Kapitel 1

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Kapitel 1 Heute: Paul strich mit seinen Fingern über die Brandspuren. Er war in den letzten sechs Monaten dutzende Male hier gewesen. Und er würde nicht aufgeben. Er war derjenige gewesen, der die Hütte gefunden hatte, acht Kilometer hinter der Stelle, wo die Straße endete. Und er hatte die erste von vier Leichen gefunden, die dort begraben gewesen waren. Bei der Erinnerung verkrampfte sich sein Magen. Als Trisha nicht wie versprochen bei ihm erschienen war, hatte er sie angerufen. Sie beantwortete seine Anrufe immer, wenn sie konnte. Wenn sie einander verpassten, riefen sie sich zurück, sobald sie konnten, egal ob Tag oder Nacht. Zwei Tage später hatte er einen Anruf von der Polizei des Staates Kalifornien erhalten. Trisha und ein paar andere Frauen wurden vermisst. Sie war nicht von einem Flug für Boswell International zurückgekehrt. Der Test-Jet stand immer noch auf der Startbahn in Shelby, Kalifornien. Er war die ganze Nacht durchgefahren, um dorthin zu kommen. Auf einem neuen Überwachungssystem war zu erkennen, was auf dem schwach beleuchteten Parkplatz passiert war. Der örtliche Sheriff hatte Abby Tanner, eine Künstlerin, die seine Tochter und ihre Freundin Ariel aus New York zurückgebracht hatten, entführt. Das FBI und die kalifornische Polizei hatten die Ermittlungen aufgenommen, als es so ausgesehen hatte, als ob einer von ihren Leuten involviert wäre. Paul hatte ein paar Beziehungen spielen lassen. Aufgrund seiner Erfahrung als Fährtenleser in der Wildnis hatte er die Erlaubnis bekommen, bei der Suche zu helfen. Erst nach drei Tagen hatten sie die Pick-ups von Abby und dem Sheriff gefunden. Das Motorrad von Carmen Walker, die wie eine Tochter für Paul war, hatte dahinter auf dem Boden gelegen und die dunklen Bremsspuren waren der Beweis, dass Carmen das Bike hastig hingeworfen hatte. In diesen drei Tagen hatte Paul Dinge über Sheriff Clay Thomas erfahren, die ihm das Blut in den Adern hatten gefrieren lassen. Thomas war aus der Marine entlassen worden, weil man ihn verdächtigt hatte, dass er außerhalb der Basis, der er im Mittleren Osten zugeteilt worden war, Frauen umgebracht hatte. Es gab keine Beweise, da man die Leichen der Frauen nie gefunden hatte. Paul hatte noch um ein paar weitere Gefallen gebeten, sodass es ihm schließlich gelungen war, das verstörende Profil eines Mannes zu erstellen, der es genoss, andere, vor allem Frauen, zu quälen. Alle Familien, die befragt wurden, berichteten, wie Thomas ihre Frauen, Schwestern oder Töchter gestalkt hatte. Sie hatten ihn den lokalen Behörden gemeldet, doch es war nie etwas unternommen worden. Nicht einmal, nachdem ihre Lieben auf mysteriöse Weise verschwunden waren. Thomas hatte immer ein Alibi gehabt und immer darauf geachtet, beim Verlassen der Basis nicht beobachtet zu werden. Nachdem Paul die Hütte gefunden hatte, war ihm klargeworden, dass sie es mit einem Serienmörder zu tun hatten. In der Hütte befanden sich alle möglichen Instrumente, um maximale Schmerzen zu verursachen. Zwischen den Holzdielen klebte getrocknetes Blut. Paul war um die Hütte herumgelaufen, als die Ermittler in das Gebiet geströmt waren. Er musste das Gebiet „sehen“, bevor die ganzen „Experten“ die Beweise vernichteten. Er hatte seine Suche immer mehr ausgeweitet, bis er das erste Grab gefunden hatte. Er hatte drei weitere Leichen gefunden, bis er sich