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2139 Words
Für wen, fragte er sich plötzlich, legte er dieses Tagebuch an? Für die Zukunft, für die Kommenden. Sein Denken kreiste einen Augenblick um das zweifelhafte Datum auf der ersten Seite und prallte dann jäh mit dem Wort Zwiegedanke aus der Neusprache zusammen. Zum erstenmal kam ihm die Größe seines Vorhabens zum Bewußtsein. Wie konnte man sich mit der Zukunft verständigen? Das war ihrer Natur nach unmöglich. Entweder ähnelte die Zukunft der Gegenwart, dann würde man ihm nicht Gehör schenken wollen; oder sie war anders geartet, dann war seine Darstellung bedeutungslos. Eine Zeitlang saß er da und starrte töricht auf das Papier. Der Televisor hatte jetzt schmetternde Militärmusik angestimmt. Es war seltsam, daß er nicht nur die Gabe der Mitteilung verloren, sondern sogar vergessen zu haben schien, was er ursprünglich hatte sagen wollen. Seit Wochen hatte er sich auf diesen Augenblick vorbereitet, und es war ihm nie in den Sinn gekommen, daß dazu noch etwas anderes nötig sein könnte als Mut. Die Niederschrift als solche hatte er für leicht gehalten. Brauchte er doch nichts weiter zu tun, als die endlosen hastigen Selbstgespräche zu Papier zu bringen, die ihm buchstäblich seit Jahren durch den Kopf geschossen waren. In diesem Augenblick jedoch war sogar das Selbstgespräch verstummt. Außerdem hatte das Ekzem an seinen Krampfadern unerträglich zu jucken angefangen. Er wagte nicht, daran zu kratzen, denn dann entzündete es sich immer. Die Sekunden verstrichen. Nichts drang in sein Bewußtsein als die unbeschriebene Weiße des vor ihm liegenden Blattes, das Hautjucken über seinem Knöchel, die schmetternde Musik und eine leise Benebeltheit, die der Gin verursacht hatte. Plötzlich begann er überstürzt zu schreiben, ohne recht zu wissen, was er zu Papier brachte. Seine kleine kindliche Handschrift bedeckte Zeile um Zeile des Blattes, wobei er bald auf die großen Anfangsbuchstaben und zum Schluß sogar auf die Interpunktion verzichtete: »4. April 1984. Gestern Abend im Kino. Lauter Kriegsfilme. Ein sehr guter, über ein Schiff von Flüchtlingen, das irgendwo im Mittelmeer bombardiert wird. Zuschauer höchst belustigt durch eine Aufnahme von einem großen dicken Mann, den ein Helikopter verfolgt, zuerst sah man ihn sich durchs Wasser wälzen wie ein Nilpferd, dann sah man ihn durch das Zielfernrohr des Hubschraubers, dann war er ganz durchlöchert und das Meer rund um ihn färbte sich rosa, und er versank so plötzlich, als sei das Wasser durch die Löcher eingedrungen. Zuschauer brüllten vor lachen als er unterging. Dann sah man ein Rettungsboot voll kinder mit einem hubschrauber darüber, eine frau mittleren Alters, vielleicht eine Jüdin, saß mit einem etwa drei jähre alten knaben im bug. Kleiner junge brüllte vor angst und verbarg seinen kopf zwischen den brüsten als wollte er ganz in sie hineinkriechen und die frau legte die arme um ihn und tröstete ihn. obwohl sie selbst außer sich vor angst war bedeckte sie ihn so gut wie möglich als glaubte sie ihre arme könnten die kugeln von ihm abhalten, dann warf der hubschrauber eine 20-kilo-bombe zwischen sie schreckliches aufblitzen und das ganze schiff zersplitterte wie streichhölzer, dann gab es eine wundervolle aufnahme von einem kinderarm der hoch, hoch und immer höher hinauffliegt in die luft ein hubschrauber mit einer kamera vorn in der kanzel muß ihm nachgeflogen sein und es gab viel beifall aus den parteilogen aber eine frau unten wo die proles sitzen fing plötzlich an radau zu machen und zu schreien man hätte so was nicht vor kindern zeigen sollen es sei nicht