Prolog
Das Ende der Großen Schlacht
„Kehrt auf die Insel zurück, ich werde bald zu euch stoßen“, befahl Drago.
„Drago, glaubst du, dass das sicher ist?“, fragte Theron und blickte den Mann, der aus der tintenschwarzen Dunkelheit aufgetaucht war, über die Wellen hinweg an.
Drago stieß ein warnendes Knurren aus. Sein Stellvertreter kippte seine Flügel und ließ sich zurückfallen, sodass sich der Abstand zwischen ihnen vergrößerte. Fünf Drachen, alle Mitglieder seiner Elitegarde, flogen in seiner Nähe. Die drei Männchen und zwei Weibchen behielten das Wasser unter ihnen wachsam im Auge. Doch selbst mit ihren scharfen Drachenaugen konnten sie nichts sehen, da die Gewitterwolken um sie herum immer dunkler und der Wellengang immer stärker wurden.
„Kehrt sofort zurück“, befahl Drago.
„Ja, mein König“, stimmte Theron widerwillig zu, stieg etwas höher in die Luft und rief den anderen Wachen einen scharfen Befehl zu.
Dragos Blick ruhte immer noch auf Orion. Der Meerkönig sah ihn mit dem gleichen intensiven Blick an. Der große Meeresdrache, auf dem Orion ritt, schüttelte den Kopf, da er die Spannung zwischen den beiden Männern spürte.
„Orion“, knurrte Drago.
„Ich bin gekommen, um einen Waffenstillstand zu erbitten, Drache. Dein Königreich ist das letzte, das noch fehlt. Die anderen haben der Friedenserklärung zugestimmt“, erklärte Orion.
Drago schnaubte, kleine Rauchwolken stoben aus seinen Nasenlöchern, wehten im aufkommenden Wind davon und schwebten auf Orion zu. Der Meeresdrache zuckte erschrocken zusammen. Ein zufriedenes Lächeln umspielte Dragos Lippen, als er sah, wie Orion um die Kontrolle des riesigen Meeresdrachens kämpfte. An dem stechenden, wütenden Blick, den Orion ihm zuwarf, erkannte Drago, dass dem Meerkönig durchaus bewusst war, dass er den Meeresdrachen absichtlich erschreckt hatte.
„Woher kommt dieser plötzliche Wunsch nach Frieden?“, fragte Drago spöttisch.
Orion kniff verärgert die Lippen zusammen. „Alles war gelogen“, antwortete er.
„Was war gelogen?“, fragte Drago.
„Ich wollte weder deinen Schatz noch das Drachenherz stehlen, Drago. Die Insel der Meeresschlange hat ihre eigenen Schätze. Wir brauchen das verzauberte Gold und die Juwelen der Drachen nicht und ich weiß es besser, als zu versuchen, das Geschenk der Göttin zu stehlen“, sagte Orion.
Drago schnappte mit den Zähnen. „Das behauptest du. Und doch beschwören deine Männer, die ich gefangen genommen habe, das genaue Gegenteil. Außerdem hast du die Drachen beschuldigt, dass sie deine Felder über dem Meer versengt haben. Keiner meiner Leute hat dein Königreich angegriffen und dennoch liegen sie auf dem Meeresgrund, während ihre Gefährtinnen und Kinder kummervoll trauern“, entgegnete er.
„Ich weiß, aber ich schwöre auf den Dreizack, dass diejenigen, die du gefangen genommen hast, unter einem Fluch schwarzer Magie stehen, der sie dazu zwingt, Taten zu begehen, die sie sonst nie begangen hätten. Und ich schwöre auch, dass es nicht mein Volk war, das die Drachen vom Himmel geschlagen hat. Sie ... Drago, sie haben als Statuen dagelegen, versteinert durch einen Zauber, den ich noch nie zuvor gesehen habe“, antwortete Orion, seine Stimme war durch das Tosen des Windes und der Wellen kaum zu hören.