sicher sein konnte, dass keine weiteren da waren. Mit jeder Leiche, die er gefunden hatte, war ein Teil von ihm gestorben. Seine größte Angst, dass Trisha, Ariel oder Carmen eine der entstellten Frauen waren, hatte an ihm genagt. Es hatte zwei lange Monate gedauert, bis die Ergebnisse gezeigt hatten, dass keine der Frauen aus dem Flugzeug dabei war. Von da an war er einmal pro Monat zwischen seiner Ranch in Wyoming und Shelby, Kalifornien hin und her gefahren, um das Gebiet nach weiteren Hinweisen abzusuchen. Jetzt stand er da und betrachtete die Brandspuren an den Bäumen. Der Bericht der Brandermittler war zu keinem Ergebnis gekommen. Sie hatten keine chemischen Überreste finden können und keine Erklärung, was das Feuer ausgelöst haben könnte, das so heiß gewesen war, dass es einen kleinen Bereich zu Asche verbrennen konnte, ohne auf etwas anderes überzugreifen. Die Spuren waren sehr präzise, so als wären sie zielgerichtet von einer extrem heißen Quelle gekommen. Er hatte den Experten vom Militär Fotos der Schäden gezeigt, doch selbst die waren ratlos gewesen. In einem Bericht stand, dass nichts auf der Erde heiß genug werden konnte, um einen solchen Schaden zu verursachen, ohne jedoch auf den umliegenden Wald überzugreifen. Paul stand da und betrachtete die Stelle, wo ein junger Ermittler ein winziges Häufchen Asche entdeckt hatte. Die Analyse suggerierte, dass es sich dabei um menschliche Überreste handelte, doch nicht einmal bei einer Einäscherung blieb so feine Asche zurück. Er zog ein kleines gefaltetes Tuch aus seiner Tasche. Er öffnete es und betrachtete die silberne Schuppe, die etwa so groß wie ein Dollarschein war. Er hatte sie in der Nähe der Stelle gefunden, wo man die Asche entdeckt hatte. Sie war dunkelrot mit einem Hauch von Dunkelgrün und Gold an den Rändern. Er hatte sie an der Wyoming State University untersuchen lassen. Hugh Little war ein alter Schulfreund von ihm und arbeitete in der Abteilung für Bioforschung. Er erschauderte, als er an Hughs nächtlichen Anruf dachte. „Hey Paul”, hatte Hugh aufgeregt gesagt. „Ich, ähm, hör mal, du musst mich anrufen, sobald du wieder zurück bist. Es geht um diese Schuppe, die du mir geschickt hast. Ich muss wirklich mit dir darüber sprechen.“ Hugh war so aufgeregt gewesen, dass Paul kurzerhand zum vierhundert Kilometer entfernten Campus gefahren war, wo Hugh tätig war. Hugh hatte ihn mit einer so aufgestauten Begeisterung begrüßt, die Paul bei dem sonst so gelassenen Mann noch nie gesehen hatte. Er hatte Paul in sein Labor gebracht und ihm seine Erkenntnisse erklärt. Paul hatte aufmerksam zugehört, doch so richtig gefesselt war er von den Bildern gewesen. „Die Schuppe stammt von irgendeiner lebenden Kreatur. Daran besteht kein Zweifel. Erst dachte ich, es wäre vielleicht ein Reptil, doch jetzt glaube ich das nicht mehr. Ich habe noch nie so etwas gesehen. Es ist nicht nur die chemische Zusammensetzung der Schuppe oder die Größe. Sieh dir die Schuppe einmal unter dem Mikroskop an“, erklärte Hugh. Paul sah zu, wie das verschwommene Bild der Schuppe schärfer wurde und man ein Muster darauf erkennen konnte. Am Rand befand sich eine perfekt geschwungene dünne goldene Linie, die längs mit dunkelgrünen Linien durchzogen war. Das Rot glänzte und die Farbe schien herumzuwirbeln, so dass es aussah, als ob sie brennen würde. In der Mitte der Schuppe war ein Symbol, das wie ein Speer aussah. Paul kam näher und betrachtete das Muster aufmerksam. „Ist das echt?