recht vor kindern bis die polizei sie hinauswarf ich glaube nicht daß ihr etwas passierte niemand kümmert sich darum was die proles sagen typische prolesreaktion sie können nie –« Winston hörte zu schreiben auf, auch weil er einen Schreibkrampf bekam. Er wußte nicht, was ihn veranlaßt hatte, diese Flut von Gestammel aus sich herauszuschleudern. Aber das merkwürdige war, daß ihm dabei eine vollständige Erinnerung so deutlich zum Bewußtsein gekommen war, daß es ihm fast so vorkam, als habe er sie niedergeschrieben. Nun erkannte er, daß dieser andere Vorfall an seinem plötzlichen Entschluß schuld war, nach Hause zu gehen und heute sein Tagebuch zu beginnen. Dieser Vorfall hatte sich heute morgen im Ministerium zugetragen, wenn man von etwas so Nebelhaftem überhaupt sagen konnte, daß es sich zugetragen hat. Es war kurz vor elf, und in der Registrierabteilung, in der Winston arbeitete, hatte man die Stühle aus den Gemeinschaftsräumen geholt und sie in der Mitte des Saales dem großen Televisor gegenüber aufgestellt, in Vorbereitung auf die Zwei-Minuten-Haß-Sendung . Winston nahm gerade seinen Platz in einer der Mittelreihen ein, als zwei Personen, die er vom Sehen kannte, mit denen er aber noch nie ein Wort gewechselt hatte, unerwartet in den Raum traten. Die eine davon war ein Mädchen, dem er oft auf den Gängen begegnet war. Er kannte ihren Namen nicht, wußte aber, daß sie in der Abteilung für Prosa-Literatur beschäftigt war. Vermutlich – denn er hatte sie manchmal mit ölverschmierten Händen und mit einem Schraubenschlüssel gesehen – hatte sie dort eine technische Funktion an einer der Romanschreibmaschinen. Sie war ein unternehmungslustig aussehendes Mädchen von etwa siebenundzwanzig Jahren, mit üppigem schwarzen Haar, sommersprossigem Gesicht und raschen, muskulösen Bewegungen. Eine schmale, scharlachrote Schärpe, das Abzeichen der Jugendliga gegen Sexualität , war mehrmals um die Taille ihres Trainingsanzuges gewunden, gerade eng genug, um die Rundung ihrer Hüften hervorzuheben. Winston hatte sie vom aller ersten Augenblick an nicht ausstehen können. Er wußte auch, weshalb. Es war wegen der Atmosphäre von Hockeyplatz, kaltem Baden, Gemeinschaftswanderung und allgemeiner Gesinnungstüchtigkeit, mit der sie sich zu umgeben wußte. Die Frauen, und vor allem die jungen, gaben immer die blind ergebenen Parteianhänger, die gedankenlosen Nachplapperer, die freiwilligen Spitzel ab, mit deren Hilfe man weniger Linientreue aushorchen konnte. Aber dieses Mädchen im besonderen machte ihm den Eindruck, gefährlicher als die meisten zu sein. Einmal, als sie auf dem Gang aneinander vorbeigekommen waren, hatte sie ihn mit einem Seitenblick gestreift, der ihn zu durchbohren schien und der ihn für einen Augenblick mit blankem Entsetzen erfüllt hatte. Ihm war sogar der Gedanke durch den Kopf gegangen, sie könnte eine Agentin der Gedankenpolizei sein, was freilich sehr unwahrscheinlich war. Trotzdem fühlte er weiterhin, sooft sie in seine Nähe kam, eine merkwürdige Unsicherheit, die zu gleichen Teilen mit Angst und mit Feindschaft gemischt war. Die andere Person war ein Mann namens O'Brien, ein Mitglied der Inneren Partei und Inhaber eines so wichtigen und der Allgemeinheit entrückten Postens, daß Winston nur eine undeutliche Vorstellung davon hatte. Ein kurzes Geflüster durchlief die um die Stühle herumstehende Gruppe, als sie den schwarzen Trainingsanzug eines Mitglieds der Inneren Partei herankommen sah. O'Brien war ein großer, grobschlächtiger Mann mit dickem Nacken und einem derben, humorvollen und brutalen Gesicht. Ungeachtet seines wuchtigen Äußeren lag ein gewisser Charme