Das Toilettendesaster

4109 Words
,,Nur wer den Mut zum Träumen hat, hat auch die Kraft zum Kämpfen." - Altes Sprichwort - ▪ ~ ▪ ☆ ▪ ~ ▪ Es war Freitagnachmittag kurz vor 15 Uhr. Oder besser gesagt 14:49 Uhr und 57 Sekunden. Damit hatte ich nun also endlich den Zeitpunkt der Woche erreicht, den sich jeder normale Mensch am Montagmorgen schmerzlich herbeisehnte. Denn dieser Umstand bedeutete, dass das Wochenende nun kurz vor der Tür stand und die freien Tage daher zum Greifen nahe erschienen. Allein die Vorstellung, bald ungestört zwei Tage zu Hause verbringen zu können - ganz in Ruhe und ohne die Verpflichtung, seine sicheren vier Wände verlassen zu müssen - ließ die meisten Leute bereits verträumt aufseufzen. Ich meinerseits, schien jedoch nicht zu den normalen Menschen zu zählen. Zumindest verfluchte ich gerade diesen Freitag, der mich so viele Nerven kostete, dass ich mich schon fragte, ob ich mir nicht einfach wieder Neue eintransplantieren lassen konnte, wenn ich bald keine mehr zur Verfügung hatte. Gut. Zugegeben. Das klang jetzt etwas verrückt. Aber es wäre auf jeden Fall eine gute Sache gewesen, hätte dies so funktioniert. Mit gesenktem Kopf und eingezogenen Schultern eilte ich durch die Flure der Uni und versuchte jeglichen Augenkontakt mit meinen Kommilitonen zu vermeiden. Das Herz schlug mir dabei bis zum Hals, vor lauter Angst, dass mir irgendjemand von ihnen weiter Beachtung schenken könnte. Denn der dunkle Fleck auf meiner Hose ließ mich mindestens so rot anlaufen, wie das Markenzeichen des Getränks selbst, dem ich das ganze Desaster zu verdanken hatte. Coca-Cola lässt grüßen! Warum musste auch immer mir so etwas Peinliches passieren? Ich war so unglaublich ungeschickt, dass es schon beinahe an ein Wunder grenzte, dass sich überhaupt noch irgendjemand in meine Nähe traute. Aber meine zwei besten Freunde, Aline und Leon, schien meine Schusseligkeit zum Glück kein bisschen zu stören. Im Gegenteil. Sie fanden es sogar unglaublich unterhaltsam und angeblich eine liebenswerte Eigenschaft von mir, die ich auf gar keinen Fall verlieren sollte. Zum Leidwesen meinerseits. Ich hätte gut und gerne darauf verzichten können. Wie ich kurz darauf jedoch erleichtert feststellte, war meine Sorge, dass mir irgendjemand auch nur ansatzweise einen winzigen Funken Aufmerksamkeit schenken könnte, völlig unbegründet gewesen. Aber was hatte ich auch anderes erwartet. Ich war die Durchschnittlichkeit in Person. Hätte man mir ein Gütesiegel für meine Eigenschaften verpassen müssen, ich hätte in fast allen Bereichen ein ,,Befriedigend" erhalten. Nur in einer Kategorie wäre das etwas anders abgelaufen. Beim Punkt ,,Verpeiltheit" hätte ich garantiert ein ,,Sehr gut" mit drei Sternchen und zehn Ausrufezeichen abgeräumt. Oder vielleicht wäre es sogar in zwei Kategorien auf kein ,,Befriedigend" hinausgelaufen. Im Bereich ,,Bettgeschichten"... ach, lassen wir das. Mit meinen 1,74 m, den verwaschenen, grün-braunen Augen, die sich nicht so ganz entscheiden konnten, welche Farbe sie nun annehmen wollten, den dunkelblond gelockten Haaren, den Kontaktlinsen, ohne die ich mindestens so blind gewesen wäre, wie ein Maulwurf mit verbundenen Augen - nicht dass ich schonmal einen Maulwurf mit verbundenen Augen gesehen hätte, aber der Vergleich passte einfach so gut - und einer recht durchschnittlichen