»Guten Tag, Clotilde.«
»Guten Tag, Madeleine.«
Sie umarmten sich. Dann hielt das Kind seine Stirn zum Kusse hin, mit der Sicherheit einer Erwachsenen und sagte:
»Guten Tag, Kusine.«
Madame Forestier gab ihr einen Kuß und stellte dann vor:
»Monsieur Georges Duroy, ein guter Freund von Charles, — Madame de Marelle, meine Freundin und Verwandte.«
Sie fügte hinzu:
»Sie wissen, wir sind hier ganz einfach unter uns, ohne Feierlichkeit und Zwang. Das ist selbstverständlich, nicht wahr?«
Der junge Mann verbeugte sich.
Doch die Tür ging von neuem auf und ein ganz kleiner, runder, dicker Herr erschien. Er führte am Arm eine große, schöne Frau, größer als er selbst, viel jünger, mit vornehmem Benehmen und ernstem Wesen. Das war Herr Walter, Deputierter, Finanzier, Geld- und Geschäftsmann, ein südfranzösischer Jude, Direktor der Vie Française, und seine Frau, geborene Basile-Ravalau, die Tochter des Bankiers gleichen Namens. Dann kamen gleich nacheinander der elegante Jaques Rival und Norbert de Varenne, dessen Rockkragen unter der steten Berührung der langen Dichtermähne glänzte, die bis an die Schulter reichte und diese mit kleinen weißen Schuppen bedeckte.
Seine schlecht gebundene Krawatte schien er nicht das erstemal zu tragen. Mit der Grazie eines galanten alten Herrn küßte er Frau Forestier auf das Handgelenk und sein langes Haar fiel dabei wie ein Wasserfall auf den nackten Arm der jungen Dame. Nun erschien auch der Hausherr und entschuldigte sich für sein spätes Erscheinen. Er sei jedoch in der Redaktion durch den Fall Morel zurückgehalten worden. Der radikale Abgeordnete Morel hatte soeben den Minister wegen einer Kreditforderung für die Kolonisierung Algiers interpelliert.
Der Diener meldete: »Es ist angerichtet!«
Man ging in das Speisezimmer.
Duroy saß bei Tisch zwischen Madame de Marelle und ihrer Tochter. Er fühlte sich von neuem verlegen, weil er fürchtete, irgendeinen Irrtum in der richtigen Handhabung von Gabel, Löffel oder Gläsern zu begehen. Vier Gläser standen vor ihm, von denen eins etwas matt bläulich war. Was mochte man wohl aus diesem trinken? Während der Suppe herrschte Schweigen, dann fragte Norbert de Varenne:
»Haben Sie den Prozeß Gauthier gelesen?«
Und nun redete man hin und her über diesen Ehebruchsskandal, der durch eine Erpressung besonders verwickelt war. Man sprach nicht darüber, wie man im Familienkreis über Ereignisse spricht, die in den Zeitungen stehen, sondern wie man unter Ärzten über Krankheiten, unter Obsthändlern über Früchte spricht. Man war nicht entrüstet oder erstaunt über die Tatsachen, man forschte nur mit einer beruflichen Sorgfalt und mit vollständiger Gleichgültigkeit gegenüber dem Verbrechen selbst, nach dessen tieferen, verborgenen Ursachen. Man suchte einfach die Motive der Handlung zu erklären, all die psychischen Vorgänge, die dieses Drama veranlaßt hatten; es war sozusagen das wissenschaftliche Resultat einer besonderen Geistesverfassung. Auch die Damen nahmen an dieser Untersuchung regsten Anteil.
Es wurden dann noch andere Ereignisse diskutiert, besprochen, von allen Seiten beleuchtet und nach ihrer Wichtigkeit beurteilt mit dem scharfen, praktischen Sinn der Zeitungsmenschen, der Nachrichtenhändler, des zeilenweisen Verschacherns der menschlichen Komödie, genau, wie man unter Kaufleuten die Gegenstände prüft und dreht und abschätzt, bevor man sie dem Publikum zum Verkauf anbietet. Dann kam das Gespräch auf ein Duell, und Jaques Rival ergriff das Wort. Das war sein Fach: niemand anders durfte diese Frage behandeln.
