KAPITEL DREI

1608 Words
KAPITEL DREI Als Keri vor der Adresse in Venice hielt, die Susan ihr getextet hatte, zwang sie sich, nicht auf die anhaltenden Schmerzen in ihrer Brust und ihrem Knie zu achten. Sie betrat jetzt potentiell gefährliches Terrain. Und da sie offiziell nicht im Dienst war, musste sie besonders wachsam sein. Niemand hier war im Zweifelsfall auf ihrer Seite. Es war erst mitten am Vormittag und als sie die Pacific Avenue in dieser zwielichtigen Gegend von Venice überquerte, waren die einzig anderen auf der Straße die tätowierten Surfer, die der Kälte keine Beachtung schenkten und dem nur einen Block entfernten Meer zustrebten, sowie obdachlose Männer, die sich in den Eingangsbereichen von noch nicht geöffneten Läden herumdrückten. Sie erreichte das verwahrloste Mietshaus, ging durch die offene Tür und stieg die drei Treppen hinauf zu dem Zimmer, in dem Lupita sie angeblich erwartete. In dieser Gegend kamen die Kunden erst nach dem Mittag, so dass dies eine gute Zeit war, bei ihr vorbeizuschauen. Keri näherte sich der Tür und wollte gerade anklopfen, als sie von drinnen ein Geräusch vernahm. Sie untersuchte die Tür und fand sie unverschlossen, öffnete sie leise und steckte den Kopf hindurch. Auf dem Bett in dem kargen Raum lag ein Mädchen, das aussah wie fünfzehn. Auf ihr war ein nackter, drahtiger Mann in den Dreißigern. Laken verdeckten, was genau vor sich ging, aber er schein aggressiv in sie hineinzustoßen. Alle paar Sekunden schlug er dem Mädchen ins Gesicht. Keri widerstand dem starken Verlangen, den Kerl von ihr herunterzuziehen. Auch ohne Dienstmarke war dies ihre natürliche Reaktion. Sie hatte jedoch keine Ahnung, ob dies ein Freier war und ob das, was hier vor sich ging, die normale Vorgehensweise war. Ihre traurige Erfahrung hatte sie gelehrt, dass es langfristig kontraproduktiv sein konnte, jemandem zu Hilfe zu eilen. Wenn dies hier ein Freier war und Keri dazwischen funkte, würde sich der Kerl womöglich bei Lupitas Zuhälter beschweren, der es dann an ihr ausließ. Wenn das Mädchen nicht bereit war, dieses Leben hinter sich zu lassen, so wie Susan Granger es getan hatte, könnte ein Einschreiten Keris, und sei es juristisch noch so legitim, ihr das Leben nur noch schwerer machen. Keri trat etwas weiter in den Raum hinein und Lupita sah Keri an. Das zerbrechlich aussehende Mädchen mit dunklen Locken schaute sie mit einem ihr bekannten Blick an, einer Mischung aus Flehen, Angst und Überdruss. Keri wusste fast sofort, was dies bedeutete. Sie brauchte Hilfe, aber nicht zu viel. Dies war ganz klar ein Freier, vielleicht ein neuer, auf die letzte Minute, denn er war hier, obwohl Lupita bereit gewesen war, Keri zu treffen. Aber ihr wurde befohlen, ihn trotzdem zu bedienen. Wahrscheinlich war das Schlagen nicht vereinbart. Aber sie war nicht in der Position sich zu wehren, falls ihr Zuhälter dem zugestimmt hatte. Keri wusste, was sie zu tun hatte. Schnell tat sie einen Schritt nach vorne und zog leise ihren Gummiknüppel aus der Innentasche ihrer Jacke. Lupitas Augen weiteten sich und Keri konnte sehen, dass der Freier etwas bemerkt hatte. Er wollte sich gerade umgucken, als der Knüppel seinen Hinterkopf traf. Er fiel nach vorne auf das Mädchen drauf, bewusstlos. Keri legte ihren Finger an die Lippen, damit Lupita leise blieb. Sie ging um das Bett, um sich zu vergewissern, dass der Freier wirklich bewusstlos war. Er war es. „Lupita?