Mein Interesse am Spiel der Berma hatte beständig zugenommen, seit die Vorstellung zu Ende war. Es litt nicht mehr unter dem Druck und den Schranken der Wirklichkeit. Aber ich fühlte das Bedürfnis, Erklärungen für dieses Interesse zu finden; während die Berma spielte, war es mit gleicher Heftigkeit auf alles, was sie – in der Unteilbarkeit des Wirklichen – meinen Augen und Ohren zugleich bot, gerichtet gewesen; da konnte es nicht trennen und unterscheiden; jetzt war es glücklich, in Herrn von Norpois' Lobreden auf die Schlichtheit und den guten Geschmack der Künstlerin, eine vernünftige Begründung seiner selbst zu entdecken; es absorbierte gierig diese Lobreden, bemächtigte sich ihrer, wie der Optimismus eines Betrunkenen der Taten seines Nächsten sich bemächtigt, in denen er einen Grund zur Rührung findet. »Ja, wahrhaftig,« sagte ich mir, »welch schöne Stimme ohne alles Schreiende und die schlichten Kostüme und wie einsichtig, die Rolle der Phèdre zu wählen. Nein, ich war nicht enttäuscht!«
Der kalte Rinderbraten mit Karotten erschien, von dem Michelangelo unserer Küche auf enorme Geleekristalle gelagert, die durchsichtigen Quarzblöcken glichen.
»Sie haben einen Küchenchef allerersten Ranges, gnädige Frau«, sagte Herr von Norpois. »Und das will etwas besagen. Ich habe im Auslande ein Haus ausmachen müssen und weiß, wie schwer es oft ist, einen perfekten Speisemeister zu finden. Es ist ein wahres Liebesmahl, wozu Sie uns da entboten haben.«
In der Tat hatte Françoise, aufgestachelt von dem Ehrgeiz, für einen Gast von Rang eine Mahlzeit zustande zu bringen, die Schwierigkeiten bot, die ihrer würdig waren, sich solche Mühe gegeben, wie sie für uns allein nicht mehr aufwandte, und dabei ihre unvergleichliche Manier von Combray wiedergefunden.
»So etwas kann man sich im Wirtshaus nicht beschaffen, ich spreche nur von den besten Gaststätten: einen Schmorbraten, bei dem das Gelée nicht klebrig schmeckt und das Rindfleisch das Parfüm der Karotten annimmt, das ist bewundernswert! Erlauben Sie mir, noch einmal darauf zurückzukommen«, und er ließ sich noch etwas Gelee geben. »Jetzt wäre ich begierig, Ihren Pfannenkünstler einem ganz andern Kochproblem gegenüberzusehen, ich möchte ihn beispielsweise vor mir haben, wenn er es mit einem Boeuf Stroganoff zu tun bekommt.«
Um auch seinerseits zur Würze des Mahls beizutragen, gab uns Herr von Norpois verschiedene Geschichten zum besten, mit denen er seine politischen Freunde häufig ergötzte, indem er bald eine lächerliche Wendung aus dem Munde eines Gewohnheitsredners zitierte, der lange Perioden voll unzusammenhängender Bilder macht, bald eines Diplomaten lapidare Formulierung von attischer Feinheit. Ich muß gestehen, das Kriterium, das für ihn beide Arten von Beredsamkeit schied, war ganz anders als das, welches ich auf die Literatur anwandte. Sehr viele Nuancen entgingen mir; die Wendungen, die er laut lachend wiederholte, schienen mir nicht sehr verschieden von denen, die er bemerkenswert fand. Er gehörte zu der Sorte Menschen, die von den Werken, die ich liebte, sagen: »Sie verstehen das also? Ich muß bekennen, daß ich es nicht verstehe, ich bin nicht eingeweiht«, aber ich hätte ihm mit gleicher Münze heimzahlen können, ich erfaßte weder den Geist noch die Dummheit, weder die Beredsamkeit noch den Schwulst, den er in einem Einwurf oder einer Rede entdeckte; und der Mangel jedes begreiflichen Grundes, warum das eine schlecht, das andere gut sein sollte, bewirkte, daß mir diese Art Literatur geheimnisvoller blieb und dunkler schien als irgend eine andere. Nur eins bekam ich heraus: wiederholen, was alle Welt denkt, ist in der Politik nicht ein Zeichen von Minderwertigkeit, sondern von Überlegenheit. Wenn Herr von Norpois sich gewisser Ausdrücke bediente, die sich in den Zeitungen herumtrieben, und sie mit kräftigem Nachdruck aussprach, fühlte man sie zu einem politischen Bekenntnis werden durch die einfache Tatsache, daß er sie anwandte, zu einem Akt, der Kommentare nach sich zieht.
