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1943 Words
In der zweiten Minute steigerte sich die Haßovation zur Raserei. Die Menschen sprangen von ihren Sitzen auf und schrien mit vollem Stimmaufwand, um die zum Wahnsinn treibende Blökstimme, die aus dem Televisor kam, zu übertönen. Die kleine aschblonde Frau war im Gesicht rot angelaufen, und ihr Mund öffnete und schloß sich wie bei einem an Land geworfenen Fisch. Sogar O'Briens großes Gesicht war gerötet. Er saß sehr gerade aufgerichtet auf seinem Stuhl, seine mächtige Brust hob und senkte sich, als stemme er sich dem Anprall einer Woge entgegen. Das dunkelhaarige Mädchen hinter Winston hatte angefangen »Schwein! Schwein! Schwein!« hinauszuschreien und ergriff plötzlich ein schweres Wörterbuch der Neusprache und schleuderte es gegen den Sehschirm. Es traf Goldsteins Nase und prallte von ihm ab; die Stimme redete unerbittlich weiter. In einem lichten Augenblick ertappte sich Winston, wie er mit den anderen schrie und trampelte. Das Schreckliche an der Zwei-Minuten-Haß-Sendung war nicht, daß man gezwungen wurde mitzumachen, sondern im Gegenteil, daß es unmöglich war, sich ihrer Wirkung zu entziehen. Eine schreckliche Ekstase der Angst und der Rachsucht, das Verlangen zu töten, zu foltern, Gesichter mit einem Vorschlaghammer zu zertrümmern, schien die ganze Versammlung wie ein elektrischer Strom zu durchfluten, so daß man gegen seinen Willen in einen Grimassen schneidenden, schreienden Verrückten verwandelt wurde. Und doch war der Zorn, den man empfand, eine abstrakte, ziellose Regung, die wie der Schein einer Blendlaterne von einem Gegenstand auf den anderen gerichtet werden konnte. So war für einen Augenblick der Haß Winstons durchaus nicht gegen Goldstein gerichtet, sondern im Gegenteil gegen den Großen Bruder, gegen die Partei und die Gedankenpolizei. Und in solchen Augenblicken schwoll sein Herz über für den einsamen, verachteten Abtrünnigen auf dem Sehschirm, diesen einzigen Verfechter von Wahrheit und Vernunft in einer Welt der Lügen. Und doch fühlte er sich im nächsten Augenblick wieder eins mit den ihn umgebenden Menschen, und alle Behauptungen über Goldstein schienen ihm wahr. In solchen Augenblicken verwandelte sich seine geheime Abneigung gegen den Großen Bruder in Verehrung, und der Große Bruder schien dazustehen als ein unbesieglicher, furchtloser Beschützer, der sich wie ein Felsen gegen die anbrandenden asiatischen Horden stemmte, während Goldstein ihm trotz seiner Vereinsamung, seiner Hilflosigkeit und der Zweifel, die sich allein schon an sein tatsächliches Vorhandensein knüpften, wie ein unheilvoller Betörer vorkam, der es lediglich durch die Macht seiner Stimme fertig brachte, die Fundamente der Zivilisation zu zerstören. In manchen Augenblicken war es sogar möglich, seinen Haß durch einen Willensakt da oder dorthin zu lenken. So gelang es Winston plötzlich, durch eine heftige Anstrengung, ähnlich der, mit der man in einem Alptraum seinen Kopf vom Kissen losreißt, seinen Haß von dem Gesicht auf dem Sehschirm auf das hinter ihm sitzende dunkelhaarige Mädchen zu übertragen. Lebhafte, berückende Vorstellungen huschten ihm durch den Sinn. Er würde sie mit einem Gummiknüppel zu Tode prügeln, sie nackt an einen Pfahl binden und sie mit Pfeilen durchlöchern, gleich dem heiligen Sebastian. Er würde sie vergewaltigen und ihr im Augenblick der höchsten Lust die Kehle durchschneiden. Deutlicher als zuvor war er sich auch bewußt, warum er sie haßte. Er haßte sie, weil sie jung, hübsch und geschlechtslos war, weil er mit ihr ins Bett gehen wollte und daraus nie etwas werden würde, denn um ihre reizende, biegsame Taille, die einen zur Umarmung aufzufordern schien, wand sich nur die verhexte scharlachrote Schärpe, das aufreizende Symbol der Keuschheit. Die Haßwelle erreichte ihren Höhepunkt. Goldsteins Stimme war tatsächlich zu einem Blöken geworden, und einen Augenblick lang verwandelte sich sein Gesicht in das eines Schafes. Dann blendete das Schafsgesicht in die Gestalt eines eurasischen Soldaten über, der riesig und furchtbar mit ratternder Maschinenpistole auf den Besucher zuzuschreiten und aus der Fläche des Sehschirms herauszuspringen schien, so daß manche der Zuschauer in der ersten Reihe