„Du schwörst? Wer ist dann für diese dunkle Magie verantwortlich? Die Einzigen, die über solche Kräfte verfügen, sind die Bewohner der Zauberinsel“, sagte Drago.
Orion zögerte und blickte auf das Meer hinaus, bevor er seinen Blick wieder Drago zuwandte. Drago konnte das Bedauern in den Augen des anderen Königs sehen. Aber auch die Aufrichtigkeit.
„Nein, es war nicht die Zauberinsel, es war meine Cousine Magna“, erwiderte Orion schließlich.
„Die Meerhexe?“, fragte Drago.
„Ja, irgendetwas ist mit ihr geschehen. Ich habe sie verbannt, aber ich fürchte, das reicht nicht aus. Ihre Zauberkräfte werden immer stärker und sie muss ein für alle Mal gestoppt werden. Ihre Lügen und ihr Verrat haben die Kriege zwischen den Königreichen ausgelöst. Sie hat einen Zauber ausgesprochen – sie trägt eine Dunkelheit in sich, wie ich sie noch nie zuvor gesehen habe, Drago. Das ist nicht normal. Je mehr wir uns gegenseitig bekämpfen, desto stärker wird sie. Die einzige Möglichkeit, den Zauber zu brechen, ist, zusammenzuarbeiten“, drängte Orion.
„Ich habe die Dunkelheit in ihr gespürt, als sie zu mir gekommen ist, um mich um Asyl zu bitten. Ich hätte sie damals töten sollen, aber stattdessen habe ich ihr mein Wort gegeben, sie vor dir zu beschützen, als sie gesagt hat, du seist verrückt geworden. Wenn ich sie zuerst finde, wird all das Wasser im Ozean und ihre schwarze Magie sie nicht vor dem Feuer meines Drachen retten, dessen kannst du dir sicher sein, Orion“, schwor Drago.
„Ich hoffe, dazu wird es nicht kommen. Akzeptierst du den Waffenstillstand, Drago? Ich verspreche, alles in meiner Macht Stehende zu tun, um für Gerechtigkeit für die abscheulichen Taten zu sorgen, die Magna begangen hat“, verkündete Orion in feierlichem Ton.
„Ja, Meerkönig, ich habe kein Verlangen danach, den Kampf fortzusetzen – vor allem keinen, der die dunkle Magie der Meerhexe schürt. Es hat schon genug Tod und Zerstörung gegeben. Ich akzeptiere deinen Waffenstillstand, Meerkönig, aber sei gewarnt – die Meerhexe wird für ihren Verrat bezahlen, falls sich unsere Wege jemals kreuzen sollten“, sagte Drago und neigte seine Flügel, um sich von den Winden höher noch oben treiben zu lassen.
„Ich verstehe. Gehe in Frieden, Drachenkönig“, antwortete Orion.
Drago sah zu, wie Orion an den Zügeln seines Meeresdrachens zog. Der Drachen drehte sich bereitwillig um und tauchte mit dem Kopf unter. Innerhalb von Sekunden war nur noch die unruhige See zu sehen. Blitze zuckten über den Himmel, gefolgt von Donnergrollen.
Drago drehte sich um und dachte über Orions Worte nach – ein Waffenstillstand, das Ende der Großen Schlacht. Endlich war wieder Frieden in den Sieben Königreichen eingekehrt, aber nicht bevor es großes Leid gegeben hatte, das durch die Machtgier einer Frau verursacht worden war. Wut brannte tief in Dragos Innerem. Er hatte das, was er zu Orion gesagt hatte ernst gemeint – er würde gegenüber der Meerhexe keine Gnade walten lassen.