Meine Mutter rechnete sehr auf den Salat aus Ananas und Trüffeln. Der Botschafter aber blieb, nachdem er einen Augenblick sein durchdringendes Beobachterauge darauf gerichtet, beim Essen in diplomatische Zurückhaltung gehüllt und gab uns nicht seine Meinung preis. Meine Mutter nötigte ihn, noch einmal davon zu nehmen. Das tat Herr von Norpois auch, sagte aber dabei statt des erhofften Komplimentes: »Ich gehorche, gnädige Frau, da ich sehe, daß es von Ihrer Seite ein wahrhafter Ukas ist.«
»Wir lasen in den »Blättern«, daß Sie sich des längeren mit dem König Theodosius unterhalten haben«, äußerte mein Vater.
»Jawohl, der König, der ein ungewöhnliches Gedächtnis für Physiognomien besitzt, hatte, als er mich im Parkett bemerkte, die Güte, sich zu erinnern, daß mir die Ehre widerfahren war, ihn einige Tage hindurch am bayrischen Hof zu sehen, zur Zeit, als er noch nicht an seinen orientalischen Thron dachte (wie Sie wissen, hat ihn ein europäischer Kongreß berufen, und er hat sogar sehr gezögert, diese Krone anzunehmen, die er seiner Familie, der, heraldisch gesprochen, vornehmsten von ganz Europa, etwas unangemessen fand). Ein Adjutant forderte mich auf, Seine Majestät zu begrüßen, und ich habe mich natürlich beeilt, dem Befehl nachzukommen.« »Sind Sie mit den Ergebnissen seines Aufenthaltes zufrieden gewesen?«
»Oh, ich war entzückt! Es lag nah, einige Befürchtungen zu hegen, wie ein so junger Monarch sich aus der schwierigen Affäre ziehen würde, zumal bei einer so komplizierten Konstellation. Natürlich hatte ich meinerseits volles Vertrauen zu dem politischen Sinn des Fürsten; aber ich muß sagen, daß meine Hoffnungen noch übertroffen worden sind. Der Toast, den er im Élysée hielt und der, wie ich aus bestbeglaubigter Quelle weiß, vom ersten bis zum letzten Wort sein eigenes Werk war, verdiente in vollem Maße das Interesse, welchem er überall begegnete. Dieser Toast ist schlechthin ein Meisterstück, etwas kühn, das muß ich zugeben, aber von einem Wagemut, den die Ereignisse, alles in allem, vollauf gerechtfertigt haben. Die diplomatischen Traditionen haben sicher ihr Gutes, aber in dem besondern Falle hatten sie dazu geführt, daß sein und unser Land in einer dumpfen Atmosphäre lebten, die den Atem benahm. Nun, es gibt eine Art, frische Luft zu schaffen, allerdings eine von denen, die man nicht unbedingt empfehlen kann, die der König Theodosius sich aber erlauben konnte, nämlich: die Fensterscheiben einzuschlagen. Das hat er mit guter Laune getan und alle Welt entzückt, dazu mit einer Treffsicherheit im Ausdruck, an der man gleich das Geschlecht gebildeter Fürsten erkannte, dem er von Mutterseite angehört. Ganz gewiß war, als er von »Wahlverwandtschaften« sprach, die sein Land mit Frankreich verbänden, dies Wort, so ungebräuchlich es im Wortschatz der Kanzleien sein mag, außerordentlich glücklich. Sie sehen (dabei wandte er sich an mich), Literatur schadet nicht, selbst in der Diplomatie, ja selbst auf dem Thron. Die Tatsache stand seit langem fest, das geb ich zu, und die Beziehungen der beiden Länder waren bereits ausgezeichnete geworden. Allein, das mußte noch ausgesprochen werden. Man wartete auf das Wort, es wurde das rechte gefunden. Sie haben gesehen, wie es gewirkt hat. Ich meinesteils habe von ganzem Herzen Beifall gezollt.« »Da mag Ihr Freund, Herr von Vaugoubert, der die Annäherung seit Jahren vorbereitete, zufrieden gewesen sein.«