“, hatte er Hugh ruhig und nachdenklich gefragt. „Oh ja, sie ist echt. Siehst du diese wirbelnden Farben? Ich habe versucht, eine kleine Probe davon zu nehmen. Sie hat alle Nadeln zerstört, die ich benutzt habe. Als ich versucht habe, die Schuppe durchzuschneiden, hat sie mein Messer geschmolzen“, erwiderte Hugh. „Ich weiß nicht, wo du das herhast, aber ich sage dir eins, so etwas habe ich auf der Erde noch nie gesehen.“ Eine kalte Welle des Schreckens durchfuhr Paul, als er das wirbelnde Rot betrachtete. Das war jetzt schon das dritte Mal, dass ihm das jemand sagte. Er hatte Hugh, der noch mehr Versuche durchführen wollte, die Schuppe unter Protest wieder abgenommen. Paul hatte ihm erklärt, dass sie für die Ermittlungen gebraucht wurde und er sie ihm vielleicht nachdem Trisha gefunden wurde, nochmal schicken könnte. Jetzt brauchte er sie erst einmal. Paul blickte in den bewölkten Himmel. Bald würde es regnen. Das konnte er riechen. Als er wieder zu seinem Pick-up zurückging, drehte er sich noch einmal gedankenverloren um und ließ sich dann auf den Fahrersitz gleiten. Er musste noch jemandem einen Besuch abstatten, bevor er sich auf den Heimweg machte. Er hatte den Namen erst vor ein paar Tagen erfahren. Keiner der Ermittler hatte die alte Frau, die mit der Künstlerin befreundet war, für wichtig genug gehalten, um sie zu befragen. Paul griff nach dem Klemmbrett, das auf dem Armaturenbrett lag, um nach der Adresse zu sehen. Edna Grey, sechsundsechzig Jahre alt, Freundin der Familie von Abby Tanner. Grey hatte Abbys Großeltern gekannt, bei denen sie aufgewachsen war. Sie hatte mit ihnen in der Unterhaltungsbranche gearbeitet, bevor sie in den Ruhestand gegangen war. Wie ihm einige Kontaktpersonen berichtet hatten, passte Abby oft auf ihre Tiere auf, wenn Grey ihre Kinder besuchte. Paul legte das Klemmbrett auf den Beifahrersitz und ließ den großen Ford 250 Diesel an. Er legte den Rückwärtsgang ein und wendete in drei Zügen, sodass er den Berg wieder hinunterfahren konnte. Als er auf den Highway einbog, schaltete er die Scheibenwischer ein, da es zu regnen begann. Er hoffte, dass diese Edna Grey ihm ein paar hilfreiche Informationen liefern konnte. Langsam gingen ihm die Hinweise aus. Er rieb sich die Brust über seinem Herzen. Er wusste, dass seine Kleine noch am Leben war. Er konnte sie spüren. Es war nicht so wie damals, als Evelyn gestorben war. Damals hatte er gewusst, dass sie tot war. Er hatte die Leere in seinem Herzen gespürt. Er hatte gewusst, dass etwas passiert war, noch bevor er den Anruf seiner Mutter erhalten hatte, die zu Besuch gewesen war, als Evelyn zusammengebrochen war. Nein, Trisha war noch am Leben. Er konnte spüren, dass sie ihn rief. Es war fast so stark wie das andere Gefühl, das er in letzter Zeit hatte. Dass sich sein Leben bald ändern würde. Er war rastlos, so als ob er irgendwie wüsste, dass die Leere, die er schon so lange spürte, bald gefüllt werden würde. Paul betätigte den Blinker und wurde langsamer, als er in die lange Schottereinfahrt einbog. Durch die Windschutzscheibe, die vom Regen ganz verschmiert war, konnte er ein großes zweistöckiges Haus am Ende der Einfahrt sehen. Eine große Veranda lud Besucher zum Verweilen ein. Er bog in die geschwungene Einfahrt vor den Stufen ein und stellte den Motor ab. Dann öffnete er die Tür und zog sich seinen großen texanischen Hut noch tiefer in die Stirn, um sein Gesicht vor dem kalten Nieselregen zu schützen. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, schritt er die Veranda hinauf. Ein leises Bellen ertönte auf der anderen Seite der Tür. Noch bevor er seine Hand heben konnte, um zu klopfen, ging die Tür auf und das gutmütige Gesicht einer Frau Mitte sechzig tauchte auf. Sie hatte ihr langes dunkelgraues Haar zu einem Zopf geflochten, der ihr über den Rücken fiel und trug ausgewaschene Jeans mit einem blauen geknöpften Hemd, das in ihrer Hose steckte. Sie sagte erst einmal nichts, dann lächelte sie und öffnete die Tür. Ein großer Golden Retriever stand neben ihr. Er hatte einen grünen Tennisball im Maul und wedelte mit dem Schwanz. „Ms. Grey, mein Name ist Paul Grove“, sagte Paul, der seinen Hut abnahm und ihn nervös mit beiden Händen festhielt. „Meine Tochter ist Trisha Grove. Sie hat das Flugzeug geflogen, das Ihre Freundin Abby Tanner zurückgebracht hat.“ Edna nickte und ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Kommen Sie herein. Ich habe schon damit gerechnet, dass jemand kommen würde.“ Paul senkte respektvoll seinen Kopf, als er das Haus leise betrat. Er blickte sich um, während sich seine Augen langsam an die schwache Innenbeleuchtung gewöhnten. An einer Wand hingen Fotos von berühmten Sängern und Schauspielern und dazwischen Bilder von Ednas Familie. Dann fiel sein Blick auf eine Vitrine mit Auszeichnungen. „Kommen Sie mit“, sagte Edna, die in den hinteren Teil des Hauses ging. Paul blickte die Treppen hinauf und bemerkte das abgenutzte, aber polierte Holz auf den Stufen. Er ließ seinen Blick durch die gute Stube schweifen, bevor er daran vorbeiging. Er folgte Edna durch den engen Flur, in eine helle, sehr moderne Küche. Die großen Fenster im hinteren Teil ließen viel Tageslicht herein. Edna winkte ihn zu sich an den abgenutzten weißen Tisch neben dem Fenster und setzte Wasser zum Kochen auf. „Ich werde Ihnen eine Geschichte erzählen, Paul Grove. Sie werden mich wahrscheinlich für eine senile alte Frau halten, die in einer Fantasiewelt lebt, aber das bin ich nicht“, sagte Edna, die Paul mit einem festen, aber beruhigenden Lächeln ansah. „Ob Sie mir glauben wollen oder nicht, liegt ganz bei Ihnen. Ich kann Ihnen nur sagen, was ich weiß und was ich vermute.“ „Ist meine Tochter am Leben?“, fragte Paul mit tiefer heiserer Stimme. Edna lächelte, als das Wasser kochte und sah erst nicht Paul an, sondern den Dampf, der aus dem Kessel kam. „Lassen Sie mich meine Geschichte erzählen und dann werde ich Ihnen diese Frage stellen.“ Edna goss das kochende Wasser in zwei Tassen. Dann streckte sie sich, um einen Schrank zu öffnen und holte zwei Teebeutel heraus, die sie in die Tassen gab. Sie stellte die Tassen auf zwei Untertassen und trug sie zu dem Tisch hinüber, wo sie eine vor Paul abstellte und die andere an ihrem Platz, bevor sie sich setzte. Der Golden Retriever kam ins Zimmer und legte sich zu ihren Füßen. Er ließ den Tennisball zwischen seine Vorderpfoten fallen und legte sein Kinn mit einem leisen Jaulen darauf ab. „Bo vermisst Abby“, sagte Edna, bevor sie in ihre Tasse blies und einen Schluck trank. „Ich auch, aber sie ist an einem besseren Ort. Zumindest glaube ich, dass sie das ist.“ „Wo glauben Sie ist sie?