Als König der Dracheninsel und Herrscher über alle Drachen war es seine Pflicht, für die Sicherheit seines Volkes zu sorgen. Als die Meerhexe am Ufer Dracheninsel angespült worden war, hatte er ihre Lügen geglaubt. Ihr Körper war zusammengeschrumpft und bleich gewesen. Sie hatte ihm geschworen, ihr Cousin sei verrückt geworden. Ihre Behauptung, Orion wolle den Drachenschatz stehlen, um seinen Wunsch zu finanzieren, die Dracheninsel zu übernehmen, hatte töricht geklungen, bis die Räuber gefangen genommen worden waren, die aus dem Meer gekommen waren. Sie hatten alle dasselbe gesagt.
Als nächstes waren die Angriffe auf die Drachen erfolgt, die in andere Königreiche geflogen waren. Viele waren verschwunden, da sie in den Tod gestürzt waren, in den tiefen Abgrund unter dem Ozean, der die einzelnen Königreiche, einschließlich dem seiner Eltern, trennte. Die Meerhexe, Magna, hatte Drago ins Ohr geflüstert, dass dies nicht passiert wäre, wenn er nur die Steine des Dreizacks gehabt hätte. Damit hätte er nicht nur die Kontrolle über diejenigen unter den Wellen, sondern auch einen Schatz von unvorstellbarer Macht.
Drago war sich der Gefahren, die mit der Kontrolle eines Artefakts einhergingen, das nicht aus seinem Reich stammte, bewusst. Dabei könnten die zarten Fäden der Magie zerreißen, die die Sieben Königreiche zusammenhielten. Es gab einen Grund, warum Drachen den Dreizack nicht kontrollieren konnten, ebenso wie es einen Grund gab, warum die Meermenschen das Drachenherz nicht stehlen konnten. Die heiligen Steine kontrollierten die Grundessenz einer jeden Spezies – Wasser und Feuer. Jedes Königreich verfügte über ein antikes Artefakt.
Sein Vater hatte im eingebläut, stets die weitreichenden Folgen seiner Entscheidungen zu berücksichtigen. Was nutzte es, einen so mächtigen Schatz zu besitzen, wenn die Welt nicht mehr existierte? Schließlich war ihm Magnas leises Flüstern zu viel geworden und er hatte ihr gedroht, sie wieder ins Meer zu werfen, damit Orion sich um sie kümmerte, wenn sie nicht aufhörte. Am nächsten Tag war sie verschwunden.
Mit einem lauten Seufzer rauschte Drago so schnell über das Wasser, wie ihn seine Flügel tragen konnten. Sein Körper bewegte sich mit den Wellen nach oben und unten. Gewitterwolken brauten sich hoch am Himmel zusammen und der grollende Donner und das statische Gefühl der Elektrizität, die sich in der Atmosphäre aufbaute, warnten vor dem heftigen Sturm, der bald losbrechen würde.
Drago und seine Wachen hatten vor dem Sturm noch einmal die Gewässer um die Insel herum kontrolliert, als er auf Orion getroffen war. Ein kurzer Blick in den Himmel warnte ihn, dass sich der Sturm wahrscheinlich in einen ausgewachsenen Zyklon verwandeln würde. Wie um seine Gedanken zu bestätigen, prasselte plötzlich strömender Regen auf die dicke Blätterschicht und durchbohrte sie wie eisige Speere.
Drago war mehrere Kilometer entfernt, als er den ersten Hilferuf seines Volkes hörte. Verwirrung machte sich in ihm breit, als immer mehr Angstschreie ertönten. Angetrieben von einer ungewohnten Furcht kämpfte er gegen die heftigen Winde an und flog in einem rücksichtslosen Tempo in Richtung Heimat. Die Furcht galt allerdings nicht seinem eigenen Leben, sondern seinem Volk.
Die verzweifelten Schreie seines Volkes hallten durch seinen Kopf. Seine Verwirrung wuchs, als ihre durchdringenden Schreie plötzlich zu verklingen begannen.