»Um so mehr als Seine Majestät, wie das so seine Art ist, Wert darauf legte, ihm damit eine Überraschung zu bereiten. Überrascht war übrigens alle Welt, angefangen vom Minister des Äußeren, der, wie ich gehört habe, die Sache nicht nach seinem Geschmack fand. Einem, der ihm davon sprach, soll er sehr eindeutig und laut genug, daß es die nächsten hören konnten, erwidert haben: »Man hat mich weder zu Rat gezogen noch vorbereitet«, womit er klar zu verstehen gab, daß er jede Verantwortung in der Angelegenheit ablehne. Die hat allerdings einen schönen Spektakel ergeben, und ich möchte nicht zu behaupten wagen (er lächelte spöttisch), daß gewisse Kollegen, denen die Linie des geringsten Widerstandes die liebste ist, ihre Ruhe behalten haben. Vaugoubert war, wie Sie wissen, wegen seiner Annäherungspolitik hart angegriffen worden und hatte viel zu leiden gehabt, da er sehr empfindlich und eine Seele von einem Menschen ist. Dafür kann ich zeugen: er ist zwar jünger als ich, bedeutend jünger, aber ich war viel mit ihm zusammen, wir sind Freunde von alters her, ich kenne ihn genau. Wer kennt ihn übrigens nicht? Diese kristallene Seele. Das ist sogar der einzige Fehler, den man ihm vorwerfen könnte, das Herz eines Diplomaten muß nicht so unbedingt durchsichtig sein wie seines ist. Was nicht hindert, daß davon die Rede ist, ihn nach Rom zu schicken, das wäre ein schöner Schritt vorwärts in der Karriere, aber ein hartes Stück Arbeit. Unter uns, so sehr Vaugoubert jeder Ehrgeiz fernliegt, ich glaube, er wäre sehr zufrieden damit und wünscht nicht, diesen Kelch an sich vorübergehn zu sehen. Vielleicht wird er da unten Wunder tun; er ist der Kandidat der Consulta, und ich für mein Teil kann ihn mir sehr gut mit seiner Künstlernatur im Rahmen des Palazzo Farnese und in der Galerie der Caracci denken. Eigentlich sollte niemand ihn hassen können; aber um den König Theodosius gibt es eine ganze Kamarilla, die mehr oder weniger der Wilhelmstraße ergeben ist, deren Inspirationen gelehrig folgt und dem hohen Herrn auf alle Art das Leben schwer macht. Vaugoubert hat nicht nur den Intrigen der Couloirs standzuhalten gehabt, sondern auch den Schmähungen der Lohnschreiber, die dann später, feige wie edle bezahlten Journalisten, die ersten waren, die zu Kreuze krochen, inzwischen sich aber nicht abschrecken ließen, alberne Anwürfe ehrloser Gesellen gegen unseren Repräsentanten auszuschlachten. Über einen Monat tanzten Vaugouberts Feinde rings um ihn her den Tanz um den Skalp« – dies Wort stieß Herr von Norpois mit Nachdruck hervor. – »Aber nun war er gewarnt, und er hat die Schmähungen erwidert mit einem Fußtritt« – das kam noch energischer heraus und war von einem so wilden Blick begleitet, daß wir einen Augenblick zu essen aufhörten. »Wie ein schönes arabisches Sprichwort sagt: Die Hunde bellen, und die Karawane zieht vorbei.« Mit diesem Zitat endete Herr von Norpois, um auf unseren Gesichtern den Eindruck seiner Worte zu studieren. Der war groß, das Sprichwort war uns bekannt. Es hatte gerade in diesem Jahre bei den Leuten von Rang jenes andere »Wer Wind sät, wird Sturm ernten« ersetzt, welches ruhebedürftig geworden war. Die Prominenten bestellten ihren Boden abwechselnd, meist nach einem Dreifeldersystem. Derartige Zitate, mit denen Herr von Norpois seine Artikel in der Revue meisterhaft zu zieren wußte, waren aber durchaus nicht notwendig, diese Artikel muteten ohnehin gediegen und informiert an. Auch ohne diesen Schmuck genügte es, daß er im richtigen Moment schrieb – und das verfehlte er nicht –: »Das Kabinett von Saint-James fühlte nur allzubald die Gefahr« oder etwa: »Groß war die Erregung am Pont-aux-Chantres, wo man mit unruhigen Blicken die egoistische, aber geschickte Politik der doppelköpfigen Monarchie verfolgte« oder: »Ein Schrei der Entrüstung erscholl vom Montecitorio« oder auch: »das ewige Doppelspiel, wie es nun einmal in der Art des Ballplatzes liegt«. An diesen Ausdrücken erkannte der profane Leser gleich mit Respekt den Diplomaten von Beruf. Was ihn aber noch distinguierter erscheinen ließ und als Besitzer einer höheren Kultur, das war die feine Verwertung von Zitaten, deren Musterbeispiel damals war: »Macht mir gute Politik und ich werde euch gute Finanzen machen, wie der Baron Louis zu sagen pflegte«. (Man hatte damals noch nicht vom Orient importiert: »Der Sieg fällt von zwei Gegnern dem zu, der eine Viertelstunde länger leiden kann als der andere, wie die Japaner sagen.«) Der Ruf hoher Bildung, verbunden mit einem wahren Genie der Intrige, die sich unter der Maske der Anteillosigkeit verbarg, hatte Herrn von Norpois in die Académie des Sciences Morales gebracht. Und manche Leute meinten, er würde auch in der Academie Française am Platze sein; denn eines Tages deutete er an, daß wir durch engeren Anschluß an Rußland zu einer Entente mit England gelangen könnten, und schrieb entschlossen: »Eines mag man sich doch am Quai d'Orsay gesagt sein lassen und von jetzt ab in allen Handbüchern der Geographie, die in dieser Beziehung unvollständig sind, lehren und jeden Abiturienten unbarmherzig zurückstellen, der es nicht weiß: ›Wenn alle Wege nach Rom führen, so geht dafür die Straße von Paris nach London notwendig über Petersburg‹.«
»Alles in allem«, fuhr Herr von Norpois, an meinen Vater gewandt, fort, »hat Vaugoubert sich da einen schönen Erfolg erarbeitet, der seine Berechnungen weit übertraf. Er war auf einen korrekten Toast gefaßt gewesen (und nach den Wetterwolken über den letzten Jahren war das schon allerlei), aber auf mehr auch nicht. Mehrere Personen, die dem Diner beiwohnten, haben mir versichert, daß man sich beim Lesen des Toastes keine Vorstellung machen kann von dem Eindruck, den er hervorrief, so gut brachte der König, dieser Meister des gesprochenen Wortes, jede Einzelheit zur Geltung, so geschickt unterstrich er nebenher jede feinere Anspielung und Schattierung. Ich habe mir da ein pikantes Detail erzählen lassen, das die jugendliche Anmut, die dem König Theodosius alle Herzen gewinnt, wieder einmal hervorhebt. Just bei dem Worte »Wahlverwandtschaften«, so hat man mir versichert, also bei der großen Neuheit der Rede, die, wie Sie sehen werden, noch auf lange Zeit die Kanzleien mit Stoff zu Kommentaren versorgen wird, habe der König in der Voraussicht von der Freude unseres Botschafters, der hierin die gerechte Krönung seiner Bemühungen, ja man könnte sagen, seiner Träume erblicken, hierin geradezu seinen Marschallstab finden mußte, sich halb zu Vaugoubert gewandt, den bannenden Blick der Öttinger auf ihn gerichtet und das trefflich gewählte Wort »Wahlverwandtschaften«, diesen Glücksfund, in einem Tone ausgesprochen, an dem alle merkten, daß es mit Vorbedacht und in genauer Sachkenntnis geschah. Vaugoubert scheint es nicht leicht geworden zu sein, seine Erregung zu meistern, und da kann ich ihn bis zu einem gewissen Grade verstehen. Eine durchaus glaubwürdige Person hat mir sogar anvertraut, Seine Majestät habe sich, als sie nach dem Essen Cercle hielt, dem Botschafter genähert und mit halblauter Stimme zu ihm gesagt: »Sind Sie mit Ihrem Schüler zufrieden, mein lieber Marquis?««