Duroy hörte nicht mehr zu. Eins von diesen Mädchen lehnte sich über die Loge und sah ihn an. Es war eine üppige Brünette mit weißgeschminktem Gesicht und schwarzen Augen, die mit dem Farbstift unterstrichen waren, und riesigen, angemalten Augenbrauen. Über ihrer allzu starken Brust spannte sich die dunkle Seide ihres Kleides, und ihre geschminkten, blutroten Lippen gaben ihr etwas Tierisches, Sinnliches, Wildes, das aber trotzdem anziehend wirkte.
Sie winkte mit einer Kopfbewegung einer ihrer Freundinnen zu, die gerade vorbeikam, einer ebenfalls korpulenten, rothaarigen Kokotte, und sprach zu ihr so laut, daß man es hören konnte:
»Sieh mal her, das ist ein hübscher Junge. Wenn er mich für zweihundert Francs haben wollte, ich würde nicht nein sagen.«
Forestier drehte sich um und schlug Duroy lächelnd auf die Schenkel: »Das gilt dir, du hast Erfolg, mein Lieber, ich gratuliere!«
Der frühere Unteroffizier wurde rot und mechanisch tastete er nach den zwei Goldstücken in seiner Westentasche. Der Vorhang fiel und das Orchester begann einen Walzer zu spielen.
Duroy fragte: »Wollen wir nicht auch einmal durch den Wandelgang gehen?«
»Wie du willst.«
Sie verließen ihre Loge und waren sofort von dem Strom der Menge umgeben. Gedrückt, gepreßt, hin und her gestoßen, gingen sie weiter und ein Wald von Hüten wogte vor ihren Augen. Zwischen Ellenbogen, Brüsten und Rücken der Männer drängten sich behend paarweise die Kokotten hindurch, die sich hier so recht in ihrem Element, wie Fische im Wasser, zu fühlen schienen.
Duroy war entzückt. Er ließ sich treiben und wurde von der stickigen Luft, die durch Tabak, Menschenausdünstungen und Dirnenparfüms verpestet war, berauscht. Aber Forestier schwitzte, keuchte und hustete.
»Gehen wir in den Garten«, sagte er.
Sie wandten sich nach links und kamen in eine Art Wintergarten, wo zwei geschmacklose Fontänen ein bißchen kühle Luft schafften. Unter den paar Taxusbäumen und Thujas saßen Männer und Frauen an Zinktischen und tranken.
»Noch ein Bier?« fragte Forestier.
»Ja, gern.«
Sie setzten sich und beobachteten das Publikum. Von Zeit zu Zeit blieb ein herumspazierendes Mädchen stehen und fragte mit ordinärem Lächeln:
»Laden Sie mich nicht ein?« — Und wenn Forestier erwiderte : »Ja, zu einem Glas Wasser aus dem Springbrunnen«, so entfernte sie sich mit einem ärgerlichen Schimpfwort.
Aber die dicke Brünette tauchte wieder auf. Sie kam in übermütiger Haltung, Arm in Arm mit der dicken Rothaarigen. Sie bildeten wirklich ein hübsches, gut ausgesuchtes Frauenpaar.
Sobald sie Duroy erblickte, lächelte sie, als hätten sich ihre Augen schon vertraute und verschwiegene Dinge gesagt. Sie nahm einen Stuhl und setzte sich ruhig ihm gegenüber und ließ ihre Freundin auch Platz nehmen. Dann rief sie mit lauter Stimme:
»Kellner, zwei Grenadine!«
Erstaunt sagte Forestier:
»Du genierst dich wirklich nicht!«
»Ich bin in deinen Freund verliebt«, antwortete sie. »Er ist wirklich ein schöner Kerl. Ich glaube, ich könnte seinetwegen Dummheiten begehen.«
Duroy wußte vor Verlegenheit nicht, was er sagen sollte. Er drehte an seinem wohlgepflegten Schnurrbart und lächelte nichtssagend vor sich hin. Der Kellner brachte die Limonaden und die beiden Freundinnen tranken sie in einem Zuge aus. Dann standen sie auf und die Brünette nickte Duroy wohlwollend zu und gab ihm mit ihrem Fächer einen leichten Schlag auf den Arm: »Danke, mein Schatz. Du bist nicht sehr geschwätzig.«
Dann gingen sie fort, sich in den Hüften wiegend.