Figur, fiel ich nicht gerade auf. Das konnte ganz schön frustrierend sein. Vor allem, wenn man eine wunderschöne beste Freundin hatte, die einem Model in nichts nachstand. Neben ihr musste ich aussehen, wie ein Neandertaler in Damenbekleidung. Und das war in diesem Fall sogar noch nett ausgedrückt. Na gut, womöglich klang das Ganze jetzt alles etwas melodramatisch. Ich wusste schon, dass ich nicht so übel aussah, wie ich das jetzt hier gerade darstellte. Ich war eben durchschnittlich. Aber das war sowieso eine seltsame Angewohnheit des weiblichen Geschlechts. Nie waren sie mit sich selbst zufrieden und immer wollten sie das, was andere besaßen. Als Ergänzung dieser Aussage konnte ich zusätzlich bekräftigend hinzufügen, dass sich bisher ab und zu sogar ein paar vereinzelte, männliche Wesen dazu durchgerungen hatten, Interesse an mir zu zeigen, das über Freundschaft hinausging. Jedoch waren diese entweder total die Schwachköpfe gewesen oder aber so richtige Freaks, sodass es nie zu mehr als einem Kuss auf die Wange gekommen war. Da gab es so Spezialisten wie Marlon, der bereits seit der fünften Klasse hinter mir her war, aber nicht einmal den Unterschied zwischen Evolution und Evaluation kannte oder aber Typen wie Daniel, dessen liebste Beschäftigung es war, Starwarsfiguren zu sammeln und mich ständig als seine Prinzessin Leia zu bezeichnen. Naja, was ich eigentlich damit sagen wollte, herausragend hübsch war auf jeden Fall etwas anderes. Aber was wollte man machen? Es konnte nunmal leider nicht jeder so aussehen, wie Jessica Hartmann, das begehrteste Mädchen der Uni und laut meinem besten Freund die geilste Braut der Welt. Und der musste es ja wissen. Schließlich sabberte er ihr schon hinterher, seit wir begonnen hatten, hier zu studieren. Sobald er auch nur in die Nähe dieses Mädchens kam, legte er sein dämlichstes Machogehabe an den Tag, war nicht mehr ansprechbar und bekam glasige Augen. Eigentlich hätte meiner Meinung nach die Straßenverkehrsordnung mittlerweile ergänzt werden müssen in: ,,Straßenverkehrsgesetz § 24a 0,5 Promille-Grenze (2) Ordnungswidrig handelt, wer unter der Wirkung eines in der Anlage zu dieser Vorschrift genannten berauschenden Mittels im Straßenverkehr ein Kraftfahrzeug führt. Eine solche Wirkung liegt vor, wenn eine in dieser Anlage genannte Substanz im Blut nachgewiesen wird. Außerdem ist es dem männlichen Geschlecht strengstens untersagt, Jessica Hartmann mitzuführen, da Ablenkungen jeglicher Art vermieden werden müssen." Ein wütendes Ziehen schoss bei dem Gedanken an dieses Mädchen durch meinen Körper hindurch, was ich jedoch geflissentlich ignorierte. Das Letzte, was ich gerade gebrauchen konnte, war an die Uniqueen zu denken, die - wie ich gehört hatte - zwar nicht der hellste Kopf des Planeten sein sollte, aber vom Charakter her leider gar nicht einmal so übel war. Jessica war im Grunde genommen ganz nett, aber ich konnte sie und ihre Gefolgsleute trotzdem nicht sonderlich leiden. Im Moment hatte ich zudem genug andere Probleme, mit denen ich mich herumschlagen musste. Zum Beispiel die Tatsache, dass ich noch immer einen Colafleck auf meiner Jeans hatte und das an einer ziemlich ungünstigen Stelle. ▪ ▪ ▪ Erschöpft stieß ich die Tür zu den Toiletten auf und trat in den Raum dahinter. Angeekelt verzog ich das Gesicht, als mir der