“ fragte sie. Das Mädchen nickte. „Ich bin Detective Locke“, sagte sie, fügte allerdings nicht hinzu, dass sie genau genommen momentan gar kein Detective war. „Mach dir keine Sorgen. Wenn wir uns beeilen, muss dies nicht zum Problem werden. Wenn dein Zuhälter fragt, was hier passiert ist: ein kleiner Typ mit Kapuze kam herein, hat den Freier niedergeschlagen und sein Portemonnaie gestohlen. Du hast sein Gesicht nicht gesehen. Er drohte dir, dich umzubringen, wenn du auch nur einen Mucks von dir gibst. Wenn ich hier herausgehe, dann zählst du bis zwanzig und fängst dann an zu schreien. Auf keinen Fall wird man dir die Schuld geben. Verstanden?“ Lupita nickte wieder. „Okay“, sagte Keri, während sie die Jeans des Mannes durchforstete und sein Portemonnaie herauszog. „Ich glaube nicht, dass er länger als eine Minute bewusstlos sein wird, also lass uns loslegen. Susan sagte, du hättest einige Typen über das Vista Event morgen Abend reden hören. War einer davon dein Zuhälter?“ „Nee“, flüsterte Lupita. „Ich habe ihre Stimmen nicht erkannt. Und als ich in den Flur geguckt habe, waren sie weg.“ „Das ist okay. Susan hat mir erzählt, was sie über meine Tochter gesagt haben. Ich will, dass du dich auf den Ort konzentrierst. Ich weiß, dass dieses Vista Event immer in den Hollywood Hills stattfindet. Aber haben sie genaueres gesagt? Haben sie einen Straßennamen genannt? Irgendwelche Anhaltspunkte?“ „Sie haben keine Straße genannt. Aber einer von ihnen meinte, es sei schwieriger als letztes Jahr, weil es ein Tor gibt. Er sagte ‚in einem eingezäunten Komplex‘. Deshalb nehme ich an, dass es sich um mehr als nur ein Haus handelt.“ „Das ist wirklich hilfreich, Lupita. Weißt du noch mehr?“ „Der eine sagte, er ist genervt, weil sie nicht nahe genug sein würden, um das Hollywood Schild zu sehen. Ich nehme an, letztes Jahr waren sie dicht dran. Aber dieses Jahr werden sie zu weit entfernt sein. Hilft Ihnen das?“ „Ja, das tut es. Das heißt, dass es wahrscheinlich dichter an West Hollywood dran ist. Das grenzt es ein. Das ist eine Hilfe. Noch etwas?“ Der Mann auf ihr stöhnte leise und rührte sich. „Ich kann mich sonst an nichts erinnern“, murmelte Lupita kaum hörbar. „Das ist okay. Das ist mehr, als ich vorher hatte. Du warst eine große Hilfe. Und wenn du dich jemals dafür entscheidest, dieses Leben hinter dir zu lassen, dann kannst du mich über Susan erreichen.“ Trotz ihrer misslichen Lage lächelte Lupita. Keri nahm ihre Kappe ab, zog eine Skimaske aus ihrer Tasche und zog sie über. „Nicht vergessen“, sagte sie mit tiefer Stimme, die ihre eigene verschleierte, „warte zwanzig Sekunden, oder ich bringe dich um.“ Der Mann, der auf Lupita lag, kam zu sich, daher wandte sich Keri um und verließ den Raum. Sie war schon den halben Flur hinunter, als sie die Hilfeschreie hörte. Sie ignorierte sie und lief zur Eingangstür, wo sie ihre Maske auszog, sie in ihre Tasche stopfte und ihre Kappe aufsetzte. Sie durchforstete das Portemonnaie des Kerls, und schmiss es in die Ecke neben der Tür, nachdem sie das Bargeld herausgenommen hatte – ganze dreiundzwanzig Dollar. So lässig wie möglich überquerte sie die Straße und ging zu ihrem Auto. Als sie einstieg, konnte sie Schreie von wütenden Männern hören, die zu Lupitas Zimmer stürzten. Als sie die Gegend verlassen hatte, rief sie Ray an, um zu sehen, ob er weitergekommen war mit seiner Spur. Er ging nach dem ersten Klingeln ran und an seiner Stimme hörte sie, dass es nicht gut gelaufen war. „Was ist los?