Duroy traute sich nicht, an der Unterhaltung teilzunehmen. Er betrachtete ein paarmal seine Nachbarin, deren üppiger Busen ihn erregte. An ihrem Ohr hing ein Diamant, der durch einen dünnen Goldfaden gehalten wurde, wie ein Wassertropfen, der über das Fleisch geglitten war. Von Zeit zu Zeit machte sie eine Bemerkung, die stets ein Lächeln auf ihren Lippen hervorrief. Sie hatte einen witzigen, liebenswürdigen, schnell auffallenden Esprit, den Esprit eines alles wissenden Gassenjungen, der die Dinge mit Gleichmut betrachtet und mit leichtem, lustigem Spott über sie hinweggeht.
Duroy versuchte vergeblich, ihr irgendein Kompliment zu sagen, und da er nichts fand, beschäftigte er sich mit ihrer Tochter; er goß ihr Wein ein, hielt ihr die Schüssel, bediente sie und erwies sich als aufmerksamer Nachbar. Das Kind war viel ernster als seine Mutter, dankte mit ruhiger Würde, nickte mit dem Kopf und sagte:
»Sie sind sehr liebenswürdig… «, und dann lauschte sie wieder mit nachdenklichem Gesichtsausdruck der Unterhaltung der Erwachsenen.
Das Essen war vortrefflich und fand allgemeinen Beifall. Herr Walter aß wie ein hungriger Wolf, sprach fast gar nichts und betrachtete unter seinem Kneifer mit schrägen Blicken die Speisen, die ihm serviert wurden. Norbert de Varenne wetteiferte mit ihm und ließ Sauce auf den Hemdeinsatz fallen.
Forestier überwachte das Ganze mit lächelnder Aufmerksamkeit, er wechselte von Zeit zu Zeit mit seiner Frau Blicke des Einverständnisses, als wollte er sagen: »Siehst du, unser schwieriges, gemeinsames Werk klappt ausgezeichnet.«
Die Gesichter wurden rot, die Stimmen laut. Alle Augenblicke flüsterte der Diener den Gästen ins Ohr: »Corton — Château Larose.«
Duroy fand den Corton nach seinem Geschmack und ließ jedesmal sein Glas füllen. Eine angenehme, erwärmende Fröhlichkeit erfüllte ihn, eine heiße Freude, die ihm vom Magen in den Kopf stieg, durch seine Adern rann und ihn ganz durchdrang. Er fühlte sich von vollkommenstem Behagen erfüllt, von einem Behagen des Lebens und Denkens, des Körpers und der Seele.
Und es überkam ihn ein Verlangen, zu sprechen, sich hervorzutun, gehört und geschätzt zu werden, wie diese Männer, deren geringste Bemerkungen lauten Beifall fanden.
Die Unterhaltung ging unaufhörlich, sprang von einer Ansicht zur anderen, hatte nun alle Ereignisse des Tages erschöpft und dabei tausend Fragen gestreift. Dann kehrte sie zu der großen Interpellation des Herrn Morel über die Kolonisation in Algier zurück.
Herr Walter machte zwischen zwei Gängen ein paar scherzhafte Bemerkungen, denn er war geistreich und für Witze veranlagt. Forestier erzählte über seinen Artikel vom nächsten Tage. Jaques Rival verlangte eine militärische Verwaltung mit Überlassung von Ländereien an alle Offiziere, die zwanzig Jahre im Kolonialdienst verbracht hatten.
»Auf diese Weise«, sagte er, »werden sie eine energische Bevölkerung schaffen, die das Land seit längerer Zeit kennt und liebt, seine Sprache beherrscht und über alle Schwierigkeiten in kolonialen Fragen Bescheid weiß, an denen die Neulinge unfehlbar stolpern müssen.«
Norbert de Varenne unterbrach ihn.
