1 - Freundschaft

1654 Words
Noch nie hatte bisher jemand meine Freundschaft zu Noah wirklich verstanden. Sie alle meinten, er wäre nicht gut für mich, und es wäre krank, wie er mich nun schon seit Jahren ansah. Ich sah das nicht so. Für mich war er der wichtigste Mensch in meinem Leben. Er war immer für mich da, nahm mich in Schutz und war einfach wie der allerbeste Freund auf der Welt. Natürlich wusste ich, was die anderen meinten, wenn sie sagten, dass es merkwürdig war, wie er mir vor zehn Jahren zum ersten Mal begegnet war und mich einfach in seine Arme geschlossen hatte. Er war damals sechzehn, ich war acht. Meine Freunde hatten ihn nie gemocht und ihre Eltern hatten mich nach einer Weile nicht mehr mit ihnen spielen lassen, denn wo ich war, da war auch Noah und sie meinten, dass sie mit einem Kinderschänder nichts zu tun haben wollten. Das war natürlich völliger Bullshit. Er hatte mich nie angefasst. Also klar, umarmt hatten wir uns schon, aber mehr war nie passiert. Selbstverständlich hatte ich das damals allen beteuert, aber sie wollten mir nicht glauben und so entschied ich mich zwangsläufig für Noah. Meinen Fels in der Brandung. Denjenigen, der mich verstand, ohne dass ich viel sagen musste und der mir jedes noch so bescheuerte Verhalten verzieh. So blieb es auch die letzten zehn Jahre über. Meine Eltern hatten merkwürdigerweise nie etwas gegen Noah gehabt, aber ich wollte nicht nachfragen, denn dafür war ich viel zu dankbar. Als ich vierzehn wurde, entschieden sie dann, mich auf eine andere Schule zu schicken. Wenn ich mit Noah abhing, sahen die Leute mich zwar immer noch schräg an, doch ich fand Freunde, die selbst gerne mit älteren unterwegs waren und die mich sogar cool fanden. Laut ihnen war Noah nämlich ‚suuuper heiß‘. Ich meine klar, das war mir im Laufe der Jahre nicht unbedingt entgangen, aber ich wusste, dass es nicht richtig war, so über Noah zu denken. Er sollte doch viel eher wie ein großer Bruder für mich sein! Tief seufzte ich. In letzter Zeit merkte ich oft, dass meine Gedanken eine falsche Richtung einschlugen, aber ich tat mein Bestes, es zu unterbinden. Nichts auf der Welt wäre dazu in der Lage, meine Freundschaft zu Noah zu gefährden, und erst recht nicht die Hormone, die während der Pubertät scheinbar in Massen bei mir ausgeschüttet wurden. Abgesehen davon, wie abwegig es war, dass Noah mich auf diese Art mögen könnte. Er war ein attraktiver, sechsundzwanzigjähriger Mann, der von seinen Eltern ein beachtliches Vermögen geerbt hatte. Die Frauen klebten schließlich regelrecht an ihm. Nicht, dass er je mit einer zusammen gewesen war, aber wer wusste schon, ob er nicht mehr auf so inoffizielle Sachen stand. Verdammt. Schon wieder. Wieso dachte ich nur dauernd über sein Liebesleben nach? Das war doch nicht mehr gesund! --- Auf einmal legten sich zwei raue Hände auf meine Augen und ich spürte eine männliche Präsenz hinter mir. Mehr war auch gar nicht nötig, um ihn zu erkennen. Er hatte diese ganz besondere Art, mein Herz zum Schlagen zu bringen und damit seine Anwesenheit anzukündigen. Es war schon beinahe so, als hätte ich einen zusätzlichen Sinn, der nur auf ihn ausgerichtet war. Ich war immer die erste, die wusste, wenn er auftauchte, auch wenn er noch nichts gesagt hatte, ich sah ihm immer an, in welcher Verfassung er gerade war und umgekehrt war es dasselbe. Ich konnte noch so oft versuchen, ihn zu erschrecken, oder dergleichen. Es war, als kannte er meine Pläne immer schon vor mir, denn er drehte sich immer gerade rechtzeitig in meine Richtung um und schloss mich in seine Arme. „Was machst du hier?“ fragte ich, in meiner Position verharrend, konnte allerdings nicht verhindern, dass ein Strahlen auf mein Gesicht huschte. Ich war eigentlich immer glücklich, wenn er in meiner Nähe war und es kam nur selten vor, dass ich sauer auf ihn war oder gar genervt. „Ich wollte meiner Lieblingsmaus einen Besuch abstatten. Ich habe gehört, dass du krank bist und eile natürlich sofort zu deiner Rettung.“ Er hatte die Hände von meinem Gesicht genommen und zog mich an meiner Hand bestimmend aus meinem Schreibtischstuhl. „Wenn du also bald wieder in die Schule willst, solltest du dich jetzt definitiv hinlegen.“ Prüfend legte er seine Hand auf meine Stirn, nur um festzustellen, wie heiß diese war. Ich seufzte tief, da ich wusste, dass er Recht hatte. Und ich war auch wirklich müde, nur hatte ich insgeheim auf ihn gewartet. Besonders wenn ich krank war, war Noah so hingebungsvoll und fürsorglich, dass ich ihn einfach nur knuddeln wollte. Und das war auch die einzige Situation, in der er sich dazu überreden ließ, bei mir zu schlafen. Wir lagen dann einfach in meinem Bett und er hielt mich in seinem Arm. Es war eigentlich nichts Krasses dabei. Wir taten nicht mehr, als Geschwister es tun würden, aber merkwürdigerweise schien seine Nähe immer eine Art Heilmittel für mich zu sein und dieses wollte ich nicht missen. „Bleibst du hier?