengefährtin abgelehnt und fast drei Jahre lang darüber gelogen hatte. Kalea war auch verschwunden. Ich würde ihre Spur aufnehmen und sie finden müssen, aber zuerst musste ich der Königin Bericht erstatten. Nachdem ich die Verletzten versorgt und die Toten gezählt hatte, war ich entsetzt. Die Schurken hatten über drei Viertel des Rudels getötet. Das bedeutete, dass sie von etwa 300 Mitgliedern auf weniger als 100 geschrumpft waren. Ich ging an den Zelten vorbei, in denen die Verletzten behandelt wurden, und sah den jungen Alpha selbst dort sitzen. Als ich vorbeiging, hörte ich seine wütenden Worte. „WAS MEINST DU DAMIT, IHR KÖNNT SIE NICHT FINDEN!?“ „Sie ist nirgends zu finden. Einige sagen, sie war es, die alle vor den Schurken gewarnt hat. Sie hat versucht, uns zu warnen, aber niemand hat ihr geglaubt. Wenn sie uns nicht gewarnt hätte und auf das Rudelhaus zugerannt wäre, hätten wir vielleicht alle verloren.“ Ich blickte hinein und sah den jungen Beta, der mit ihm sprach. Diese beiden waren seit ihrer Jugend unzertrennlich. „Wo zur Hölle ist sie dann!?“ „Warum kümmert es dich überhaupt? Du hasst sie doch genauso sehr wie wir.“ „Weil sie meine Gef...“, er brach ab und biss sich auf die Zunge. „Sie ist was von dir!?“ Der junge Alpha und sein Beta sahen mich an. Ich konnte die Unruhe in Joshs Augen sehen. Ich kannte die Wahrheit, und es schien, als wollte er sie endlich aussprechen. Er schluckte schwer und führte offenbar einen inneren Kampf. „Junger Alpha Harding, was wolltest du gerade sagen?“ fragte ich erneut und setzte meine Autorität durch. „Kalea... sie ist meine Gefährtin.“
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