Forestier begann zu lachen:
»Sag mal, alter Freund, weißt du, daß du wirklich Erfolg bei Weibern hast? So was muß man pflegen, damit kann man sehr weit kommen.« Er schwieg eine Sekunde, dann setzte er hinzu mit dem träumerischen Ton von Leuten, die laut denken: »Durch sie erreicht man auch am meisten. Und als Duroy immer noch vor sich hin lächelte, ohne etwas zu erwidern, fragte er: »Bleibst du noch hier? Ich will nach Hause, ich habe genug.«
»Ja,« murmelte der andere, »ich bleibe noch etwas. Es ist ja noch nicht spät.«
Forestier stand auf. »Auf Wiedersehen, also bis morgen. Vergiß nicht, um halb acht abends, 17 Rue Fontaine.«
»Abgemacht, auf morgen, danke!« — Sie drückten sich die Hände, und der Journalist ging fort.
Sobald er fort war, fühlte Duroy sich frei. Er tastete vergnügt von neuem nach den beiden Goldstücken in seiner Westentasche. Dann erhob er sich und mischte sich unter die Menge, die er suchend durchforschte.
Bald erblickte er die beiden Mädchen, die Brünette und die Rothaarige, die immer noch in stolzer Haltung durch die Menge zogen.
Er ging direkt auf sie zu. Als er ihnen ganz nahe war, verlor er wieder den Mut.
Die Brünette sagte: »Na, hast du deine Sprache wiedergefunden?«
Er stotterte: »Allerdings!« Ein zweites Wort konnte er aber nicht hervorbringen.
Alle drei blieben stehen und hielten die Bewegung der Spaziergänger auf, die einen Wirbel um sie bildeten.
Die Brünette fragte ihn plötzlich: »Kommst du zu mir?«
Er zitterte vor Begierde und erwiderte schroff:
»Ja, aber ich habe nur ein Goldstück in der Tasche.«
Sie lächelte gleichgültig: »Das tut nichts.«
Sie nahm ihn beim Arm, als Zeichen, daß sie ihn erobert hatte.
Als sie das Lokal verließen, überlegte er, daß er sich mit den andern zwanzig Francs ohne Schwierigkeiten für den nächsten Abend einen Frack leihen könnte.
Kapitel
2
»Bitte, wo wohnt hier Herr Forestier?«
»Im dritten Stock links.«
Der Concierge gab diese Auskunft mit freundlichem Ton, aus dem Hochachtung vor dem Mieter zu entnehmen war.
George Duroy stieg die Treppe hinauf. Er war ein wenig verlegen, etwas schüchtern und fühlte sich nicht sehr behaglich. Zum ersten Male in seinem Leben trug er einen Frack, und das ganze Zubehör dieser Kleidung störte ihn. Er fühlte, daß vieles an ihm defekt war. Seine Stiefel sahen ziemlich elegant aus, denn er hielt auf gute Fußbekleidung, waren aber keine Lackschuhe. Das Hemd hatte er sich erst vormittags für vier Francs fünfzig im Louvre gekauft, und der schmale, gestickte Brusteinsatz sah schon jetzt zerknittert aus. Übrigens waren die anderen Oberhemden, die er sonst trug, alle mehr oder weniger beschädigt und konnten überhaupt nicht in Frage kommen. Die Hosen waren ihm viel zu breit, sie paßten sich schlecht der Beinform an und schlugen über der Wade häßliche Falten. Man sah es ihnen an, daß sie abgenutzt und für einen anderen zugeschnitten waren. Nur der Frack saß gut, denn er hatte einen gefunden, der richtig zu seiner Figur paßte.