beißende Gestank nach Urin in die Nase stieg. Ihhh! Genau das war der Grund, warum ich nur selten auf irgendeine sanitäre Einrichtung in diesem Gebäude ging. Die alten Räume der Uni waren einfach nur total ekelerregend. Wie konnte man es hier bloß länger als zwei Minuten aushalten, ohne sich gleich auf den nassen, mit Fußabdrücken übersäten Boden übergeben zu müssen? Ich erstickte ja jetzt schon beinahe! Mit angehaltenem Atem trat ich vor das Waschbecken und riss wie eine wild gewordene Furie auf LSD ein paar der Papierhandtücher aus dem Spender, der Gott sei Dank noch fast voll war. Wenigstens einmal war das Glück auf meiner Seite. Mit fahrigen Bewegungen begann ich anschließend, ohne meiner Umgebung weiter Beachtung zu schenken, mit Wasser und Seife an dem Fleck auf meiner Hose herumzuwischen. ,,Bitte lass es weggehen! Bitte lass es weggehen!", flehte ich dabei verzweifelt in Gedanken, was den Coca-Cola-Monsterfleck auf meiner Jeans jedoch nicht weiter zu stören schien. Im Gegenteil. Er wurde immer größer. ,,So ein verdammter Dreck! Mist, Mist, Obermist!", knurrte ich verzweifelt. Das Ganze hatte mir heute gerade noch zu meinem Glück gefehlt. In wenigen Minuten hatte ich noch eine zweistündige Vorlesung vor mir, die ich irgendwie überstehen musste, bevor ich endlich frei hatte und nach Hause gehen durfte, was noch eine weitere Hürde auf dem Weg zu meinem wohlverdienten Wochenende darstellte - auch, wenn ich das kommende Wochenende nicht unbedingt herbeisehnte, aber das war eine andere Geschichte. Denn zu meiner Wohnung musste ich schließlich auch noch irgendwie gelangen und da ich kein eigenes Auto besaß, bedeutete dies, dass ich mich wohl oder übel in eine überfüllte Straßenbahn würde quetschen müssen, was ich so dermaßen hasste, dass ich diese Strecke schon einige Male zu Fuß gegangen war. Und das kostete mich mindestens 35 Minuten meiner wertvollen Lebenszeit. Doch das Beamen war bis zum heutigen Tag leider noch immer nicht erfunden worden und wenn, hätte ich diese Möglichkeit der Fortbewegung wahrscheinlich sowieso niemals nutzen können, da ich es ansonsten garantiert geschafft hätte, zwischen den Dimensionen stecken zu bleiben und das, obwohl dieser Vorgang davor von den Wissenschaftlern als völlig harmlos abgestempelt worden war. Es hätte mir zumindest ähnlichgesehen. ,,Was wird das hier?", unterbrach eine samtig weiche Stimme plötzlich meine grüblerischen Gedanken. Erschrocken fuhr ich zu dieser herum, wobei die Papiertücher in meiner Hand, welche ich gerade unter dem Wasserhahn ertränkt hatte, einen leichten Nieselregen im Raum verursachten. Mein Entsetzen wurde jedoch nur noch größer, als ich sah, wen ich da gerade von Kopf bis Fuß nassgespritzt hatte. Es war eine große, muskulöse Gestalt, die mich mit ihren meerblauen Augen fassungslos anstarrte. Und ich starrte mindestens ebenso perplex zurück. ,,L... L... Leon?", stieß ich stotternd und mit weit aufgerissenen Augen ungläubig hervor. ,,Was macht der denn hier?!" ,,Was machst du denn hier?", stellte mein bester Freund mir nun genau die Frage, die ich ihm in Gedanken eben selbst gestellt hatte. ,,Ich wollte den Fleck beseitigen, den ich vorhin beim Trinken meiner Cola auf meine Hose...", weiter kam ich nicht. Eine zweite Person trat hinter Leon hervor und unterdrückte nur schwer ein Kichern. ,,Hi, Emely! Was