KAPITEL ZWEI
Lange sprach niemand. Keri meinte, es nicht zu können. Stattdessen ließ sie sich durch die immer größer werdende Woge der Wut erfüllen; ihr Blut kochte; ihre Finger kribbelten.
Schließlich räusperte sich Ray.
„Susan, ich bin Detective Lockes Partner, Ray Sands. Darf ich dir eine Frage stellen?“
„Natürlich, Detective.“
„Woher weißt du das alles? Ich meine, warst du auf einer dieser Partys dabei?“
„Wie ich Detective Locke schon gesagt habe, ich bin einmal auf eine Hill House Party mitgenommen worden, als ich elf war. Ich bin nie wieder dagewesen, aber ich kenne die Mädchen, die nochmal da waren. Eine meiner Freundinnen wurde zweimal dorthin gebracht. Sie können sich vorstellen, wie die Buschtrommeln funktionieren. Jedes Mädchen, das mitten drin steckt in LA, weiß Bescheid über die Vista. Es ist schon fast eine Legende. Zuhälter machen sie diese Legende zunutze, um Druck auf ihre Pferdchen auszuüben. ‚Wenn du rum zickst, könntest du der diesjährige Blutpreis werden.‘ Nur, dass die Legende tatsächlich wahr ist.“
Etwas in Susans Tonfall – eine Mischung aus Angst und Traurigkeit – riss Keri aus ihrer Schweigsamkeit. Dieses Mädchen hatte soviel Fortschritte gemacht in den letzten Monaten. Keri fürchtete, das Mädchen zu bitten, zurückzukehren in die dunklen Ecken ihres Lebens, und sei es auch nur gedanklich, könnte unfair und fies sein. Susan hatte alles erzählt, auf Kosten ihres eigenen Wohlbefindens. Es wurde Zeit, sie wieder Kind sein zu lassen.
Nun mussten die Erwachsenen das Ruder übernehmen.
„Susan“, sagte sie, „vielen Dank, dass du mir all dies erzählt hast. Ich weiß, das war nicht leicht für dich. Mit deiner Info haben wir, glaube ich, einen guten Start, Evie zu finden. Ich möchte nicht, dass du dir noch weiterhin Sorgen machst um diese Sache.“
„Ich könnte mich noch ein wenig umhören“, beharrte das Mädchen.
„Nein. Du hast genug getan. Zeit, in dein neues Leben zurückzukehren. Ich verspreche, dass ich mich bei dir melde. Aber jetzt musst du dich erstmal auf die Schule konzentrieren. Vielleicht ein neues Nancy Drew Buch lesen, über das wir nächste Woche quatschen können. Ab hier übernehmen wir.“
Sie verabschiedeten sich und Keri legte auf. Sie schaute Ray an.
„Glaubst du, wir haben einen guten Ausgangspunkt, um Evie zu finden?“ Er war skeptisch.
„Nein, aber das konnte ich ihr nicht sagen. Kein toller Anfang. Aber es ist ein Anfang.“
*
Gedankenversunken saßen Keri und Ray in Ronnies Diner. Der morgendliche Andrang in dem unscheinbaren Lokal in Marina del Rey war abgeklungen und die meisten noch vorhandenen Gäste genossen ihr entspanntes Frühstück.
Ray hatte unbedingt das Apartment verlassen wollen und Keri hatte eingewilligt. Sie hatte lässigere Kleidung als sonst gewählt, ein langärmeliges Shirt und ausgeblichene Jeans, und eine leichte Jacke, die Schutz geben sollte vor der Kühle dieses Januarmorgens.
Sie trug eine Baseballkappe, die sie tief ins Gesichts gezogen hatte. Ihr schmutzig-blondes Haar, das sie normalerweise in einem professionell aussehenden Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, hatte sie absichtlich offen gelassen, damit es die Blutergüsse in ihrem Gesicht verdeckte. Sie war sich bewusst, dass andere sie anstarren würden.