Langsam stieg er die Treppe hinauf. Vor Angst pochte ihm sein Herz. Vor allem quälte ihn die Furcht, lächerlich zu erscheinen. Plötzlich sah er gerade vor sich einen Herrn in großer Toilette, der ihn betrachtete. Sie standen so dicht beieinander, daß Duroy unwillkürlich einen Schritt zurücktrat. Dann blieb er verblüfft stehen: es war sein eigenes Spiegelbild in einem hohen Wandspiegel, der im Flur des ersten Stockes eine lange Perspektive vortäuschte. Er zitterte vor lauter Freude, nie hätte er gedacht, daß er so vornehm und elegant aussehen könnte. Zu Hause, in seinem kleinen Rasierspiegel, dem einzigen, den er besaß, hatte er sich nicht richtig betrachten können und war nach einem flüchtigen Blick über die Mängel seiner improvirsierten Gesellschaftstoilette außer sich geraten. Der Gedanke, lächerlich zu erscheinen, machte ihn verrückt. Als er sich aber plötzlich in dem Spiegel erblickte, hatte er sich nicht einmal erkannt, er hatte sich für einen anderen gehalten, für einen Herrn aus bester Gesellschaft, den er beim ersten Anblick für sehr elegant und schick hielt. Und jetzt, wo er sich sorgfältig betrachtete, fand er, daß die Gesamtwirkung tatsächlich zufriedenstellend war.
Darauf studierte er seine Haltung, wie ein Schauspieler, der seine Rolle lernt. Er lächelte sich zu, reichte sich selber die Hand, machte verschiedene Gebärden, versuchte sich einzelne Gemütsbewegungen vorzuspielen: Erstaunen, Freude, Beifall; er beobachtete die Nuancen des Lächelns und studierte die stumme Sprache der Blicke, um sich bei Damen beliebt zu machen und ihnen anzudeuten, daß er sie liebt und bewundert.
Eine Tür ging im Treppenflur auf. Er fürchtete, überrascht zu werden, und lief hastig hinauf, aus Angst, daß ihn ein Gast seines Freundes so gesehen hätte, wie er sich selbst Faxen vormachte. Er erreichte den zweiten Stock, bemerkte einen anderen Spiegel und mäßigte seine Schritte, um sich im Vorbeigehen wieder genau beobachten zu können. Seine Erscheinung kam ihm jetzt wirklich elegant vor. Sein Auftreten und seine Haltung waren gut. Und ein maßloses Selbstvertrauen und Übermut erfüllten seine Seele. Ja, mit diesem Äußeren und mit dem festen Willen, vorwärts zu kommen, mit seiner rücksichtslosen Energie und seinem unabhängigen Verstand mußte er Glück haben. Die Treppe zum dritten Stock wäre er am liebsten hinaufgesprungen. Vor dem dritten Spiegel blieb er nochmals stehen, drehte gewohnheitsmäßig den Schnurrbart, nahm seinen Zylinderhut ab, um seine Frisur glatt zu streichen und murmelte mit halblauter Stimme: »Ein glänzender Einfall.« Dann streckte er die Hand aus und klingelte.
Die Tür ging fast im selben Moment auf und er befand sich vor einem ernsthaften, glattrasierten Diener in schwarzem Frack, der eine so tadellose Haltung zeigte, daß Duroy, ohne zu begreifen weshalb, von neuem dieselbe unerklärliche Unsicherheit und Verlegenheit fühlte; vielleicht durch den unbewußten Vergleich der Schnitte ihrer Anzüge hervorgerufen. Dieser Diener, der Lackschuhe trug, nahm Duroy den Überzieher ab, den dieser auf dem Arm getragen hatte, damit die Flecke nicht allzu sichtbar waren, und fragte ihn:
»Wen darf ich melden?«
Dann hob er den Türvorhang und rief den Namen in den Salon hinein.
Aber Duroy verließ plötzlich alle seine Würde. Er fühlte sich vor Furcht gelähmt und atmete schwer. Er stand jetzt an der Schwelle eines neuen Lebens, von dem er geträumt und auf das er gehofft hatte.