»Ja … sie werden über alles Bescheid wissen, nur nicht über die Landwirtschaft. Sie werden Arabisch verstehen, aber keine Ahnung davon haben, wie man Rüben pflanzt oder Getreide sät. Sie werden stark im Fechten sein und schwach im Düngen. Nein, dieses neue Land muß für jedermann offen sein. Die Tüchtigen werden dann dort ihren Weg machen, die anderen gehen eben zugrunde. Das ist ein soziales Gesetz.«
Es folgte ein kurzes Schweigen. Man lächelte.
George Duroy öffnete den Mund, und erstaunt über den Klang seiner Stimme, als ob er sich selbst noch nie hatte reden hören, sagte er:
»Woran es da unten am meisten fehlt, das ist der gute Boden. Die wirklich fruchtbaren Ländereien kosten da gerade soviel wie in Frankreich und werden als Kapitalanlage von reichen Parisern aufgekauft. Die wirklich armen Kolonisten, die auswandern, um Brot zu gewinnen, sind auf die Wüste angewiesen, wo aus Mangel an Wasser gar nichts gedeiht.«
Alle blickten ihn an; er fühlte, wie er rot wurde.
Herr Walter fragte: »Kennen Sie Algier, mein Herr?«
Er antwortete: »Jawohl, mein Herr, ich war dort achtundzwanzig Monate und habe mich in allen drei Provinzen aufgehalten.«
Nun fragte ihn plötzlich Norbert de Varenne, der den Fall Morel vergaß, über die Einzelheiten in den Sitten der Eingeborenen, die er von einem Offizier erfahren hatte. Es handelte sich um Mzab, eine seltsame, kleine, arabische Republik inmitten der Sahara, im trockensten Teile jenes heißen Erdteiles.
Duroy war zweimal in Mzab gewesen und erzählte nun von den Sitten dieses eigenartigen Landes, wo Wassertropfen Goldwert haben und jeder Bewohner zu allen öffentlichen Arbeiten verpflichtet ist und im Handel und Gewerbe eine Ehrlichkeit herrscht, wie man sie bei zivilisierten Völkern in Europa kaum kennt.
Er sprach mit einem gewissen Schwung; der Wein und der Wunsch zu gefallen, trieben ihn an. Er erzählte Anekdoten aus dem Soldatenleben, Kriegsgeschichten und allerlei kleine Züge aus dem Leben der Araber. Er fand sogar ein paar farbige Ausdrücke zur Schilderung der weiten, gelben Wüstenebene, die unter der verzehrenden Sonnenglut in ewiger öde liegt. Alle Damen hielten die Augen auf ihn gerichtet.
Frau Walter murmelte mit ihrer langsamen Stimme:
»Sie könnten aus ihren Erinnerungen eine Reihe reizender Artikel machen.«
Daraufhin betrachtete auch Herr Walter über seinen Kneifer den jungen Mann, wie er es immer tat, wenn er ein Gesicht wirklich genau sehen wollte. Die Speisen sah er sich unter dem Kneifer hinweg an.
Forestier ergriff die Gelegenheit:
»Verehrter Chef, ich erzählte Ihnen bereits von Herrn George Duroy, und bat Sie, ihn für die politischen Informationen bei uns anzustellen. Seitdem Marambot uns verlassen hat, habe ich niemanden für dringende und vertrauliche Erkundigungen zur Verfügung und für die Zeitung ist dieser Mangel recht bedeutend.«
Papa Walter wurde plötzlich ganz ernst und nahm seine Brille ab, um Duroy noch genauer betrachten zu können. Dann sagte er:
»Sicherlich hat Herr Duroy einen originellen Verstand. Wenn er mich morgen nachmittag um drei Uhr besuchen will, werden wir das besprechen.«
Nach einer kurzen Pause wandte er sich direkt an den jungen Mann:
»Aber schreiben Sie uns sofort eine kleine Reihe von Erinnerungen über Algier. Erzählen Sie über Ihre Eindrücke und bringen Sie damit die Kolonialfrage in Verbindung, so wie Sie es eben taten. Es ist aktuell, höchst aktuell, und es wird unseren Lesern ohne Zweifel zusagen.