Indem sie sich so tief wie möglich in ihrer Nische über ihren Kaffee beugte, versteckte sie ihren schmalen Körper noch mehr. Keri, fast sechsunddreißig Jahre alt, war unscheinbare 1,67 Meter. In jüngster Zeit hatte sie angefangen, eng anliegende Kleidung zu tragen, hatte ihren Alkoholkonsum heruntergefahren und war zu ihrer alten Form zurückgelangt. Doch nicht heute. Heute Morgen hoffte sie, nicht aufzufallen.
Es war schön, einfach einmal rauszukommen nach zwei Tagen ärztlich verordneter Bettruhe. Doch Keri hoffte auch, dass ein Tapetenwechsel ihre eine neue Perspektive eröffnete, wie sie Evie finden konnte. Und bis zu einem gewissen Grad klappte dies auch.
Bis ihr Essen kam, hatten sie sich darauf geeinigt, ihr Team, die Einheit für Vermisste Personen der LAPD, nicht in die Suche mit einzubeziehen. Immer wieder über die Jahre hatte ihre Einheit Keri bei der Suche nach ihrer Tochter geholfen, ohne Erfolg. Es gab keinen Grund anzunehmen, dass das Ergebnis ohne eine neue Spur anders aussehen würde.
Aber es gab noch einen Grund, den Ball flach zu halten. Dies war Keris letzte wirkliche Chance, ihre Tochter zu finden. Sie kannte den genauen Zeitpunkt, zu dem Evie in einem bestimmten Teil LAs sein würde – nämlich morgen um Mitternacht in den Hollywood Hills – auch wenn sie den genauen Ort noch nicht kannte.
Aber wenn das Team anfing, sich umzuhören und bekannt würde, dass sie Bescheid wussten über das Vista Event, dann würden diejenigen, die Evie festhielten, das Event womöglich absagen, oder sie gleich umbringen, um Komplikationen zu vermeiden. Keri musste die Füße stillhalten.
Ein anderer Punkt blieb unausgesprochen, war jedoch den beiden Partnern und neuem Paar klar. Nämlich, dass sie sich nicht sicher sein konnten, nicht unter Beobachtung zu stehen durch diejenige Person, die am meisten nichts davon erfahren durfte – Jackson Cave.
Letztes Jahr hatte Keri einen Serienkindesentführer namens Alan Jack Pachanga überführt und ihn im Zuge der Rettung eines Teenagers letzten Endes umgebracht. Und während Pachanga kein Problem mehr darstellte, so galt dies nicht für seinen Anwalt.
Jackson Cave, Pachangas Anwalt, war ein bekannter Anwalt für Gesellschaftsrecht mit schicken Büros in einem Hochhaus in der City. Allerdings verteidigte er auch den Abschaum der Gesellschaft mit einer besonderen Vorliebe für Kinderschänder. Er behauptete, dass ein Großteil davon pro-bono-Arbeit sei und dass auch die schlimmsten Individuen eine gute Verteidigung verdienten.
Doch Keri hatte Informationen ausgegraben, die ihn mit einem riesigen Netzwerk von Kindesentführern in Verbindung brachten; ein Netzwerk, von dem sie annahm, dass er daraus Profit schlug und das er mit leitete. Einer der Entführer innerhalb dieses Netzwerks war ein Mann, der sich der Sammler nannte.
Als Keri letzten Herbst herausbekommen hatte, dass der Sammler Evies Entführer war, hatte sie ihn in eine Falle gelockt und ihn dazu bewegt, sich mit ihr zu treffen. Doch der Sammler, der mit richtigem Namen Brian Wickwire hieß, bemerkte ihre List und griff sie an. Am Ende hatte sie ihn während ihres Kampfes umgebracht, aber erst, nachdem er geschworen hatte, dass sie Evie niemals finden würde.
Leider hatte sie keine Beweise für die Verbindung von Jackson Cave zu dem Mann, der ihre Tochter entführt hatte oder zu dem Netzwerk, dem er scheinbar vorstand. Jedenfalls keine, an die sie auf legale Weise gekommen war.