“, fragte Paul, der die Tasse mit seinen kalten Händen umfasste, allerdings nicht von dem duftenden Gebräu trank. Edna seufzte. Dann sah sie Paul mit einem klaren, intelligenten Blick an. „Vor sechs Monaten habe ich meinen Hund Bo und meinen Maulesel Gloria zu Abbys Hütte in den Bergen gebracht. Abby hat die Hütte von ihren Großeltern geerbt. Sie ist dort geboren und aufgewachsen und hatte nie vor, von dort wegzugehen“, erklärte Edna. Sie hielt kurz inne, um noch einen Schluck von ihrem Tee zu nehmen. Paul sagte nichts. Er wartete nur darauf, dass Edna fortfuhr. Er glaubte, dass er, wenn er wartete und lange genug zuhörte, mehr erfahren würde, als wenn er sie bedrängte. Edna nickte und lächelte Paul an. „Abby würde Sie mögen. Sie sind ein geduldiger Mann, Paul Grove. Abby hat an einem aufwändigen gläsernen Kunstwerk für die Boswells gearbeitet. Ihre Tochter Trisha war die an Bord des Flugzeugs, wenn ich das richtig verstehe.“ „So wie auch drei andere Frauen, die mir sehr wichtig sind“, stimmte Paul zu. „Trisha war die Pilotin. Zwei ihrer Jugendfreundinnen waren auch an Bord, ebenso wie ein weiteres junges Mädchen, das meine Tochter und Ariel unter ihre Fittiche genommen haben.“ „Ja, das habe ich in der Zeitung gelesen. Da ist allerdings etwas, was sie wissen sollten, das nicht in der Zeitung stand“, sagte Edna, die sich nach vorne beugte. „Als ich Bo und Gloria nach meinem Besuch bei meinem Sohn und meiner Schwiegertochter abgeholt habe, war Abby nicht mehr alleine. Sie hatte einen Mann bei sich. Er war anders als alle Männer, die ich je kennengelernt habe. Er hatte eine Wildheit und eine Stärke an sich, die nicht ... normal war.“ Pauls Gesicht verzog sich zu einer unbeweglichen Maske. „Glauben Sie, dass er Abby etwas getan hat?“ Edna schüttelte den Kopf und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. „Im Gegenteil. Ich glaube, er hat Abby gerettet ... genauso wie Ihre Tochter und die anderen Frauen.“ „Warum glauben Sie das?“, fragte Paul steif. „Sie haben doch gesagt, dass er irgendwie anders war. Inwiefern anders?“ Das Lächeln auf Ednas Gesicht verblasste und ihre Augen verdunkelten sich, als sie sich erinnerte. „Weil er sie geliebt hat und mir geschworen hat, dass er alles tun würde, was in seiner Macht steht, um sie zu beschützen und sie glücklich zu machen. Ich habe ihm geglaubt. Sein Name war Zoran Reykill und er war ein Alien aus einer anderen Welt”, sagte Edna vorsichtig. Paul kniff die Lippen zusammen und erwiderte Ednas unbeirrten Blick. „Sie wollen mir erzählen, dass meine Tochter von Außerirdischen entführt worden ist?“, fragte er mit tiefer, emotionsloser Stimme. „Nicht entführt, sondern eher gerettet“, erwiderte Edna und nahm einen Schluck von ihrem Tee. „Ich muss Ihnen sagen, dass ich mir erst Sorgen gemacht habe, als ich einen merkwürdigen Mann bei Abby gesehen habe. Sie müssen wissen, dass Abby sehr ruhig und zurückhaltend ist. Sie öffnet sich anderen gegenüber nicht so schnell. Sie war vollkommen zufrieden alleine auf ihrem Berg. Dieser Mann war extrem groß, sogar noch größer als Sie. Er hatte schwarzes Haar, das ihm über den Rücken hing und goldene Augen mit länglichen Pupillen. Er hat mich verstanden, doch ich konnte ihn nicht verstehen, bis...“ Sie verstummte, als sie an das goldene Schiff auf der Wiese dachte. „Bis...