KAPITEL SECHS

716 Words
KAPITEL SECHS Der Wolf lag auf seinem Bauch auf dem harten Wüstenboden. Dafür hielt der Mann sich selbst – für eine Bestie auf der Jagd nach ihrem nächsten Opfer. Er hatte einen exzellenten Blick auf Fort Nash Mowat aus seiner erhöhten Position und die Nachtluft war angenehm und kühl. Er spähte zu dem heutigen Opfer durch das Nachtsichtvisier auf seinem Gewehr. Er dachte zurück an seine bisherigen, verhassten Opfer. Vor drei Wochen war es Rolsky gewesen. Dann kam Fraser. Dann Worthing. Er hatte sie mit großer Finesse erledigt, mit Schüssen in den Kopf, so sauber, dass sie wahrscheinlich noch nicht einmal gewusst hatten, was sie traf. Heute würde es Barton sein. Der Wolf beobachtete, wie Barton den unbeleuchteten Pfad entlangging. Auch wenn das Bild durch sein Nachtsichtvisier körnig und monoton war, reichte die Sichtbarkeit für seine Zwecke aus. Aber er würde das heutige Opfer nicht erschießen – noch nicht. Er war nicht weit genug weg. Jemand in der Nähe wäre vielleicht in der Lage, seine Position zu bestimmen, auch wenn er einen Mündungsfeuerdämpfer auf seinem M110 Scharfschützengewehr montiert hatte. Er würde nicht den Anfängerfehler machen und die Soldaten dieses Stützpunktes unterschätzen. Barton durch sein Visier folgend, genoss der Wolf das Gefühl der M110 in seinen Händen. Dieser Tage tendierte die Armee dazu, das Heckler & Koch G28 als Standard Schafschützengewehr zu verwenden. Auch wenn der Wolf wusste, dass das G28 leichter und kompakter war, bevorzugte er das M110. Es war präziser, auch wenn es länger und dadurch schwerer zu verstecken war. Er hatte zwanzig Kugeln in seinem Magazin, aber er würde nicht mehr als eine feuern, wenn die Zeit kam. Er würde Barton mit einer Kugel erledigen oder gar nicht. Er konnte die Energie des Rudels spüren, als würden sie ihm zusehen, ihm ihre Unterstützung geben. Er sah, wie Barton schließlich sein Ziel erreichte – einen der Tennisplätze des Stützpunktes. Weitere Spieler begrüßten ihn, als er auf den Platz trat und seinen Tennisschläger auspackte. Jetzt, da Barton in einem hell erleuchteten Bereich war, benötigte der Wolf das Nachtsichtvisier nicht mehr. Er tauschte es für sein übliches Visier aus. Dann zielte er genau auf Bartons Kopf. Das Bild war nicht mehr körnig, sondern glasklar und in voller Farbe. Barton war jetzt etwa 300 Fuß entfernt. Auf diese Entfernung konnte der Wolf auf eine zentimetergenaue Präzision seines Gewehrs vertrauen. Es lag an ihm, den Schuss mit einer ebenso genauen Präzision durchzuführen. Und er wusste, dass er es konnte. Nur ein kleiner Druck auf den Abzug, dachte er. Das war alles, was gerade nötig war. Der Wolf genoss diesen mysteriösen, freischwebenden Moment. Etwas fast Religiöses lag in diesen Sekunden bevor der Abzug betätigt wurde, wenn er darauf wartete sich selbst zu dem Schuss zu bringen, darauf wartete, dass er sich entschied den Finger zu krümmen. In diesem Moment schien Leben und Tod nicht in seiner Hand zu liegen. Im Bruchteil einer Sekunde würde ein unwiderrufliches Ereignis eintreten. Es war seine Entscheidung – und doch nicht seine Entscheidung. Wessen Entscheidung war es also? Ihm gefiel der Gedanke, dass da ein Tier in ihm war, ein wahrer Wolf, eine reuelose Kreatur, die in diesem fatalen Moment seinen Körper übernahm. Dieses Tier war sowohl sein Freund, als auch sein Feind. Und er liebte es mit einer seltsamen Liebe, die man nur für seinen Erzfeind empfinden konnte. Das innere Tier brachte das Beste in ihm zutage, hielt ihn auf den Füßen. Der Wolf wartete darauf, dass das Tier in ihm zuschlug. Aber das Tier tat es nicht. Der Wolf betätigte nicht den Abzug. Er fragte sich, warum nicht. Etwas stimmt nicht, dachte er. Ihm wurde sofort klar, was es war. Der Blick auf den hell erleuchteten Tennisplatz durch sein übliches Visier war einfach zu klar. Es würde keinerlei Anstrengung erfordern. Es war keine Herausforderung. Das war unter der Würde des Wolfes. Außerdem war noch nicht genug Zeit seit dem letzten Schuss vergangen. Die anderen waren so platziert gewesen, dass sie ein Maximum an Nervosität und Unsicherheit unter den Männern auslöste, die er so verabscheute. Barton jetzt zu erschießen würde den psychologischen Einfluss seiner Arbeit stören. Er lächelte, als ihm das klar wurde. Er stand auf und ging den Weg zurück, den er gekommen war. Es fühlte sich richtig an, seine Beute vorerst ungestört zu lassen. Niemand wusste, wann er das nächste Mal zuschlagen würde. Nicht einmal er selbst.
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