treibt dich hierher? Hast du dich verlaufen oder wolltest du Leon einfach nur eine Dusche verpassen? Ich meine, das hat er sicherlich dringend nötig, das sehe ich schon ein, aber muss das gerade jetzt sein?" Mit Schrecken stellte ich fest, dass es Ricardo, Leons bester Freund war, der mich da belustigt angrinste. Seine blonden, raspelkurzen Haare und die breiten Schultern verrieten ihn, auch wenn ich nicht viel erkennen konnte, da er im Gegenlicht stand. Ich blinzelte verwirrt. Hier lief doch irgendetwas ganz und gar falsch. Nur was? ,,Ähm... ich... äh.... Die Frage ist eher, was treibt ihr bitteschön auf der Damentoilette? Ist euer eigenes Klo besetzt, kaputt oder verstopft? Oder ist das hier womöglich wieder irgend so ein neuer Schachzug, um euch an nichtsahnende, wehrlose Frauen ranzumachen?" Die beiden Freunde blickten mich zunächst irritiert, dann sichtlich amüsiert an und brachen dann in schallendes Gelächter aus. Sie hielten sich sogar die Bäuche vor Lachen, was ich nicht gerade komisch fand. Wütend runzelte ich die Stirn und funkelte die beiden Idioten böse an. Was war nur so lustig daran, sich in eine Toilette zu schleichen? Und vor allem, was hatten sie hier überhaupt verloren? Mit in die Hüften gestemmten Händen stand ich da und konnte über solch ein kindisches Getue nur den Kopf schütteln. War das hier etwa wieder so ein Männerding? Mussten sie damit wie so oft ihre Männlichkeit unter Beweis stellen? Die konnten so verdammt anstrengend sein! Leon war der Erste, der seine Sprache wiederfand. Schwer atmend presste er hervor: ,,Ich weiß ja nicht, wie das bei dir so ist, aber ich habe noch nie ein Pissoir in einer Damentoilette gesehen. Doch, hey! Vielleicht ist das ja gerade der neuste Schrei. Gleichberechtigung wird hier schließlich großgeschrieben." Verwirrt blickte ich mich um und verstand zunächst nicht, was er meinte - na gut, eigentlich gab es da nicht viel zu verstehen, aber ich war nunmal ab und an etwas schwer von Begriff. Dann endlich machte es jedoch auch bei mir klick und ich erkannte, was die beiden mir hatten sagen wollen. ,,Oh mein Gott, nein! Nein, nein, nein, nein! Das durfte doch jetzt wohl nicht wahr sein! Ich konnte doch nicht wirklich so doof gewesen sein und ohne es zu bemerken auf die Herrentoilette...." "Ups!", stieß ich wenig intelligent hervor und lief erneut knallrot an. Die Hitze strömte durch mich hindurch und machte, dass ich keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Argh! Das konnte aber auch wirklich nur mir passieren. Ich war so bescheuert! Am liebsten wäre ich vor Scham im Erdboden versunken. "Tschuldigung", würgte ich noch schwach hervor, bevor ich mich auf dem Absatz umdrehte und kopflos aus dem Raum stürzte. Beinahe hätte ich dabei einen kleinen, etwas molligen Jungen mit Brille über den Haufen gerannt, der gerade zur Tür hereinkommen wollte. Dieser starrte mich dabei mindestens so entsetzt an, wie ich mich fühlte. Dann war ich aber auch schon draußen und bemühte mich, meinen keuchenden Atem und meine zitternden Knie unter Kontrolle zu bringen. ,,Nur weg! Nur weg von hier!", hämmerte es dabei in meinem Kopf. Auf dem Gang herrschte reges Treiben. Mehrere Personen eilten an mir vorüber, ohne mich dabei auch nur eines Blickes zu würdigen. Die halbe Stunde Pause zwischen den Vorlesungen war bald zu Ende, da ging