Prolog-2

986 Words
Einundzwanzig Jahre zuvor: „Was ist das?”, fragte Paul leise. Er kniete neben der schmalen Spur, die ein Tier hinterlassen hatte. Ein paar lange Locken fielen hinab und berührten fast den Boden, als die kleine Gestalt neben ihm in die Hocke ging. Kleine Finger berührten vorsichtig den leichten Abdruck auf der feuchten Erde. Trisha betrachtete die Form, während sie in Gedanken die verschiedenen Tiere durchging, die in diesem Gebiet lebten und wie ihre Spuren aussahen. Sie umfasste den kleinen Bogen, den ihr Vater für sie geschnitzt hatte, bevor sie mit ihren dunklen, ernsten Augen zu ihm aufblickte. „Berglöwe“, flüsterte sie mit großen Augen. „Der Größe des Abdrucks nach ist er schon älter. Glaubst du, er ist in der Nähe?“ „Sag du es mir“, sagte Paul leise und lächelte stolz auf sie hinab. „Wie alt glaubst du, ist die Spur?“ Trisha betrachtete die Spur erneut, bevor ihr Blick zur nächsten wanderte. „Nicht alt. Siehst du die zusammengedrückten Blätter in dem Abdruck? Er ist noch feucht und fest. Vielleicht von heute Morgen”, murmelte sie. „Gut gemacht, Kleine“, sagte Paul und stand auf. „Wir müssen zurück zum Camp. Ariel und Carmen werden heute Abend mit uns zelten.“ Trisha grinste ihren Vater freudig an. „Kommt ihr Daddy auch?“ Paul lachte und schwang sich den großen Rucksack auf die Schulter. „Ja. Ihre Mom ist bei ihrer Schwester zu Besuch und er dachte, dass den Mädchen eine Pause von seinen Kochkünsten vielleicht guttun würde.“ Lachend sprang Trisha über die Spur. „Können wir heute Abend trotzdem mit Mommy sprechen?“ Bei ihrer unschuldigen Heiterkeit spürte Paul eine Enge in seiner Brust. Immer wenn das Wetter es zuließ, lagen sie draußen und blickten zu den funkelnden Sternen am Himmel hinauf. Und jeden Abend wählte er einen anderen aus, von dem aus seine schöne Evelyn auf sie herabblickte. Er dankte ihr jeden Abend dafür, dass sie ihm das wertvolle Geschenk gegeben hatte, das jetzt vor ihm herumhüpfte. Nur wenn er mit seiner kleinen Tochter draußen in der Wildnis war oder unter den Sternen lag und mit seiner schönen Frau sprach, spürte er ein Gefühl von Frieden. Sein Blick wanderte wieder in den wolkenlosen blauen Himmel hinauf. Er fragte sich, ob er wohl immer dieses nagende Gefühl verspüren würde, dass da draußen noch jemand auf ihn wartete. Er hatte gesucht, doch keine der Frauen, die er bisher kennengelernt hatte, hatte diese Ruhelosigkeit in seiner Seele befriedigen können. Rasch senkte er seinen Blick wieder, als seine Ohren plötzlich eine Veränderung in den Geräuschen des Waldes vernahmen. Trisha hatte es ebenfalls gehört, ihr kleiner Körper war vollkommen erstarrt. Pauls Nackenhaare stellten sich warnend auf. „Trisha, komm her, meine Kleine“, sagte er mit ruhiger Stimme. Trisha machte sofort einen Schritt zurück und suchte den Wald nach dem ab, was sie beide hatte spüren lassen, dass Gefahr herannahte. Paul hob sein Gewehr an seine Schulter und stellte sich etwas breiter hin, damit das, was auch immer auf sie zukam, zuerst an ihm vorbeimusste. „Trisha, versteck dich in den Bäumen“, zischte er leise. „Komm nicht raus, bis ich es dir sage.“ Er lauschte, während Trisha über einen niedrigen Ast stieg und an dem Baum hochkletterte. Er drehte sich nicht zu ihr um. Er verließ sich auf sein Gehör, wenn es darum ging, ob seine wunderschöne Tochter in Sicherheit war. Aus dem Wald zu seiner Linken hörte er ein Knacken, bevor der alte Berglöwe in Windeseile auf ihn zugestürmt kam. Paul verweilte in seiner Position, bis er wusste, dass er freie Schussbahn hatte. Vollkommen unbeweglich blieb er stehen und wartete. Wenn er danebenschoss, würde er das Tier vielleicht verletzen und damit noch gefährlicher machen. Er schoss, als der Berglöwe sprang. Der Schuss traf ihn ins Herz und schleuderte ihn zur Seite, wo er sich herumrollte und in den hohen Farnen verschwand, die den Waldboden bedeckten. Paul zog den Bolzen zurück, um die abgefeuerte Patronenhülse freizugeben und lud nach. Seine ruhige Effizienz rührte aus seinem jahrelangen Training. „Daddy“, flüsterte Trisha. „Ich kann ihn sehen. Es ist der Berglöwe. Er bewegt sich nicht.“ „Bleib, wo du bist, Kleine. Ich muss sichergehen, dass er tot ist“, sagte Paul leise und ging langsam nach vorne. Paul bahnte sich einen Weg durch die Farne, bis er direkt neben dem Berglöwen stand. Es war ein sauberer Schuss gewesen. Es war ungewöhnlich, einen Berglöwen so weit unten am Berg anzutreffen. Er kniete sich neben die große alte Katze und untersuchte sie schnell. Sie war sehr dünn. Er zog ihre Oberlippe zurück und sah, dass ihre Zähne in sehr schlechtem Zustand waren. Dann sah er sich ihre Pfoten an und bemerkte, dass sich an der linken Hinterpfote ein tiefer Schnitt entzündet hatte. „Zeit für das nächste Leben, alter Freund“, sagte Paul leise und legte kurz seine Hand auf den Kopf der alten Katze. „Möge die Erde deinen Körper annehmen und damit andere nähren.“ Paul stand auf und ging wieder zu dem Baum, wo Trisha auf einem Ast stand und ihm zusah. „Komm runter, Kleine. Wir können nichts mehr für ihn tun.“ Sein Blick ruhte auf Trisha, während sie herunterkletterte. Als sie weit genug unten war, hob er sie in seine Arme. Er lächelte auf sie hinab. Ihre wilden Locken wirbelten um sie herum, als sie sich kurz an ihm festklammerte. Es würde eine Weile dauern, ihr am Abend die Knoten herauszukämmen. Er blickte ein letztes Mal in den klaren blauen Himmel hinauf und bedankte sich bei seiner schönen Frau, dass sie auf sie aufpasste. Sein Herz wurde leichter, so als ob er spüren könnte, wie sie zu ihnen herunterlächelte. Eines Tages, dachte er, eines Tages werde ich die Frau finden, die mein Herz genauso erfüllen kann, wie du es getan hast.
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