In ihrer Verzweiflung war sie einmal in sein Büro eingebrochen und hatte eine verschlüsselte Akte gefunden, die ihr eine Hilfe gewesen war. Aber weil sie sie gestohlen hatte, war sie vor Gericht nicht verwendbar. Ansonsten war die Verbindung zwischen Cave und dem Netzwerk so gut verborgen und so spärlich, dass es fast unmöglich war, seine Verwicklung darin zu beweisen. Er hatte seine Top Position in der juristischen Welt von Los Angeles nicht dadurch erreicht, indem er schlampig oder nachlässig war.
Sie hatte sogar versucht, ihren Ex-Mann Stephen, einen erfolgreichen Hollywood Talentsucher, dazu zu überreden, sich an den Kosten für einen Privatdetektiv, der Cave beschatten sollte, zu beteiligen. Sie selbst konnte sich einen guten Privatdetektiv nicht leisten. Doch Stephen weigerte sich, da er im Grunde glaubte, dass Evie tot war und Keri sich etwas vormachte.
Cave hatte natürlich keine derartigen finanziellen Einschränkungen. Und als er mitbekommen hatte, dass Keri ihm auf den Fersen war, ließ er sie beschatten. Sowohl sie selbst als auch Ray hatten Wanzen in ihren Häusern und Autos gefunden. Beide untersuchten regelmäßig alles, von ihrer Kleidung bis hin zu ihren Telefonen und Schuhen auf Wanzen, bevor sie Vertrauliches besprachen. Sie nahmen an, dass sogar ihre LAPD-Büros überwacht wurden und verhielten sich entsprechend.
Deshalb saßen sie in einem lauten Lokal, trugen Kleidung, die sie vorher auf Wanzen gefilzt hatten und stellten sicher, dass niemand an den Tischen in der Nähe zuhörte, während sie ihren Plan ausarbeiteten. Wenn es eine Person gab, die nicht wissen durfte, dass sie über die Vista Bescheid wussten, dann war es Jackson Cave.
Während ihrer mehrfachen verbalen Auseinandersetzungen mit ihm war Keri klar geworden, dass sich Cave`s Haltung verändert hatte. Anfangs hatte er sie nur als Bedrohung seines Business angesehen, ein weiteres Hindernis, das es zu überwinden galt. Aber nun nicht mehr.
Schließlich hatte sie zwei seiner Großverdiener umgebracht, Akten aus seinem Büro gestohlen, Codes geknackt, und sein Business und vielleicht sogar seine Freiheit aufs Spiel gesetzt. Natürlich tat sie all dies, um ihre Tochter zu finden.
Doch sie spürte, dass Cave in ihr jetzt mehr als nur eine Gegnerin sah, eine Polizistin, die verzweifelt ihr Kind finden wollte. Er sah sie jetzt eher als seinen Erzfeind, als eine Art Todesfeind. Er wollte sie nicht mehr nur besiegen. Er wollte sie zerstören.
Keri war sicher, dass Evie deshalb der Blutpreis bei der Vista war. Sie bezweifelte, dass Cave wusste, wo Evie festgehalten wurde, oder wer sie festhielt. Ganz sicher kannte er die Leute, die wiederum die Leute kannten, die über diese Dinge Bescheid wussten. Und mit ziemlicher Sicherheit hatte er angeordnet, zumindest indirekt, dass Evie auf der morgigen Party geopfert werden sollte, um Keri unwiederbringlich zu brechen.
Es hatte keinen Sinn ihn zu beschatten oder ihn offiziell zu vernehmen. Er war viel zu schlau und vorsichtig, um Fehler zu machen, vor allem, da er wusste, dass sie ihm auf den Fersen war. Aber er steckte hinter alldem – da war sich Keri sicher. Sie musste nur einen anderen Weg finden, ihn zu überführen.
Mit neuer Entschlossenheit blickte sie auf und sah, wie Ray sie beobachtete.
„Wie lange starrst du mich schon so an?“, fragte sie.