Trotzdem ging er weiter. Eine junge, blonde Dame stand ganz allein in einem großen hellerleuchteten Zimmer, das voller Topfpflanzen war, wie ein Treibhaus.
Ganz außer Fassung gebracht, blieb er plötzlich stehen. Wer war diese Dame, die ihn lächelnd erwartete? Dann fiel ihm ein, daß Forestier verheiratet war, und der Gedanke, daß diese hübsche, elegante Blondine die Frau seines Freundes war, verblüffte ihn vollends.
Er murmelte:
»Madame, ich bin … «
Sie reichte ihm die Hand.
»Ich weiß es, mein Herr. Charles hat mir erzählt, wie er Sie gestern getroffen hat, und ich bin sehr froh, daß er den guten Einfall hatte, Sie heute zum Diner einzuladen.«
Er errötete bis an die Ohren und wußte absolut nicht, was er erwidern sollte. Er fühlte sich beobachtet, von Kopf bis zu den Füßen gemustert, abgeschätzt, gewogen. Er hatte Lust, sich zu entschuldigen, einen Grund zu erfinden, um die Nachlässigkeit seiner Kleidung zu erklären, aber er fand keinen, und wagte es nicht, diesen heiklen Punkt zu berühren. Er setzte sich in einen Armsessel, den sie ihm anbot, und als er unter sich den weichen und elastischen Samt des Polsters fühlte, als dessen Seitenlehnen ihn wie ein Paar zärtlicher Arme umfingen, da war es ihm, als sei er jetzt endlich in ein neues, reizvolles Leben getreten, als hätte er was Kostbares erobert, als sei er nun endlich etwas geworden; und er betrachtete Frau Forestier, deren Blicke unverwandt auf ihm ruhten. Sie trug ein hellblaues Kaschmirkleid, das ihre biegsame Figur und ihre volle Brust zur Geltung brachte. Durch die weißen Spitzen, mit denen der Kragen und die kurzen Ärmel besetzt waren, schimmerte das Fleisch ihrer Arme und ihres Busens, und die Haare, die auf dem Scheitel zusammengenommen waren und sich im Nacken leicht kräuselten, bildeten eine leichte Flaumwolke über dem Halse.
Ihre Blicke beruhigten Duroy, sie erinnerten ihn, ohne daß er wußte warum, an den Blick des Mädchens, das er gestern in den Folies Bergère getroffen hatte. Madame Forestier hatte blaugraue Augen, von einem seltsamen Ausdruck, eine schmale Nase, starke Lippen, ein etwas fleischiges Kinn und unregelmäßige, verführerische Gesichtszüge voll Anmut, Liebenswürdigkeit und List. Es war eins von diesen Gesichtern, die mit jeder Linie einen besonderen Reiz und Schönheit ausdrücken und die mit jeder Bewegung etwas zu sagen oder zu verbergen scheinen. Nach einer kurzen Pause fragte sie ihn:
»Sind Sie schon lange in Paris?«
Er gewann allmählich seine Selbstbeherrschung wieder:
»Seit einigen Monaten erst, Madame. Ich bin bei der Eisenbahn angestellt, aber Ihr Gatte hatte mir die Hoffnung gemacht, ich könnte mit seiner Hilfe Journalist werden.«
Sie hatte ein noch ausdrucksvolleres und wohlwollenderes Lächeln und murmelte mit leiser Stimme:
»Ich weiß.«
Es klingelte von neuem und der Diener meldete: »Madame de Marelle.«
Es war eine kleine Brünette, die mit flinken Bewegungen eintrat. Ihre Gestalt schien von Kopf bis zu den Füßen in ihrem ganz einfachen dunklen Kleide hervorzutreten. Nur eine rote Rose, die sie sich ins Haar gesteckt hatte, zog gewaltsam das Auge an. Sie unterstrich den Charakter ihres Aussehens, sie betonte ihr eigenartiges Wesen und gab ihr den lebhaften, schnellen Ausdruck, der zu ihr paßte. Ein kleines Mädchen in kurzem Kleide folgte ihr. Madame Forestier eilte ihr entgegen: