Kapitel 1-1

619 Words
1 ROSE Die Küche ähnelte um sechs Uhr morgens einer geschäftigen Chicagoer Straßenkreuzung, so wie ich sie in Erinnerung hatte – überfüllt, laut und etwas gefährlich. Bei zehn Frauen im Haus war es nie ruhig, gab es nie Frieden. Es war Tag ein Tag aus das Gleiche. Dahlia stritt mit Miss Esther darüber, wie der Speck gebraten werden sollte. Poppy stand hinter Lily und frisierte deren blonde Haare zu einer fantasievollen Kreation. Marigold deckte mit lautem Tellerklappern den Tisch, begierig auf ihr Essen. Hyacinth saß zufrieden vor sich hin summend an dem großen Tisch, während sie einen Knopf annähte. Iris und Daisy schliefen höchstwahrscheinlich noch oder ließen sich zumindest Zeit beim Anziehen, um sich vor den morgendlichen Pflichten zu drücken. Ich hielt inne und beobachtete das Tohuwabohu, schüttelte meinen Kopf über das klaustrophobische Gefühl im Raum. Nichts hatte sich verändert. Der Raum hatte sich seit dem ersten Tag, an dem wir alle vor sechzehn Jahren von Chicago hierhergekommen waren, nicht verändert. Außer, dass wir älter geworden waren, hatte sich niemand verändert. Unsere Charaktere waren so unterschiedlich wie immer. Bis auf mich. Ich hatte mich verändert. Warum verärgerte mich jeder? Warum wirkte das Haus plötzlich so klein? Warum waren meine Schwestern so nervig? Warum fühlte ich mich, als würde ich ersticken? Da ich dem Ganzen entkommen wollte, ließ ich den Armvoll Holz in den Eimer neben dem Kamin fallen und lief gleich wieder nach draußen, von wo ich über das Gras zu den Ställen lief. Ich atmete die kühle Morgenluft tief ein in dem Versuch, mich zu beruhigen. Es war zu früh, um sich bereits aufzuregen, vor allem nur über die normale Morgenroutine. „Rose!“ Miss Trudys Stimme drang zu mir durch. Zwischen uns gab es momentan mehr als körperliche Distanz, da war auch eine emotionale Distanz. Ich stoppte und drehte mich seufzend um, strich meine widerspenstigen Haare hinter mein Ohr. Die Frau, die acht Waisenmädchen großgezogen hatte, einschließlich mir, hielt ein gefaltetes Tuch hoch. „Wenn du nicht am Tisch isst, dann nimm zumindest etwas mit.“ Ihre Haare waren in ihrem Nacken zu einem schlichten Knoten gebunden. Das Grau in ihren roten Haaren leuchtete hell im Licht der Sonne, die gerade erst über die Berge kroch. Sie war immer noch hübsch, selbst mit den feinen Linien, die ihr Alter verrieten. Während ich die Stufen erklomm, um das Essen zu holen, sah ich Sorge in ihren grünen Augen, aber weigerte mich, darüber zu sprechen. Ich roch die Brötchen und Speck und mein Magen knurrte. „Danke“, erwiderte ich mit einem leichten Lächeln auf den Lippen. „Wo gehst du hin?“, erkundigte sie sich mit ruhiger und sanfter Stimme. Sie schrie nie, hob nie ihre Stimme. Niemand zog allein los, ohne jemandem darüber Bescheid zu geben, da es in der Nähe der Ranch und im gesamten Montana Territorium reichlich Gefahren gab. „Ich werde dem Zaun folgen und nach Stellen schauen, die repariert werden müssen.“ Der Zaun war nicht beschädigt. Ich wusste es und Miss Trudy wusste es ebenfalls, aber sie nickte nur leicht und erlaubte mir, zu fliehen. Nicht sicher, was ich sonst noch sagen sollte, wandte ich mich ab, um zu den Ställen zu gehen. Ich konnte ihr nicht erzählen, dass ich unglücklich war, obwohl ich mir sicher war, dass sie das wusste. Die Worte tatsächlich auszusprechen, würde mich undankbar wirken lassen. Sie und Miss Esther hatten uns Mädchen ein stabiles, liebevolles Heim gegeben. Ich wäre in einer großen Stadt aufgewachsen, hätte nie die Weite und unendlich wirkenden Himmel Montanas kennengelernt, wenn sie uns nicht alle bei sich aufgenommen und uns nach Westen gebracht hätten. Der Gedanke brachte mich dazu, die Stelle über meinem Herzen zu reiben, auf die Schuld und Ruhelosigkeit schwer drückten. Trotz der Tiefe ihrer Fürsorge oder der Verbundenheit, die zwischen mir und den anderen Mädchen bestand, brauchte ich mehr. Ich musste fliehen.
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