I-4

2102 Words
Er bot mir keinerlei Empfehlungen an die Revue des Deux-Mondes an, stellte aber eine Reihe Fragen über mein Leben, meine Studien und meine Neigungen, von denen ich zum erstenmal in einer Art sprechen hörte, als könne man ihnen vernünftigerweise nachgehen, während ich bisher geglaubt hatte, es sei Pflicht, ihnen zu widerstreben. Da diese Neigungen auf seiten der Literatur lagen, suchte er mich nicht von dieser abzubringen; vielmehr sprach er mit höflicher Achtung von ihr wie von einer verehrungswürdigen charmanten Person aus erlesenem Kreise, der man in Rom oder Dresden das beste Andenken bewahrt hat und die man bedauerlicherweise durch den Zwang der Verhältnisse so selten wiedertrifft. Mit einem fast schlüpfrigen Lächeln neidete er mir die angenehmen Stunden, die sie mir Glücklicherem und Freierem verschaffe. Aber die Wendungen, deren er sich bediente, zeigten mir die Literatur sehr verschieden von dem Bilde, das ich mir in Combray von ihr gemacht hatte; und ich sah ein, daß ich doppelt recht gehabt hatte, ihr zu entsagen. Bisher war mir nur zum Bewußtsein gekommen, daß ich keine Begabung zum Schreiben habe, jetzt nahm mir Herr von Norpois auch das Verlangen danach. Ich wollte ihm ausdrücken, was ich mir erträumt hatte; in meiner zitternden Erregung hätte ich mir Skrupel gemacht, wenn meine Worte nicht das denkbar aufrichtigste Äquivalent dessen, was ich fühlte und bisher noch nie zu formulieren versucht hatte, gewesen wären, und so wurden diese Worte natürlich ganz unklar. Vielleicht aus Berufsgewohnheit, vielleicht kraft der jedem hochgestellten Mann eigenen Ruhe (denn, wenn man ihn um Rat fragt, ist er sicher, den Gang des Gespräches zu beherrschen, und läßt den Unterredner sich aufregen, abmühen und nach Herzenslust schuften), vielleicht auch, um den Charakter seines Kopfes zur Geltung zu bringen (der, nach seiner Meinung trotz der großen »Favoris« griechisch war), pflegte Herr von Norpois, während man ihm etwas darlegte, eine absolut unbewegliche Miene zu bewahren: man sprach wie zu einer tauben antiken Büste in einer Glyptothek. Plötzlich erklang dann wie der fallende Hammer des Auktionators oder wie ein delphisches Orakel die Stimme des Botschafters, und seine Antwort war um so eindrucksvoller, als nichts in seiner Miene hatte vermuten lassen, was für einen Eindruck er von dem andern empfangen habe, noch was für eine Meinung er wohl äußern werde. Mit einmal sagte er, als sei die Sache entschieden, nachdem er mich angesichts der unbewegten Augen, die keinen Augenblick von mir abließen, lange hatte schwatzen lassen: »Gerade ist mir der Sohn eines meiner Freunde gegenwärtig, dem es ›mutatis mutandis‹ geht wie Ihnen« (und er nahm, um von unsern gemeinsamen Anlagen zu sprechen, einen begütigenden Ton an, als handle es sich nicht um Anlagen zur Literatur, sondern zum Rheumatismus, und als wolle er mir zeigen, daß man nicht daran stirbt). »Dieser junge Mann hat es vorgezogen, den Quai d'Orsay zu verlassen, wo ihm doch der Weg durch den Vater geebnet war, und ohne sich um das Gerede der Leute zu kümmern, hat er sich angeschickt zu produzieren. Sicherlich hat er keinen Anlaß, es zu bereuen. Er hat vor zwei Jahren – er ist, nebenbei bemerkt, natürlich bedeutend älter als Sie – ein Werk veröffentlicht, das sich mit dem Gefühl des Unendlichen vom westlichen Ufer des Viktoria-Nyassa-Sees befaßt, und dies Jahr ein weniger wichtiges, aber mit hurtiger, bisweilen sogar ziemlich scharfer Feder geschriebenes Büchlein über das Repetiergewehr in der bulgarischen