in seiner Art, sich zu bewegen. Er hatte eine Manier, seine Brille auf der Nase zurechtzurücken, die seltsam entwaffnend und auf eine merkwürdige Weise zivilisiert wirkte. Es war eine Geste, die einen, wenn überhaupt noch jemand in solchen Begriffen gedacht hätte, an einen Edelmann aus dem achtzehnten Jahrhundert hätte erinnern können, der seinem Gegenüber die Schnupftabaksdose anbot. Winston hatte O'Brien vielleicht ein Dutzend Mal in etwa ebenso vielen Jahren gesehen. Er fühlte sich aufrichtig zu ihm hingezogen, und das nicht nur, weil ihn der Gegensatz zwischen O'Briens höflichen Manieren und seinem Preisboxertypus fesselte. Es beruhte vielmehr auf einem heimlich gehegten Glauben – oder vielleicht nur der Hoffnung –, daß O'Briens politische Strenggläubigkeit nicht vollkommen sei. Etwas in seinem Gesicht flößte unwiderstehlich diesen Gedanken ein. Und doch stand in diesem Gesicht eigentlich weniger mangelnde Strenggläubigkeit als einfach Intelligenz geschrieben. Jedenfalls sah er wie ein Mensch aus, mit dem man reden konnte, wenn man es fertig brachte, dem Televisor ein Schnippchen zu schlagen, und ihn allein zu fassen bekam. Winston hatte nie den geringsten Versuch gemacht, seine Vermutung auf ihre Richtigkeit hin zu prüfen: praktisch gab es auch keine Möglichkeit dazu. O'Brien warf in diesem Augenblick einen Blick auf seine Armbanduhr, sah, daß es fast elf Uhr war, und beschloß offenbar, in der Abteilung Registratur zu bleiben, bis die Zwei-Minuten-Haß-Sendung zu Ende war. Er setzte sich auf einen Stuhl in derselben Reihe wie Winston, zwei Plätze von ihm entfernt. Eine kleine aschblonde Frau, die in der Abteilung neben Winston beschäftigt war, saß zwischen ihnen . . . Das Mädchen mit dem schwarzen Haar saß unmittelbar dahinter. Im nächsten Augenblick brach ein scheußlicher, knirschender Kreischlaut, als ob eine riesige Maschine völlig ungeölt liefe, aus dem großen Televisor am Ende des Raumes hervor. Es war ein Lärm, bei dem einen eine Gänsehaut überlief und sich die Nackenhaare sträubten. Die Haß-Sendung hatte begonnen. Wie gewöhnlich war das Gesicht Immanuel Goldsteins, des Volksfeinds, auf dem Sehschirm erschienen. Da und dort im Zuschauerraum wurde gezischt. Die kleine aschblonde Frau stieß ein aus Furcht und Abscheu gemischtes Quieken hervor. Goldstein war der Renegat, der große Abtrünnige, der früher einmal, vor langer Zeit (wie lange Zeit es eigentlich war, daran erinnerte sich niemand mehr genau), einer der führenden Männer der Partei gewesen war und fast auf einer Stufe mit dem Großen Bruder selbst gestanden hatte, um dann mit konterrevolutionären Machenschaffen zu beginnen, zum Tode verurteilt zu werden und auf geheimnisvolle Weise zu verschwinden. Die Programme der Zwei-Minuten-Haß-Sendung wechselten von Tag zu Tag, aber es gab keines, in dem nicht Goldstein die Hauptrolle gespielt hätte. Er war der erste Verräter, der früheste Beschmutzer der Reinheit der Partei. Alle später gegen die Partei gerichteten Verbrechen, alle Verrätereien, Sabotageakte, Ketzereien, Abweichungen gingen unmittelbar auf seine Irrlehren zurück. Irgendwo lebte er noch und schmiedete seine Ränke: vielleicht irgendwo jenseits des Meeres, unter dem Schutz seiner ausländischen Geldgeber, vielleicht sogar – wie gelegentlich gemunkelt wurde – in einem Versteck in Ozeanien selbst. Winstons Zwerchfell zog sich zusammen. Nie konnte er das Gesicht Goldsteins sehen, ohne in einen schmerzlichen Widerstreit der Gefühle zu geraten. Es war ein mageres jüdisches Gesicht mit einem breiten, wirren Kranz weißer Haare und einem Ziegenbärtchen – ein kluges und doch irgendwie eigentümlich