es meist etwas hektischer zu. Und ich konnte leider auch noch nicht von hier verschwinden, da ich in der nächsten Vorlesung Anwesenheitspflicht hatte und bereits zweimal gefehlt hatte. s**t happens. Mit einem prüfenden Blick auf meine Hose stellte ich fest, dass der Fleck noch immer deutlich zu erkennen war, auch wenn er nun durch das Wasser nicht mehr ganz so sehr klebte. Doch im Grunde genommen war mir das im Moment auch völlig egal. Lieber rannte ich mit diesem Beweis meiner Schusseligkeit durch die Gegend, als mich noch einmal in die Fänge einer Toilette begeben zu müssen. Für's Erste war ich von jeglichen Toilettenbesuchen in Unigebäuden kuriert. Dieses Erlebnis reichte locker bis ans Ende meiner Studienzeit. ,,Ach, Elli! Kein Grund gleich davonzurennen. Das kann doch jedem mal passieren", erklang da die mitfühlende Stimme meines besten Freundes hinter mir, in der jedoch noch immer ein Hauch Belustigung mitschwang, weshalb es den gewünschten Effekt leider etwas verfehlte. Daher veranlassten mich Leons Worte auch nur dazu, verächtlich und leicht hysterisch aufzuschnauben, was wie ein Pferd mit akutem Heuschnupfen klang. Ohne meine Schritte zu verlangsamen, eilte ich unbeirrt weiter in Richtung Vorlesungssaal, in dem ich spätestens in sieben Minuten sitzen musste. ,,Ach komm schon! Es gibt Schlimmeres. Und außer Ricardo und mir hat das Ganze ja niemand mitbekommen. Alles halb so wild." Ich ignorierte die vergeblichen Versuche meines besten Freundes, mich aufzumuntern und konzentrierte mich stattdessen auf den Weg, der vor mir lag. Nicht, dass ich am Ende noch irgendjemand über den Haufen rannte oder über meine eigenen Füße stolperte. War schließlich alles schon einmal vorgekommen. ,,Jetzt bleib doch mal stehen! Emely Maria Mercedes Southman, ich kann doch auch nichts dafür, dass du plötzlich in der Herrentoilette aufgetaucht bist! Also gib jetzt nicht mir die Schuld dafür." Leon wusste genau, dass ich meinen vollen Namen hasste. Er klang für mich viel zu hochgestochen, als sei ich dem Hochadel entsprungen oder aber als hätten sich meine Eltern nicht auf einen Namen einigen können und gewürfelt. Doch ich ignorierte es heute geflissentlich. ,,Und der Bananenschaleneklat im letzten Semester kann von der Aktion hier sowieso nicht getoppt werden. Sieh es doch von der Seite", fuhr Leon unbeirrt fort. Ich stockte und brauchte einen Moment, um die Worte meines besten Freundes zu verstehen. Das hatte er gerade nicht wirklich getan. Er hatte nicht wirklich gewagt, die Bananenschalensache von letztem Semester zu erwähnen. Das konnte nicht sein Ernst sein! Nun reichte es mir endgültig. Irgendwann war auch bei mir der Punkt erreicht, an dem ich in die Luft ging. Und diese Anspielung von Leon brachte das Glas endgültig zum Überlaufen. Wutschnaubend fuhr ich zu meinem besten Freund herum, der scharf abbremsen musste, um nicht in vollem Lauf in mich hineinzurennen. Verdutzt blickte er zu mir hinab und sein vertrauter Geruch nach Limette und Meer umfing mich. Diesen Geruch, der für mich Heimat und Geborgenheit bedeutete. Schnell schob ich diesen bemitleidenswert peinlichen Gedanken beiseite und konzentrierte mich wieder auf die Person vor mir, was sich als gar nicht so leicht entpuppte. Aber schließlich gelang es mir doch. Mit beiden Händen stieß ich Leon kräftig vor die Brust, sodass