“, fragte sie. „Das war eine Sackgasse, Keri. Ich bin zehn Jahre zurück gegangen und kann nichts finden über einen ehemaligen Kinderstar, der mit durchtrennter Kehle gefunden wurde. Ich habe einen Eintrag einer ehemaligen Kinderschauspielerin namens Carly Rose gefunden, mit der es bergab gegangen war und die als Teenager verschwand. Sie müsste jetzt ungefähr zweiundzwanzig sein. Das könnte sie sein. Oder sie hat einfach in einem U-Bahnschacht eine Überdosis genommen und ist niemals gefunden worden. Schwer zu sagen. Ich habe auch Einträge über andere Mädchen zwischen elf und vierzehn gefunden, auf die die Beschreibung zutrifft. – durchtrennte Kehlen. Leichen, die im Müll abgeladen wurden oder einfach an Straßenecken. Das sind aber meist Mädchen, die eine Weile auf der Straße gelebt haben. Und die erstrecken sich über einen längeren Zeitraum.“ „Für mich macht das Sinn“, meinte Keri. „Diese Leute hatten wahrscheinlich keine Skrupel, die Leichen von Mädchen, die auf der Straße arbeiteten oder keine Familie hatten, loszuwerden. Aber sie würden keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollen, indem sie die Leichen von bekannten Mädchen loswerden oder von denen, die aus gutem Hause kommen und die erst kürzlich entführt worden waren. Das würde richtige Ermittlungen nach sich ziehen. Ich wette, dass diese Mädchen verbrannt, verscharrt oder ins Meer geworfen wurden. Es sind die Mädchen, nach denen niemand sucht, die sie einfach irgendwo liegenlassen.“ Keri ignorierte, dass sie dies alles so sachlich hervorbrachte. Wenn sie darüber nachgedacht hätte, hätte sie sich daran gestört, wie abgehärtet sie geworden war hinsichtlich dieser Grausamkeit. „Das haut hin“, stimmte Ray zu, genauso sachlich. „Es könnte auch die Jahre dazwischen erklären. Wenn sie das eine Jahr eine Prostituierte von der Straße genommen haben, und dann einige gekidnappte Vorortkids, dann wieder eine Teenager-Nutte, dann kann man schwerer ein Muster erkennen. Ich meine, wenn einmal pro Jahr eine Teenie-Nutte mit aufgeschlitzter Kehle gefunden wird, das würde doch auffallen.“ „Das stimmt“, sagte Keri. „Also hast du damit nichts anfangen können.“ „Nee. Sorry. Hattest du mehr Glück?“ „Ein bisschen“, meinte sie. „Nachdem, was Lupita gesagt hat, hört es sich so an, als sei der Ort der Vista vielleicht in West Hollywood, in einem dieser eingezäunten Komplexe.“ „Das hört sich vielversprechend an“, bemerkte Ray. „Vielleicht. Davon gibt es aber Tausende dort oben in den Hills.“ „Wir können Edgerton bitten zu prüfen, ob die Eigentumstitel mit jemandem übereinstimmen, der uns bekannt ist. Mit Strohfirmen ist das sicherlich schwierig. Aber man weiß nie, was Edgerton so ausgräbt.“ Das stimmte. Detective Kevin Edgerton war ein Genie in Sachen Technologie. Wenn irgendjemand eine Verbindung ausgraben konnte, dann er. „Okay, setzen wir ihn darauf an“, meinte Keri. „Aber er soll den Ball flach halten und diskret vorgehen. Und gib ihm nicht zu viele Einzelheiten. Je weniger Leute Bescheid wissen, desto geringer die Gefahr, dass jemand versehentlich etwas ausplaudert und dadurch die falschen Leute warnt.“ „Alles klar. Was machst du jetzt?“ Keri dachte einen Moment nach und erkannte, dass sie keine neuen Spuren hatte, denen sie nachgehen konnte. Das bedeutete, sie musste das tun, was sie immer tat, wenn sie nicht weiterkam – von vorne anfangen. Und es gab jemanden, mit dem sie definitiv einen neuen Anfang machen musste. „Überhaupt“, meinte sie, „kannst du Castillo bitten mich anzurufen, aber nicht offiziell, sondern über ihr Handy?“ „Okay. Was denkst du?“, fragte Ray. „Ich glaube, es wird Zeit, mit einem alten Freund mal wieder in Kontakt zu treten.“
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