“, drängte Paule sie leise. „Bis er mich in sein Raumschiff gebracht hat“, erwiderte Edna. „Zoran hat mich zu der Wiese in der Nähe der Hütte gebracht. Erst war da gar nichts, doch dann ist plötzlich ein mächtiges goldenes Raumschiff aus dem Nichts aufgetaucht. Es schwebte ein paar Zentimeter über dem Boden. Es war lebendig. Ich konnte die wirbelnden Farben und das Schimmern sehen, als ich nähergekommen bin. Als Zoran es berührt hat, sind plötzlich eine Tür und Stufen erschienen. Er hat mich mit hineingenommen. Unter uns haben sich Sitze aus Gold gebildet und vor uns ist eine Schaltfläche aufgetaucht. Ich konnte verstehen, was er sagte, solange wir in dem goldenen Schiff waren.“ Edna sah mit einem entschlossenen Blick zu Paul auf. „Er hat mir erzählt, dass er in unserer Welt bruchgelandet ist und Abby ihn gefunden hat. Sie hat ihn gepflegt und er wusste, dass sie seine wahre Gefährtin war. Er hat mir erzählt, dass er sie bei seiner Abreise mitnehmen würde. Ich denke mir das nicht aus. Ich habe keine Beweise, ob Sie mir glauben oder nicht, liegt ganz bei Ihnen. Können Sie die Dinge erklären, die Sie gefunden haben? Sie sind nicht der Einzige, der Nachforschungen angestellt hat, Mr. Grove. Ich weiß, welche Beweise sie hinterlassen haben und ich kenne Ihren Hintergrund. Was haben Sie herausgefunden?“, fragte Edna. Paul wandte seinen Blick von Edna ab und sah aus dem Fenster. Er sah eine Scheune, vor der ein alter Maulesel im Nieselregen stand. Dann fiel sein Blick auf die Berge in der Ferne, bevor er wieder die Frau anblickte, die vor ihm saß. „Dass irgendetwas dort war, was nicht von dieser Welt ist“, erwiderte er leise. Edna nickte langsam. „Jetzt werde ich Ihnen die gleiche Frage stellen, die Sie mir gestellt haben. Ist Ihre Tochter am Leben?“, fragte sie leise und legte ihre Hand sanft auf seine. Paul blickte auf seine unberührte Teetasse hinab und schluckte den Kloß in seinem Hals herunter. Tränen brannten in seinen Augen, als er an seine schöne Tochter dachte. Er fragte sich, ob sie glücklich war. Ob sie in Sicherheit war. Ob sie ihn genauso sehr vermisste, wie er sie. Paul blickte auf und nickte schließlich. „Ja, sie lebt. Aber ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll. Wie kann ich sie nach Hause holen, wenn sie in eine andere Welt gebracht worden ist?“, fragte Paul und sprach damit seine Angst einer Frau gegenüber aus, die ihm die einzigen Antworten gab, die langsam Sinn ergaben. Edna lehnte sich zurück. „Irgendetwas sagt mir, dass sie genauso unglücklich darüber ist, von Ihnen getrennt zu sein, wie Sie. Wenn sie auch nur halb so hartnäckig ist wie Sie, würde es mich nicht überraschen, wenn die Aliens nochmal zurückkommen. Und wenn es so weit ist, werden Sie sie vielleicht nicht nach Hause bringen, sondern Ihre Tochter wird Sie mitnehmen.“ Paul musterte Edna einige Augenblicke lang. Zum ersten Mal seit sechs Monaten spürte er einen Anflug von Hoffnung. Er blieb noch eine Stunde bei Edna. Er stellte ihr eine Frage nach der anderen und versuchte, so viel wie möglich über diesen Zoran Reykill und sein goldenes Schiff zu erfahren. Die Einladung zum Abendessen lehnte er höflich ab und sagte Edna, dass er auf der langen Fahrt nach Hause über vieles nachdenken musste. Er nickte Edna und Bo zu, als er aufbrach. Auf dem langen Heimweg erledigte er mehrere Anrufe. Er musste sich um einiges kümmern. Wenn seine kleine Tochter zu den Sternen geflogen war, so wie sie es immer gesagt hatte, dann musste er ein paar Dinge regeln. Schließlich hatte er ihr versprochen, dass er sie begleiten würde, falls sie das je tun sollte.
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