verächtliches Gesicht, dessen lange dünne Nase, auf deren Ende eine Brille saß, eine Art seniler Blödheit auszustrahlen schien. Es ähnelte einem Schafsgesicht, und auch die Stimme hatte etwas Schafsmäßiges. Goldstein ließ seinen üblichen giftigen Angriff gegen die Lehren der Partei vom Stapel – einen so übertriebenen und verdrehten Angriff, daß ihn ein Kind hätte durchschauen können, und doch gerade hinreichend glaubhaft, um einen mit dem alarmierenden Gefühl zu erfüllen, daß andere Menschen, die weniger vernünftig waren als man selbst, sich dadurch vielleicht verführen lassen könnten. Er schmähte den Großen Bruder, klagte die Diktatur der Partei an, forderte sofortigen Friedensschluß mit Eurasien, trat für Rede-, Presse-, Versammlungs- und Gedankenfreiheit ein, schrie hysterisch, die Revolution sei verraten worden – und alles das in einer überstürzten, vielsilbigen Ansprache, die eine Art Parodie des üblichen Stils der Parteiredner war und sogar einige Worte der Neusprache enthielt: praktisch mehr Neusprach-Worte, als irgendein Parteimitglied normalerweise im wirklichen Leben angewendet hätte. Und die ganze Zeit marschierten, für den Fall, daß man noch im geringsten Zweifel sein könnte, was sich in Wahrheit hinter Goldsteins widerlicher Phrasendrescherei verbarg, hinter seinem Kopf auf dem Schirm des Televisors die endlosen Kolonnen der eurasischen Armee vorbei – endlose Reihen kräftig aussehender Männer mit ausdruckslosen asiatischen Gesichtern, die an die Oberfläche des Sehschirms heranbrandeten und wieder zerflossen, um von anderen, genau gleichen, abgelöst zu werden. Der sture rhythmische Marschtritt der Soldatenstiefel bildete die Geräuschkulisse, von der Goldsteins blökende Stimme sich abhob. Ehe die Haßovation dreißig Sekunden gedauert hatte, brachen von den Lippen der Hälfte der im Raum versammelten Menschen unbeherrschte Wutschreie. Das selbstzufriedene Schafsgesicht auf dem Sehschirm und die erschreckende Wucht der dahinter vorbeiziehenden eurasischen Armee waren einfach zuviel: außerdem weckte der Anblick oder auch nur der Gedanke an Goldstein schon automatisch Angst und Zorn. Er war ein dauerhafteres Haßobjekt als Eurasien oder Ostasien, denn wenn Ozeanien mit einer dieser Mächte im Krieg lag, so befand es sich gewöhnlich mit der anderen im Friedenszustand. Das merkwürdige aber war, daß Goldsteins Einfluß, wenn er auch von jedermann gehaßt und verachtet wurde, wenn auch tagtäglich und tausendmal am Tag auf Rednertribünen, durch den Televisor, in Zeitungen, in Büchern seine Theorien verdammt, zerpflückt, lächerlich gemacht, der Allgemeinheit als der jammervolle Unsinn, der sie waren, vor Augen gehalten wurde – daß trotz alledem dieser Einfluß nie abzunehmen schien. Immer wieder warteten neue Opfer darauf, von ihm verführt zu werden. Nie verging ein Tag, an dem nicht nach seinen Weisungen tätige Spione und Saboteure von der Gedankenpolizei entlarvt wurden. Er war der Befehlshaber einer großen Schatten-Armee, eines Untergrund-Verschwörernetzes, das sich den Sturz der Regierung zum Ziel setzte. Der Name der Organisation sei »Die Brüderschaft« , so hieß es. Auch flüsterte man von einem schrecklichen Buch, einer Zusammenfassung aller Irrlehren, dessen Verfasser Goldstein war und das heimlich da und dort zirkulierte. Es war ein Buch ohne Titel. Die Leute sprachen davon, wenn überhaupt, einfach als von »dem Buch« . Aber man wußte von derlei Dingen nur durch vage Gerüchte. Weder »Die Brüderschaft« noch »das Buch« wurde, wenn es sich vermeiden ließ, von einem gewöhnlichen Parteimitglied erwähnt.
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