er leicht zurücktaumelte und zischte gefährlich drohend: ,,Wage es ja nicht, von der Bananenschalensache im letzten Semester anzufangen. Du hast mir versprochen, es nie wieder zu erwähnen. Nie wieder! Hast du das verstanden?!" Ein überraschter Gesichtsausdruck machte sich daraufhin auf den ebenmäßigen Zügen meines Gegenübers breit. Handgreiflich zu werden, war sonst eigentlich nicht meine Art. Aber dieser Kerl verstand es manchmal einfach nicht anders. Und im Grunde genommen hatte ich auch das Recht dazu. Wir kannten uns mittlerweile schon so lange, dass er für meine Eltern und Geschwister bereits zur Familie zählte. Leon nickte schließlich nur stumm und hob beschwichtigend die Hände, als würde ich ihm eine Waffe an die Brust halten. Man konnte ihm das schlechte Gewissen deutlich ansehen. Er wusste nur zu genau, was er mir nach jener Nacht versprochen hatte. Niemals in seinem ganzen Leben würde er auch nur ein Sterbenswörtchen über die Sache verlieren. Und diesen Schwur hatte er nun beinahe gebrochen. ,,Sorry, Elli", entschuldigte er sich etwas zerknirscht und bedachte mich dabei mit einem bettelnden Hundeblick aus seinen großen Kulleraugen, dem ich mich - wie er genau wusste - nicht auch nur eine Sekunde lang widersetzen konnte. Das war so verdammt unfair! Uargh! Dieses hypnotisierende Blau, das mich manchmal an einen klaren Bergsee und dann wieder an ein tiefes Eismeer erinnerte, kotzte mich langsam wirklich an. Jedoch war heute kein normaler Tag, weshalb ich nicht wie sonst einknickte und nur ein geknurrtes ,,Hmpf" erwiderte, mich auf dem Absatz umdrehte und einfach weiterging. Er sollte nicht denken, dass er mich mit dieser miesen Masche besänftigen konnte. Ich hatte auch Gefühle, wie alle anderen hier auch. Warum also war es die Lieblingsbeschäftigung so vieler Menschen, auf diesen herumzutrampeln? Leon tauchte kurz darauf wieder an meiner Seite auf und versuchte sein Missgeschick gutzumachen: ,,Lass uns die Sache einfach vergessen, okay? Ich sorge dafür, dass Ricardo niemand anderem etwas von dem Treffen auf dem Klo erzählt, somit wird das Ganze auch nicht an die Öffentlichkeit gelangen." > Im Gegensatz zu damals Dieser unausgesprochene Satz hing verhängnisvoll in der Luft zwischen uns und machte, dass ich mich nur noch mieser fühlte. Ich schluckte schwer und verdrängte den Gedanken an jenen schrecklichen Abend vor knapp einem halben Jahr, der mein Leben nicht gerade einfacher gemacht hatte. Leon plapperte währenddessen munter weiter, als wäre gar nichts gewesen. Er hatte ein Talent dafür, unangenehme Dinge einfach beiseite zu schieben und sie zu ignorieren, so lange es eben ging. Das hatte er schon immer mit Vorliebe getan. ,,Hast du von Aline eigentlich schon das Neuste gehört? Jessy ist von den Studenten zur Miss Uni 2020 gewählt worden. Habe ich es euch nicht gleich von Anfang an gesagt, dass sie gewinnen wird?" Ich unterdrückte ein verzweifeltes Aufkreischen und das Verlangen, diesem Kerl da neben mir meine Faust mitten ins Gesicht zu schlagen. Warum musste er andauernd von dieser Frau anfangen? Das war ja nicht mehr auszuhalten! Seit die Zwei zusammen waren, gab es für ihn kaum noch ein anderes Thema. Hatte sie sein Gehirn in Suppe verwandelt und danach genüsslich ausgeschlürft? Hm... ja... eigentlich gut möglich. Ein etwas sarkastisches: ,,Super!" rutschte