“ Fragte ich also und schob unschuldig meine Unterlippe nach vorne. Er lachte und seufzte tief. „Jetzt fängt das wieder an.“ Ich patschte ihm leicht auf den Arm. „Du bist gemein“ schmollte ich und natürlich gab er sofort nach. „Ich bleibe gerne. Aber du weißt, dass das nicht immer so weiter gehen kann, oder?“ Irritiert schlug ich die Augen nieder. Wieso fing er jetzt nur wieder damit an? „Das letzte Mal, dass du krank warst, ist zwei Jahre her und irgendwie war es damals noch nicht so schwer…“ Fing er an, rang nach Worten und schwieg dann. Ich akzeptierte es. Noah war ein Mann voller Geheimnisse und das war schon immer so gewesen. Irgendwann hatte ich begriffen, dass er mir auf manche Fragen keine Antwort geben würde und dass er mir Wichtiges immer von selbst sagte. Er war grundsätzlich sehr ehrlich und ich wollte nicht, dass er lügen musste, weil ich zu neugierig war. Er hasste es zu lügen und er konnte es auch nicht sehr gut. Zumindest was mich betraf. „Komm einfach zu mir“ schlug ich also vor und kuschelte mich unter meine Decke. Wieder seufzte er. „Ich sag nur kurz Karen Bescheid.“ Karen war meine Mutter und wir wussten beide, dass es nicht wirklich nötig war, ihr Bescheid zu sagen. Wenn ich krank war, war er immer bei mir, sie hatte mich heute sogar schon nach ihm gefragt. Dennoch ließ ich ihn gehen und wartete einfach nur darauf, dass er zurückkam, um sich zu mir zu legen und mich zu wärmen. Als ich noch ein Kind war, da hatte ich mich immer an ihn gekuschelt, als wäre er mein großer Beschützer, doch ich hatte das Gefühl, dass er das mittlerweile vielleicht als unangebracht empfinden könnte. In den letzten zwei Jahren war er grundsätzlich sehr zurückhaltend geworden und ich wusste nicht, ob es daran lag, dass er Angst hatte, es könnte mir zu viel werden, oder ob es ihm zu viel wurde. Da er jedoch stets an meiner Seite blieb, konnte ich seine nun verschlossenere Art akzeptieren. „Ich bin wieder da, Krümelmonster“ Kündigte Noah sich an. Ich schmunzelte. Als wir uns das erste Mal begegneten, hatte ich gerade einen Cookie im Mund und er hatte mich so überrascht, dass ich ihn vor Aufregung einfach auf sein T-Shirt gebröselt hatte. Deshalb hielt er es nur selten für nötig, mich Alya zu nennen. Für mich war das aber okay. Ich liebte es, wie liebevoll er meinen Kosenamen aussprach. Einer meiner Kumpels hatte mich irgendwann spaßhaft so angesprochen. Den Blick, den er von Noah bekommen hatte, war legendär. Nahezu tödlich. Noah legte sich mit einem gewissen Abstand neben mich, nachdem er überprüft hatte, dass meine Decke auch wirklich über meine Füße ging. „Schlaf jetzt, Krümelmonster. Und morgen kümmere ich mich um dich, okay? Tut mir leid, dass ich erst jetzt kommen konnte. Auf der Arbeit war noch so viel los.“ Schnell legte ich ihm einen Finger auf die Lippen. „Ich bin dir nicht böse, Noah. Du musst dich auch nicht rechtfertigen. Ich bin einfach nur dankbar, dass du immer für mich da bist!“ Er wirkte wie erstarrt, als er auf meinen Finger hinunterschielte. Unsicher und verwirrt zog ich ihn schnell zurück und legte mich brav auf den Rücken, um zu schlafen. Als ich in der Nacht aufwachte, weil mir so unglaublich warm war, stellte ich fest, dass ich mich ziemlich an Noah gekuschelt hatte. Er lag brav auf seiner Seite des Bettes, ich nur mittlerweile auch. Meinen Kopf hatte ich auf seine Brust gebettet, mein Arm umschlang ihn besitzergreifend. Verdammt. Ich musste das wirklich bleiben lassen. Und vor allem durfte er uns so nicht sehen. Vorsichtig kroch ich wieder auf meine Seite, woraufhin von ihm ein leises Grummeln ertönte, doch seine Augen blieben geschlossen und so konnte ich beruhigt weiterschlafen.  --- „Aufwachen, Krümelmonster“ weckte mich seine sanfte Stimme und nur zu gerne öffnete ich meine Augen, um in seine zu schauen. Sie waren grau und so ausdrucksstark, wie ein Sturm. In seinen Händen hielt er ein Tablett, auf dem sich zwei geschmierte Brötchen mit Frischkäse und Marmelade befanden. Er wusste einfach, was ich mochte. Er ließ sich neben mich fallen und drückte mir eine Brötchenhälfte in die Hand. „Ich habe überlegt, dass wir gleich einen Film schauen könnten?“ Schlug er vor und ich nickte zustimmend. „Und wenn Hailey später von ihrer Pyjamaparty zurück ist, könnten wir ein paar Gesellschaftsspiele spielen?“ Hailey war meine kleine Schwester und einfach zuckersüß. Auch wenn sie langsam in die Pubertät kam und durchaus auch ihre zickige Seite raushängen lassen konnte, war sie doch sehr umgänglich und weil ich ihre ‚coole große Schwester‘ war, mit der sie vor Freunden auch gerne mal angab, streiteten wir uns eher selten. Wieder stimmte ich also nickend zu und lächelte Noah an.
Free reading for new users
Scan code to download app
Facebookexpand_more
  • author-avatar
    Writer
  • chap_listContents
  • likeADD