Dragos Blut kochte. Er peitschte mit seinem Schwanz durch die Luft und flog so schnell, dass er die Schallmauer durchbrach. Der Knall hallte blitzartig durch die Luft. Er war verraten worden – allerdings nicht von Orion. Etwas anderes griff sein Volk an – etwas Fremdartiges.
Die Schreie der anderen Drachen durchbohrten seine Seele und ließen seine Bemühungen, sie zu erreichen, auf qualhafte Weise sinnlos erscheinen. Als alle Stimmen verstummt waren, überkam ihn ein Gefühl der Angst. Dort, wo einst seine Verbindung zu den anderen Drachen gewesen war, war nichts als eine schwarze Leere und Panik stieg in ihm auf.
„Nein!“, brüllte Drago, als er die Dracheninsel durch den Regen erblickte.
In der Ferne konnte er erkennen, wie sich eine Gestalt auf der Felsklippe umdrehte und ihn triumphierend ansah – die Meerhexe! Ihr schwarzes Haar wirbelte um ihre blasse Gestalt. Dunkle Fäden der Magie strahlten von ihren Fingern. Drago sah Theron und zwei weitere Mitglieder seiner Elitegarde auf sie zufliegen. Die dunklen Fäden durchbohrten sie. Drago sah ungläubig zu, wie ihre Körper erstarrten und zu Stein wurden. Wie in Zeitlupe fielen alle Drachen vom Himmel. Zwei der Drachen stürzten ins Meer und verschwanden in den Wellen. Therons Gestalt stürzte zu Boden und kippte nach vorne um, bevor sie zum Stillstand kam – das Feuer seines Drachens war für immer eingefroren, nur wenige Zentimeter von der Meerhexe entfernt.
„Sie sind weg, Drago. Du bist ganz allein. Gib mir das Drachenherz und ich gebe dir dein schwaches, armseliges Volk zurück“, flüsterte die Meerhexe, deren Worte auf magische Weise über den Wind zu ihm hinübergetragen wurden.
„Niemals! Stirb, Hexe!“, brüllte Drago.
„Ich werde es sowieso bekommen, wenn du weg bist. Ein Drache kann nicht lange allein überleben. Nicht einmal dein kostbarer Schatz wird dich am Leben erhalten“, erwiderte sie mit einem spöttischen Lächeln.
Wütend stieß Drago einen mächtigen Ball aus weißem Drachenfeuer aus. Das wütende Gelächter der Meerhexe übertönte das Tosen des Sturms, als sie von der Klippe in die Wellen sprang und in den dunklen Tiefen um die Insel herum verschwand. Das Drachenfeuer explodierte an der Klippe, woraufhin eine Lawine aus überhitztem Gestein ins Meer rollte und Therons versteinerte Gestalt versengte.
Drago ließ seinen Blick über die Ränder der Klippen schweifen. Die regungslosen Gestalten seiner Leute starrten ihn an. Auf ihren Gesichtern war für immer ein Ausdruck des Grauens eingebrannt. Doch alles, was Drago sehen konnte, war sein Versagen, sie zu beschützen.
Er glitt über den Rand der Klippe. Dann klappte er seine kräftigen Flügel ein, ließ sich neben Theron fallen und verwandelte sich in seine zweibeinige Gestalt. Er hob eine zitternde Hand, um seinen Freund und Kameraden zu berühren. Eine noch nie dagewesene Trauer durchströmte ihn und hüllte sein Herz ein, als wäre es ebenso versteinert wie sein Volk. Drago kippte seinen Kopf nach hinten und stieß ein wütendes Brüllen aus, das über die Sieben Königreiche hinweghallte. Jeder Herrscher spürte die Leere und wusste, dass, auch wenn die große Schlacht zwischen ihnen vorüber war, ein weitaus tödlicherer Krieg beginnen würde. Furcht griff nach ihnen und schlang ihre gierigen Hände um die Herzen und Seelen der anderen Bewohner. Dann ging Dragos Brüllen in eine ohrenbetäubende Stille über und die Welt verstummte.