Armee, Arbeiten, die ihm bereits einen besondern Platz gesichert haben. Er hat schon eine hübsche Strecke zurückgelegt und ist nicht der Mann, auf halbem Wege stehen zu bleiben. Wie ich weiß, hat man, ohne den Gedanken einer Kandidatur ins Auge zu fassen, in der Académie des Sciences Morales im Laufe des Gesprächs seinen Namen zwei-, dreimal fallen lassen, und zwar in einer durchaus nicht ungünstigen Art. Kurzum, wenn man auch noch nicht behaupten kann, daß er bereits den Gipfel des Parnaß erklommen habe, er hat mit kühnem Angriff eine recht hübsche Stellung erobert, und der Erfolg, der denn doch nicht immer nur den Stürmern, Wirrköpfen und Wichtigtuern, deren Wesen eben meist nur Getu ist, zufällt, der Erfolg hat seine Mühe gelohnt.« Meinem Vater, der mich nun schon in einigen Jahren Akademiker werden sah, war deutlich eine Genugtuung anzumerken, die Herr von Norpois auf die Spitze trieb, indem er mir nach kurzem Zögern und in sichtlicher Berechnung der Folgen, die sein Schritt haben könnte, seine Karte reichte und sagte: »Besuchen Sie ihn doch mit meiner Empfehlung, er wird Ihnen nützliche Ratschläge geben können.« Diese Worte verursachten mir eine so peinliche Erregung wie etwa die Mitteilung, ich sollte mich morgen als Schiffsjunge auf einem Segler einschiffen. Meine Tante Leonie hatte mir zusammen mit vielen lästigen Gegenständen und Möbeln fast ihr ganzes flüssiges Vermögen vererbt und so nach ihrem Tode eine Zuneigung offenbart, die ich zu ihren Lebzeiten durchaus nicht vermutete. Mein Vater, der dies Vermögen bis zu meiner Mündigkeit zu verwalten hatte, befragte Herrn von Norpois über die Anlage einiger Werte. Der Botschafter riet zu schwachverzinsten Papieren, die er für besonders solide erachtete, namentlich zu Englischen Konsols und vierprozentigen Russen. »Mit diesen erstklassigen Werten«, sagte er, »sind Sie, wenn der Zinsfuß auch nicht so hoch ist, wenigstens sicher, Ihr Kapital nie gefährdet zu sehen.« Danach berichtete ihm mein Vater im großen ganzen, was er für den Rest des Geldes gekauft habe. Auf Herrn von Norpois' Zügen erschien ein kaum merkliches Glückwunschlächeln: wie alle Kapitalisten sah er in einem Vermögen etwas immer Beneidenswertes, fand es aber zartfühlend, sein Kompliment zu solch einem Besitz nur durch eine kaum eingestandene Gebärde des Verständnisses auszudrücken; da er selbst kolossal reich war, hielt er es andererseits für geschmackvoll, mit einem immerhin behaglich-munteren Rückblick auf die eigenen höheren Einkünfte die geringeren der anderen nicht unbeträchtlich zu schätzen. Er nahm keinen Anstand, meinem Vater zu der »wohlabgewogenen, überlegenen Sicherheit«, mit der er sein Portefeuille »komponiert« habe, zu gratulieren. Es war, als schriebe er den Beziehungen der Börsenpapiere zueinander und auch den einzelnen Papieren eine Art ästhetischen Rang zu. Über ein ziemlich neues unbekanntes, das mein Vater erwähnte, äußerte Herr von Norpois, ähnlich den Leuten, die ein Buch, das wir allein zu kennen glauben, auch gelesen haben: »Oh doch, ich habe mich eine Zeitlang damit unterhalten, es auf dem Kurszettel zu verfolgen, es war interessant«, und hatte dabei das retrospektiv gefesselte Lächeln eines Abonnenten, der den letzten Roman einer Revue in Fortsetzungen gelesen hat. »Ich will Ihnen nicht davon abraten, sich bei der bevorstehenden Lancierung an der Subskription zu beteiligen. Das Papier hat etwas Anziehendes, die Anteilscheine werden Ihnen zu verführerischen Preisen angeboten.