mir heraus, woraufhin Leon skeptisch eine Augenbraue in die Höhe zog. "Bist du etwa neidisch? Wärst du auch gerne auf einer Bühne gestanden, umringt von johlenden und gaffenden Männern, die alle nur darauf hoffen, einen Blick in deinen Ausschnitt erhaschen zu können? Und hättest du dir dann anschließend auch noch von einem dieser schwanzgesteuerten Wesen eine Krone aufsetzen lassen und dir einen feuchten, vor Spucke nur so triefenden Kuss abgeholt?", grinste er breit. Und er lag damit leider gar nicht so falsch. Auch wenn mein bester Freund eigentlich nur einen kleinen Scherz hatte reißen wollen, um mich aufzuheitern, war ich sehr wohl eifersüchtig. Und das, obwohl ich nicht einmal so genau sagen konnte, warum überhaupt. Ich wollte keine Aufmerksamkeit in Form von einer Misswahl und auf der Bühne zu stehen, war schon immer mein absoluter Albtraum gewesen. Ich erinnerte mich noch genau an die Aufführung der Schulanfänger bei unserem Kindergartensommerfest. Damals war ich beim Tanzen über meine eigenen Füße gestolpert und von der Bühne gefallen. Kein allzu glänzendes Kapitel in meiner Vergangenheit. Das Gelächter der Kinder hallte noch heute in meinen Ohren wider. Und trotzdem fraß sich der Neid durch meine Eingeweide hindurch wie Säure. Mühsam schluckte ich die aufkommende Beklemmung hinunter und versuchte, die quälenden Gedanken einfach beiseitezuschieben. Schon seit geraumer Zeit überkam mich dieses komische Gefühl, wenn Leon anfing, von einer seiner Eroberungen zu schwärmen oder eben von Jessica, seinem absoluten Schwarm. Ich führte es darauf zurück, dass ich es schlicht und ergreifend nicht gutheißen konnte, wie mein bester Freund fast jeden Monat ein anderes Mädchen abschleppte. Aber die Sache wurde zunehmend kritischer. Ich schaffte es nicht einmal mehr, Freundlichkeit vorzutäuschen, wenn er mir eine seiner Verflossenen vorstellte. Aber wer konnte es mir auch verübeln? Das Schrecklichste an diesen ganzen Begegnungen war jedoch, dass all diese Mädchen in den meisten Fällen zumindest eine Eigenschaft verband: Sie waren so strohdumm, dass ich mich fragte, ob in ihren Köpfen eigentlich ein Vakuum vorherrschte. Es wunderte mich immer wieder aufs Neue, wo Leon diese oberflächlichen Biester eigentlich ausgrub. Wahrscheinlich aus einer Anstalt für geistig minderbemittelte, aufmerksamkeitssuchende Möchtegernmodels von Pro7. Das dämliche Gelaber von diesen Kühen musste ich mir auf jeden Fall nicht ständig antun. Wenn ich mich über Dinge wie Abnehmstrategien, Schminktipps oder die beste Art des Lästerns hätte informieren wollen, hätte ich mir auch gleich eine Folge Germanys next Topmodel anschauen können. Das wäre auf das Gleiche herausgekommen. Da ich diese Sendung jedoch schon seit Jahren erfolgreich boykottierte, war es wohl das Beste, wenn ich Leons Freundinnen weiterhin mied. Auch auf die Gefahr hin, dass das vielleicht nicht gerade höflich erscheinen mochte. Aber in diesem Fall galt das wohl als Selbstschutzmaßnahme. Wenigstens war Jessica in dieser Hinsicht besser. Sie machte zumindest einen ganz netten Eindruck. ,,Haha", brachte ich daher nur freudlos hervor, was sich eher wie ein missglückter Schluckauf anhörte, als ein echtes Lachen. ,,Ach komm schon! Bitte sei mir nicht böse. Das ist mir eben nur so rausgerutscht. Ich werde den Abend wirklich nie wieder