Aber beeilen Sie sich. Ich brauche den ersten Artikel schon morgen oder übermorgen, damit wir das Publikum bearbeiten können, solange man darüber in der Kammer debattiert.«
Frau Walter fügte mit jener ernsthaften Liebenswürdigkeit, die sie immer zeigte, noch hinzu:
»Und Sie hätten einen reizenden Titel: ‘Erinnerungen eines afrikanischen Jägers’, nicht wahr, Herr Norbert?«
Der alte Dichter, der erst spät zu Ansehen und Ruhm gekommen war, verabscheute Neulinge und mißtraute ihnen. Er antwortete trocken:
»Ja, ausgezeichnet, vorausgesetzt, daß die Artikel auch die entsprechende Stimmung haben werden, was sehr schwer sein wird. Es kommt nämlich auf die richtige Stimmung an, oder musikalisch ausgedrückt, auf den Ton.«
Madame Forestier warf Duroy einen wohlwollenden, lächelnden Blick zu, wie ein erfahrener Kenner, der sagen will: »Du, du wirst schon deinen Weg machen.«
Madame de Marelle hatte sich mehrmals zu ihm hingedreht, und der Diamant in ihrem Ohr zitterte unaufhörlich, als wollte der dünne Wassertropfen sich ablösen und fallen. Nur die Kleine blieb unbeweglich und ernst und hielt den Kopf über ihren Teller gebeugt.
Der Diener ging rings um den Tisch und schenkte Johannisberger in die mattblauen Gläser, und dann wendete sich Forestier zu Herrn Walter und brachte einen Trinkspruch aus: »Auf langes Gedeihen der Vie Française!«
Alle verbeugten sich vor dem Chef, der lächelte, und Duroy, durch seinen Erfolg berauscht, leerte sein Glas in einem Zuge. Er hätte, so war ihm zumute, ein ganzes Faß austrinken können, er hätte einen Ochsen aufessen, einen Löwen erwürgen können. Er fühlte übermenschliche Kraft in sich, unbesiegbare Energie und unbegrenzte Hoffnungen. Jetzt war er inmitten dieser Menschen zu Hause, er hatte sich hier eine Stellung verschafft, seinen Platz erobert. Jetzt blickte er jedem einzelnen zuversichtlich ins Auge, und zum ersten Male wagte er auch seine Nachbarin anzusprechen.
»Sie haben die schönsten Ohrringe, Madame, die ich je gesehen habe.«
Lächelnd wandte sie sich zu ihm hin.
»Es war ein guter Einfall von mir, die Diamanten so einfach am Ende eines Goldfadens aufzuhängen. Nicht wahr, sie sehen aus wie Tautropfen?«
Verwirrt durch seine eigene Kühnheit und voller Angst, ob er auch nicht eine Albernheit sage, murmelte er:
»Ganz reizend … Aber an Ihren Ohren sehen sie besonders schön aus.«
Sie dankte ihm mit einem Blick, mit einem jener offenen Frauenblicke, die bis ins Herz dringen.
Als er den Kopf herumwandte, begegnete er wieder den Augen der Frau Forestier, die ihn noch immer wohlwollend ansahen, doch glaubte er in ihnen jetzt eine lebhaftere Heiterkeit, eine leise Hinterlist und eine Ermutigung zu lesen.
Die Herren redeten jetzt alle durcheinander, mit lebhaften Gebärden und schallender Stimme. Man besprach den Riesenplan der Untergrundbahn. Der Gegenstand war auch beim Dessert noch nicht erschöpft und jeder hatte einige Dinge zu sagen über die zu langsamen Verbindungen in Paris, über die Unbequemlichkeiten der Straßenbahn und der Omnibusse und über die grobe Unverschämtheit der Droschenkutscher.
Dann verließ man den Speisesaal, um Kaffee zu trinken. Duroy bot aus Scherz dem kleinen Mädchen seinen Arm an, das ihm mit ernster Miene dankte und sich auf die Fußspitzen stellte, um ihre Hand auf den Arm des Nachbars legen zu können.