« Als auf bestimmte ältere Effekten die Rede kam, an deren Namen mein Vater sich nicht genau erinnerte, da sie leicht mit denen ähnlicher Aktien zu verwechseln waren, öffnete er eine Schublade und zeigte die Papiere selbst dem Botschafter. Ihr Anblick entzückte mich: sie waren verziert mit Kathedralenpfeilern und allegorischen Figuren, wie gewisse alte Publikationen aus der Zeit der Romantik, die ich früher durchblättert hatte. Alles, was der gleichen Epoche entstammt, sieht sich ähnlich; den Künstlern, die Dichtungen einer Zeit illustrieren, geben auch die zeitgenössischen Finanzgesellschaften Aufträge: und nichts erinnert mehr an gewisse Lieferungen von Notre-Dame de Paris und von Gérard de Nervals Werken, wie ich sie im Schaufenster des Krämers von Combray gesehen, als, in ihrer rechtwinkligem, beblümten, von Flußgottheiten gestützten Einfassung, eine Aktie der Gesellschaft der Wasserwerke. Mein Vater hatte für meine Art, mich zu den Dingen zu stellen, eine Verachtung, die durch Zuneigung genugsam gemildert war, um meinem Tun und Treiben gegenüber eine blinde Nachsicht walten zu lassen. So trug er denn keinen Anstand, mich ein kleines Gedicht in Prosa holen zu lassen, das ich früher einmal in Combray nach einem Spaziergang verfaßt hatte. Ich hatte es in einem Zustand von schwärmerischer Begeisterung geschrieben, der, wie ich wähnte, sich den Lesern mitteilen müßte. Aber Herrn von Norpois teilte er sich nicht mit; ohne ein Wort zu sagen, gab er mir das Gedicht zurück. Schüchtern trat meine Mutter, die voller Ehrfurcht für des Vaters Beschäftigungen war, ins Zimmer und fragte, ob sie anrichten lassen dürfe. Sie fürchtete, eine Unterhaltung zu unterbrechen, in die sie nicht einzubeziehen war. In der Tat sprach der Vater zu Herrn von Norpois immer wieder von allerhand nützlichen Maßnahmen, die sie beide bei der nächsten Kommissionssitzung befürworten wollten, und zwar in dem besondern Ton, den zwei Kollegen in einer ungewohnten Umgebung haben: darin sind sie zwei Gymnasiasten ähnlich: ihre beruflichen Gewohnheiten schaffen ihnen gemeinsame Erinnerungen und sie entschuldigen sich, wenn sie vor andern, denen diese Dinge unzugänglich sind, darauf zurückkommen. Aber die vollkommene Unabhängigkeit der Gesichtsmuskeln, zu der Herr von Norpois gelangt war, erlaubte ihm zuzuhören, ohne daß er zu verstehen schien. Mein Vater verwirrte sich schließlich: »Ich hatte gedacht, die Meinung der Kommission zu befragen ...,« sagte er nach langen Umschweifen zu Herrn von Norpois. Da kamen aus dem Gesicht des adligen Virtuosen, der bisher starr wie ein Orchestermusiker verharrt hatte, der seinen Einsatz abwartet, scharf und gleichmäßig im Vortrag, eben nur das Ende des angefangenen Satzes, doch in einem neuen Tonfall, die Worte: »– deren Stimmen Sie selbstverständlich unverzüglich zusammenbringen werden, um so mehr als die Mitglieder Ihnen als Individuen bekannt sind und sich leicht zusammenbringen lassen.« Das war an und für sich nicht gerade erstaunlich als Abschluß des Satzes; aber die vorhergegangene Unbeweglichkeit ließ es kristallen, frappant, fast spöttisch sich ablösen, wie gewisse musikalische Phrasen, die in einem Konzerte von Mozart das bisher schweigsame Klavier dem Cello einwirft. »Nun, bist du von deiner Matinee befriedigt gewesen?