erwähnen", versicherte mir Leon erneut hoch und heilig, da er mein seltsames Verhalten für eine Reaktion auf seinen Beinaheschwurbruch hielt. Zum Glück ahnte er nicht, was wirklich in mir vorging. Aber darin war er wohl noch nie gut gewesen. Nun streckte er mir als Friedensangebot seine Hand zu unserem persönlichen High Five Gruß entgegen, den wir zusammen mit Aline an einem lustigen Nachmittag in unserem Stammlokal am Marktplatz erfunden hatten. Wie lange war das nun schon her? Zwei Jahre? Drei Jahre? Es kam mir auf jeden Fall wie eine halbe Ewigkeit vor. Widerstrebend schlug ich am Ende doch ein, hakte mich mit dem Zeigefinger bei Leon ein und klopfte mit meinem linken Fuß gegen seinen rechten. Ein erleichtertes Grinsen erhellte daraufhin das Gesicht meines Gegenübers. ,,Meine schusselige Lieblingsfreundin, wie ich sie kenne und liebe. Vielleicht sollten wir ja auch eine Verleihung der Miss Missgeschick ins Leben rufen. Dann würdest du ganz sicher den ersten Platz machen", zog er mich auf und ich schüttelte nur den Kopf. Dieser Kerl! ,,Aber nur, wenn wir vorher eine Verleihung des größten Schwachkopfs im gesamten Universum einführen. Die würdest du nämlich ohne Konkurrenz bestreiten und haushoch gewinnen", hielt ich dagegen. Leon streckte mir daraufhin die Zunge heraus, legte mir danach jedoch sogleich freundschaftlich seinen Arm um die Schultern. ,,Vielleicht solltest du es ja mal als Clown in einem Zirkus oder als Komiker auf den großen Fernsehbühnen der Welt probieren", schlug er vor. ,,Gute Idee. Aber wenn ich reich und berühmt bin, werde ich dir keinen Cent abgeben", lachte ich und befreite mich aus seinem Griff, der mir ziemlich unangenehm war. Er sollte ja nicht denken, dass ich ihn mit dem Beinahebruch seines Schweigegelübtes einfach so davonkommen ließ. Trotzdem immer noch grinsend, riss ich die Tür des Vorlesungssaals auf und schritt mit hoch erhobenem Haupt und so würdevoll, wie man das eben mit einem Fleck zwischen den Beinen tun konnte, ins Innere. Leon folgte mir dabei dicht auf den Fersen und sein Lachen hallte noch immer in meinen Ohren nach. ,,Bis später!", rief er mir noch kurz zu und verschwand dann, ohne auf eine Antwort von mir zu warten, zu seiner derzeitigen Flamme, die wahrscheinlich auch bald der Geschichte angehören würde. Suchend blickte ich mich im Inneren des Saals um und entdeckte eine wild winkende Aline, die versuchte, irgendwie meine Aufmerksamkeit zu erlangen. Dies grenzte bei meinem derzeitigen Gemütszustand zwar fast an ein Wunder, dennoch schaffte sie es irgendwie und schenkte mir daraufhin ein einnehmendes Strahlen. Schwach winkte ich zurück. Innerlich bereitete ich mich jedoch bereits seelisch und moralisch auf zwei lange Stunden Soziologie bei Frau Bauer vor, die ihre Vorlesungen so interessant gestaltete, wie ein schnarchendes Nilpferd mit Durchfall. Und das war keinesfalls übertrieben. Der Tag heute entwickelte sich allmählich zu einem der schrecklichsten seit dem Bananenschalenvorfall in der Cocktailbar vor einem halben Jahr und das musste wirklich etwas heißen. Denn diese Sache von damals war viel schlimmer gewesen als alles andere, was mir je zuvor passiert war. Und ich hatte in meinem Leben bisher wirklich haufenweise peinliche Erlebnisse über mich ergehen lassen müssen.

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