auf ihren Sitzen zurückprallten. Aber im gleichen Augenblick, während jedem Munde ein tiefer Seufzer der Erleichterung entfuhr, zerschmolz die feindliche Gestalt in das Gesicht des Großen Bruders mit seinen dunklen Haaren und seinem Schnurrbart, das Macht und geheimnisvolle Ruhe ausstrahlte und mit seiner riesigen Größe fast den ganzen Sehschirm ausfüllte. Niemand verstand, was der Große Bruder sagte. Es waren nur ein paar Worte der Ermutigung, Worte, wie sie im Kampflärm einer Schlacht ausgestoßen werden, nicht im einzelnen unterscheidbar, die aber einfach dadurch, daß sie ausgesprochen werden, die Zuversicht wiederherstellen. Dann zerrann das Gesicht des Großen Bruders wieder, und statt seiner erschienen in klaren großen Buchstaben die drei Parteiwahlsprüche: KRIEG BEDE U TE T F R IE DEN F R EI H E IT I S T S K L A VE R E I UNWI SSEN H EIT IS T S T ÄRKE Aber das Gesicht des Großen Bruders schien sich noch einige Sekunden auf dem Sehschirm zu behaupten, so als sei der Eindruck, den es auf der Netzhaut aller Zuschauer hervorgebracht hatte, zu lebhaft, um sogleich zu verlöschen. Die kleine Frau hatte sich über die Lehne des vor ihr stehenden Stuhles nach vorne geworfen. Mit einem bebenden Flüstern, das wie »Mein Retter!« klang, breitete sie die Arme dem Sehschirm entgegen. Dann barg sie ihr Gesicht in den Händen. Offensichtlich sprach sie ein Gebet. Jetzt stimmten alle Versammelten einen kraftvollen, langsamen und rhythmischen Sprechchor an: »G­ B! . . . G-B! . . . G-B!« – wieder und immer wieder, sehr langsam, mit einer langen Pause zwischen dem ersten G und dem zweiten B – in einem feierlichen, murmelnden, seltsam ungestüm wirkenden Ton, so daß man als Begleitung das Stampfen nackter Füße und das dumpfe Dröhnen von Tamtams zu hören glaubte. Vielleicht dreißig Sekunden lang fuhren sie damit fort. Es war ein Refrain, den man oft in Augenblicken überwältigender Erregung hörte. Zum Teil war es eine Art Hymne auf die Weisheit und Majestät des Großen Bruders, mehr aber noch ein Akt der Selbsthypnose, ein absichtliches Übertönen des Bewußtseins durch das Mittel rhythmischen Lärms. Winston fühlte eine Kälte in seinen Eingeweiden. Während der Zwei-Minuten-Haß-Sendung konnte er nicht umhin, gleichfalls dem allgemeinen Delirium anheim zufallen, aber dieser unmenschliche Singsang »G-B! . . . G-B!« . . . erfüllte ihn immer mit Abscheu. Natürlich stand er den übrigen nicht nach; etwas anderes wäre unmöglich gewesen. Seine Gefühle zu verschleiern, sein Gesicht zu beherrschen, zu tun, was jeder tat, gebot schon der Instinkt. Aber es gab eine Zeitspanne von einigen Sekunden, in der ihn der Ausdruck seiner Augen in bedenklicher Weise hätte verraten können. Und genau in diesem Augenblick ereignete sich das Bedeutsame – wenn es sich wirklich ereignete. Er fing flüchtig O'Briens Blick auf. O'Brien war aufgestanden. Er hatte seine Brille abgenommen und war gerade im Begriff, sie wieder mit seiner charakteristischen Geste aufzusetzen. Aber dazwischen lag der Bruchteil einer Sekunde, währenddessen sich ihre Augen begegneten, und in diesem winzigen Zeitraum wußte Winston – ja, er wußte es! –, daß O'Brien das gleiche dachte wie er. Eine unmißverständliche Botschaft war zwischen ihnen ausgetauscht worden. Es war, als hätten ihre beiden Denkwelten sich aufgetan und als strömten durch ihre Augen die Gedanken von dem einen in den anderen über. »Ich halte es mit dir«, schien O'Brien zu ihm zu sagen. »Ich weiß genau, was in dir vorgeht. Ich kenne deine ganze Verachtung, deinen Haß, deinen Abscheu. Aber hab keine Angst, ich stehe auf deiner Seite!« – Dann war der Blitz des Einverständnisses erloschen, und O'Briens Gesicht war ebenso undurchdringlich wie das aller anderen. Das war alles gewesen, und er war schon nicht mehr sicher, ob es sich wirklich zugetragen hatte. Derartige Zwischenfälle hatten nie eine Fortsetzung. Sie hielten lediglich den Glauben – oder die Hoffnung – in ihm lebendig, daß es außer ihm noch andere Feinde der Partei gab. Vielleicht waren die Gerüchte von großen Untergrundverschwörungen doch wahr – vielleicht existierte »Die Brüderschaft« wirklich! Trotz der endlosen Verhaftungen, Geständnisse und Hinrichtungen konnte man nie sicher sein, daß »Die Brüderschaft« nicht lediglich eine sagenhafte Erfindung war. An manchen Tagen glaubte er daran, an anderen nicht. Es gab keinen greifbaren Beweis, nur flüchtige Andeutungen, die alles oder nichts bedeuten konnten: Bruchstücke erlauschter Gespräche, verwischte Aufschriften an Abortwänden – oder einmal, wenn zwei Freunde sich trafen, eine kleine Bewegung der Hände, die einem Verständigungszeichen ähnlich sah. Alles war nur eine Mutmaßung: sehr wahrscheinlich hatte er sich das alles nur eingebildet. Er war an seinen Arbeitsplatz zurückgegangen, ohne O'Brien noch einmal anzusehen. Der Gedanke, ihre kurze Fühlungnahme weiter zu verfolgen, war ihm kaum durch den Sinn gegangen. Es wäre unvorstellbar gefährlich gewesen, selbst wenn er gewußt hätte, wie er das machen sollte. Eine oder zwei Sekunden lang hatten sie einen zweideutigen Blick getauscht – und damit Schluß. Aber sogar das war ein denkwürdiger Augenblick in der abgeschlossenen Einsamkeit, in der man zu leben gezwungen war. Winston rappelte sich hoch und setzte sich gerade. Er mußte rülpsen. Der Gin rumorte in seinem Magen. Sein Blick richtete sich wieder auf das Blatt. Er entdeckte, daß er, während er in hilflosem Grübeln dagesessen, gleichzeitig automatisch weitergeschrieben hatte. Und zwar war es nicht mehr die gleiche verkrampfte Handschrift von vorhin. Seine Feder war beschwingt über das glatte Papier geglitten und hatte in großer klarer Blockschrift hingemalt: NI E D ER MI T DE M G R OS S E N BR UDER NI E D ER MI T DE M G R OS S E N BR UDER NI E D ER MI T DE M G R OS S E N BR UDER immer wieder, fast über eine halbe Seite hinweg. Unwillkürlich durchzuckte ihn ein furchtbarer Schrecken. Das war im Grunde töricht, denn das Niederschreiben gerade dieser Worte war nicht gefährlicher als der erste Schritt, ein Tagebuch anzulegen; und doch fühlte er sich einen Augenblick lang versucht, die beschriebenen Seiten herauszureißen und die ganze Sache aufzugeben. Er tat es jedoch nicht, weil er wußte, daß es zwecklos war. Ob er nieder mit dem Großen Bruder hinschrieb oder nicht, machte keinen Unterschied. Ob er mit dem Tagebuch fortfuhr oder nicht, machte keinen Unterschied. Die Gedankenpolizei würde ihn trotzdem erwischen. Er hatte – auch wenn er nie die Feder angesetzt hätte – das Kapitalverbrechen begangen, das alle anderen in sich einschloß. Gedankenverbrechen nannten sie es. Gedankenverbrechen konnte man auf die Dauer nicht geheim halten. Man konnte vielleicht eine Weile, oder sogar Jahre lang, schlaue Winkelzüge machen, aber früher oder später kamen sie einem doch darauf. Immer war es nachts – die Verhaftungen fanden unabänderlich nachts statt. Das plötzliche Hochfahren aus dem Schlaf, die derbe Hand, die einen an der Schulter packte, die Lichter, die einem die Augen blendeten, der Kreis harter Gesichter um das Bett. In der überragenden Mehrzahl der Fälle fand keine Gerichtsverhandlung statt, kein Bericht meldete die Verhaftung. Die Menschen verschwanden einfach, immer mitten in der Nacht. Der Name wurde aus den Listen gestrichen, jede Aufzeichnung von allem, was einer je getan hatte, wurde vernichtet; daß man jemals gelebt hatte, wurde erst geleugnet und dann vergessen. Man war ausgelöscht, zu nichts geworden; man wurde vaporisiert , wie das gebräuchliche Wort dafür lautete. Einen Augenblick überfiel ihn eine Art Nervenkrise. Er begann in fliegendem, krakeligem Gekritzel zu schreiben: »sie werden mich erschießen wenn ich nicht aufpasse sie werden mich mit einem genickschuß erschießen wenn ich nicht aufpasse nieder mit dem großen bruder sie erschießen einen immer mit genickschuß mir ist es egal nieder mit dem großen bruder –« Er lehnte sich in seinen Stuhl zurück, ein wenig beschämt über sich selbst, und legte den Federhalter hin. Im nächsten Augenblick fuhr er heftig zusammen. Es klopfte jemand an die Tür. Schon! Er saß mucksmäuschenstill da, in der vergeblichen Hoffnung, der Draußenstehende könnte nach einem einmaligen Versuch weggehen. Aber nein, das Klopfen wurde wiederholt. Das Schlimmste, was er tun konnte, war zu zögern. Sein Herz klopfte wie eine Pauke, aber sein Gesicht war, vermutlich aus langer Gewohnheit, ganz ausdruckslos. Er stand auf und ging schweren Schrittes zur Tür.
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