« fragte mein Vater mich, während wir zu Tisch gingen: er wollte mich zur Geltung bringen und hoffte, Herr von Norpois werde meine Begeisterung zu schätzen wissen. »Er hat gerade die Berma gehört, Sie erinnern sich, wir haben darüber miteinander gesprochen«, wandte er sich dann an den Diplomaten im Tone der retrospektiven, vertraulichen Anspielung unter Fachleuten, als handle es sich um eine Sitzung der Kommission. »Da werden Sie entzückt gewesen sein, zumal wenn Sie die Künstlerin zum erstenmal gehört haben. Ihr Herr Vater machte sich Gedanken wegen der eventuellen Rückwirkung dieses kleinen Seitensprunges auf Ihren Gesundheitszustand, denn Sie sind, glaube ich, etwas zart, ein wenig sensibel. Aber da habe ich ihn beruhigt. Die Theater sind heut nicht mehr das, was sie vor zwanzig Jahren noch gewesen sind. Sie finden leidlich angenehme Sitze vor und einen gut durchgelüfteten Raum, obgleich wir noch viel zu tun haben, um Deutschland und England einzuholen, die uns in diesem Punkte wie in manchen andern erschreckend voran sind. Ich habe Frau Berma in Phèdre nicht gesehen, mir aber sagen lassen, daß sie darin bewunderungswert sei. Und Sie? – Natürlich waren Sie hingerissen?« Herr von Norpois, der tausendmal intelligenter war als ich, mochte sich dieser Wahrheit versichert haben, die ich dem Spiel der Berma nicht zu entnehmen verstanden hatte, er würde sie mir offenbaren; in meiner Antwort auf seine Frage wollte ich ihn bitten, mir zu sagen, worin diese Wahrheit bestände; so würde er mein Verlangen, die Schauspielerin zu sehen, noch nachträglich rechtfertigen. Ich hatte nur einen Augenblick, den mußte ich nutzen und meine Fragestellung auf das Wesentliche richten. Aber was war das Wesentliche? Ich wandte meine ganze Aufmerksamkeit auf die verworrenen Eindrücke, die ich davongetragen, und dachte nicht daran, vor Herrn von Norpois mich in ein vorteilhaftes Licht zu setzen, sondern die gewünschte Wahrheit aus ihm zu ziehen; ich versuchte nicht, die mir fehlenden Worte durch fertigübernommene Wendungen zu ersetzen; ich stotterte, und schließlich, um ihn anzureizen, das Wunderbare der Berma zu erklären, gestand ich ihm, daß ich enttäuscht gewesen sei. »Was sagst du da?« rief mein Vater, und es verdroß ihn der Gedanke, das Bekenntnis meiner Verständnislosigkeit könne auf Herrn von Norpois einen schlechten Eindruck machen. »Wie kannst du nur behaupten, daß du nichts davon gehabt hast? Die Großmutter hat uns erzählt, daß du kein Wort, das die Berma aussprach, verloren hast, die Augen seien dir aus dem Kopf getreten, so wie du sei kein Mensch im Saal gewesen.« »Gewiß, ich paßte auf, so gut ich konnte, um herauszubekommen, was so Bemerkenswertes an ihr sei. Sicher ist sie sehr gut...» »Wenn sie sehr gut ist, was brauchst du noch mehr?« Herr von Norpois wandte sich geflissentlich an meine Mutter, um sie in die Unterhaltung einzubeziehen und seine Pflicht der Höflichkeit gewissenhaft der Frau des Hauses gegenüber zu erfüllen: »Einer der Umstände, die sicherlich zum Erfolg der Frau Berma beitragen, ist der vollendete Geschmack, mit dem sie ihre Rollen auswählt und der ihr stets spontanen vollwertigen Beifall sichert. Nur selten spielt sie Mittelmäßiges. Sie sehen, sie hat die Rolle der Phèdre in Angriff genommen. Dieser Geschmack zeigt sich in ihren Toiletten wie in ihrem Spiel. Trotzdem sie häufig einträgliche Tourneen durch England und Amerika machte, hat doch nie das Vulgäre – ich will nicht sagen, von John Bull, das wäre ungerecht zum mindesten gegen das England der viktorianischen Ära – aber von Onkel Sam auf sie abgefärbt. Niemals zu auffallende Farben, nie einen zu heftigen Schrei. Dann diese wunderbare Stimme, die ihr so gut dient, auf der sie hinreißend zu spielen weiß, ich fühle mich fast versucht zu sagen, wie auf einem Musikinstrument!«
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