„Mindestens ein paar Minuten. Ich wollte dich nicht stören. Du sahst aus, als ob du ernsthaft am nachdenken warst. Hattest du irgendwelche Eingebungen?“
„Eigentlich nicht“, gab sie zu. „Wir wissen beide, wer dahinter steckt, aber ich glaube nicht, dass uns das großartig weiterhelfen wird. Ich muss nochmal von vorne anfangen und darauf hoffen, neue Spuren zu finden.“
„Du meinst wir, nicht wahr?“, meinte Ray.
„Musst du dich nicht heute bei der Arbeit blicken lassen? Du arbeitest schon länger nicht, damit du dich um mich kümmern kannst.“
„Du machst wohl Witze, Tinker Bell“, sagte er mit einem Lächeln, anspielend auf ihren riesigen Größenunterschied. „Meinst du, ich gehe einfach ins Büro, während all das hier läuft? Zur Not nutze ich jeden Krankheits- und Urlaubstag, den ich habe.“
Keri merkte, wie die Freude sich in ihrer Brust ausbreitete, versuchte es jedoch zu verstecken.
„Das weiß ich zu schätzen, Godzilla“, sagte sie. „Aber wo ich noch beurlaubt bin wegen der internen Ermittlungen, müssen wir vielleicht auf deinen Zugang auf offizielle polizeiliche Ressourcen zurückgreifen.“
Keri war beurlaubt, während die internen Ermittlungen hinsichtlich der Umstände zum Tod von Brian „dem Sammler“ Wickwire liefen. Ihr Vorgesetzter, Lieutenant Cole Hillman, hatte angedeutet, dass diese wahrscheinlich bald zu Keris Gunsten eingestellt würden. Doch bis dahin hatte Keri keine Polizeimarke, keine Dienstwaffe, keine offizielle Handhabe und keinen Zugang zu polizeilichen Ressourcen.
„Gibt es deiner Meinung nach etwas Bestimmtes, das ich mir näher ansehen sollte?“ fragte Ray.
„Tatsächlich ja. Susan erwähnte, dass eine der vergangenen Blutpreise eine ehemalige Kinderschauspielerin war, die süchtig geworden und auf der Straße gelandet war. Falls sie vergewaltigt und umgebracht wurde, muss es dazu doch etwas in den Akten geben, vor allem, wenn ihr die Kehle durchgeschnitten wurde. Ich kann mich nicht erinnern, etwas dazu in den Nachrichten gesehen zu haben, aber vielleicht habe ich es verpasst. Vielleicht kannst du dazu etwas aufspüren, zum Beispiel einen forensischen Bericht mit der DNA der Spermien des Mannes, der sie vergewaltigt hat.“
„Möglich, dass es niemanden in den Sinn gekommen ist, die DNA zu überprüfen“, fügte Ray hinzu. „Wenn sie das Mädchen mit durchtrennter Kehle gefunden haben, sah vielleicht niemand die Notwendigkeit, Weiteres zu veranlassen. Wenn wir rausbekommen, wer sie war, dann kann man vielleicht eilig weitere Tests durchführen lassen, und die Identität des Mannes feststellen, der mit ihr zusammen war.“
„Genau“, stimmte Keri zu. „Denk nur daran, diskret zu sein. Zieh so wenige Leute wie möglich ins Vertrauen.“
„Verstanden. Und was hast du vor, während ich alte Akten über ermordete Teenie Mädchen wälze?“
„Ich werde eine mögliche Zeugin vernehmen.“
„Wen denn?“, fragte Ray.
„Susans Prostituiertenfreundin, Lupita – die, die sagte, sie hat diese Typen über die Vista reden hören. Vielleicht erinnert sie sich mit ein bisschen Hilfe an noch an etwas mehr.“
„Okay, Keri, aber vergiss nicht, dich zu schonen. Diese Gegend von Venice ist rau und du bist noch nicht wieder bei vollen Kräften. Außerdem bist du nicht einmal mehr eine Polizistin, im Moment jedenfalls.“
„Danke für dein Mitgefühl, Ray. Aber du kennst mich inzwischen. Mich zu schonen ist nicht mein Stil.“