Kapitel 1-1
Kapitel 1
Fay
Fröstelnd zog ich die Jacke fester um mich herum und senkte den Kopf, um dem eiskalten Wind weniger Angriffsfläche zu bieten. Es war Ende November und man konnte spüren, dass es heute Nacht Frost geben würde. Ich fluchte leise vor mich hin. Warum musste ich auch so dumm sein und meinen Rucksack aus den Augen lassen. Eine Minute hatte ich nicht hingesehen und schon war er weg gewesen. Jetzt hatte ich buchstäblich nur noch das, was ich auf dem Leibe trug und mein Handy, welches sicher in meiner Jackentasche steckte. Mit dem zerknitterten Zehner, den ich noch in der Hosentasche gefunden hatte, hatte ich mir einen Kaffee und einen Hotdog gekauft. Jetzt hatte ich nur noch das bisschen Wechselgeld übrig. Es war bereits nach zehn Uhr und ich hatte keinen Platz zum Schlafen. Nicht einmal ein billiges Motel konnte ich bezahlen. So hatte ich mir meine Freiheit nicht vorgestellt, doch ich würde trotzdem nicht zurückgehen. Niemals! Meine Mutter würde mich nicht vermissen und mein Arschloch von einem Stiefvater konnte sich ein anderes Opfer suchen. Ich würde nie wieder seine dreckigen Finger auf mir spüren. Lieber fror ich mir hier den Arsch ab.
„Hey, Baby. Wie viel?“, riss eine lallende Stimme mich aus meinen Gedanken. Gelächter folgte.
Ich blickte auf und sah mich einer Gruppe von jungen Kerlen gegenüber. Alle schienen angetrunken zu sein und alle sahen alles andere als harmlos aus. Mit Schrecken stellte ich fest, dass ich mich in einem heruntergekommenen Viertel befand. Ich war wegen der Kälte so lange blind durch die Gegend gerannt, dass ich gar nicht wahrgenommen hatte, wohin es mich verschlug. Ängstlich schaute ich mich um. Weit und breit war niemand zu sehen, der mir helfen könnte. Wegen dem ungemütlichen Wetter schienen kaum Leute unterwegs zu sein. Alle saßen jetzt irgendwo schön im Warmen. Alle, nur diese vier besoffenen Dreckskerle nicht, die mich langsam einkreisten.
„Verpisst euch!“, rief ich und bedachte sie mit meinem, wie ich hoffte, finstersten Blick. Das schien sie nicht sonderlich zu beeindrucken, denn sie lachten und kamen noch näher.
„Wenn du mir gesagt hättest, wie viel du für einen b*****b verlangst, dann hätte ich dich bezahlt. Doch so wie es jetzt steht, darfst zu es umsonst machen“, sagte ein bulliger Kerl mit schmierigen dunkelblonden Haaren. Die anderen lachten.
„Ja, und mir darfst du auch einen blasen“, rief ein schlaksiger Typ mit roten Haaren und widerlichen schwarzen Zähnen.
Ich wich vor den Kerlen zurück, bis ich eine Mauer in meinem Rücken spürte. Panik machte sich in meinem Inneren breit. Ich war aus der Hölle geflohen, nur um an meinem ersten Abend in Freiheit in die nächste Scheiße zu geraten? Das musste ein schlechter Scherz sein. Ich war so was von fertig mit dem Schicksal.
„Fick dich selbst“, sagte ich angewidert und spuckte dem bulligen Typen ins Gesicht.
Ein Schlag riss meinen Kopf zur Seite und mein Schädel begann augenblicklich zu dröhnen. Ich schmeckte Blut in meinem Mund und meine Augen wässerten. Verdammt! Der Typ hatte einen noch härteren Schlag als mein Stiefvater.
„Irrtum, Sweetheart“, sagte der Bulle und packte mich bei meinen dunkelbraunen Locken. „Ich ficke dich! Und nach mir meine Jungs hier. Und wenn sie mit dir fertig sind, dann nehm ich mir dich noch mal vor.“
Ich wimmerte. Der Griff in meinen Haaren war so fest, dass mir erneut die Tränen in die Augen traten. Ich musste irgendetwas unternehmen. Nur was? Ich hatte wahrscheinlich nicht die geringste Chance gegen ihn, nicht zu vergessen, dass noch drei Typen hinter ihm standen.
„Auf die Knie, du kleine Schlampe“, sagte der Bulle und ich wusste, dass ich eher sterben würde, als diesem stinkenden Mistkerl einen zu blasen.
Du hast nur eine verdammte Chance, Mädchen!, erinnerte ich mich selbst. Es muss sitzen. Beim ersten Mal!
Den schmerzhaften Griff des Bullen ignorierend, sammelte ich alle meine Kräfte und rammte den Hurensohn mein Knie in die Weichteile. Ich hatte keine Mühe mein Ziel zu treffen. Offenbar hatte er nicht damit gerechnet, dass ich so etwas abziehen würde. Ein Schmerzenslaut glitt über seine wulstigen Lippen und sein Griff in meinen Haaren löste sich, als er sich reflexartig in den Schritt griff. Seine Augen wässerten und er war bleich geworden.
„Scheiße!“, hörte ich einen der anderen Männer rufen. „Die verfickte Fotze hat Will erledigt.“
Ich überlegte keine Sekunde länger und rannte los. Ich wusste, dass die Typen hinter mir herkamen. Ich hörte die Schritte und ihren schweren Atem.
„Hilfe!“, schrie ich aus heiserer Kehle. „Hilfe!“
Ich konnte hören, dass sie nicht weit hinter mir waren. Hastig bog ich um die Ecke und kollidierte mit etwas Solidem. Große Hände legten sich um meine Taille, um mich abzufangen.
„Hey! Sachte“, drang eine tiefe, leicht raue Stimme an mein Ohr. „Was ...?“
In diesem Moment bogen meine drei Verfolger um die Ecke.
„Hilfe“, sagte ich atemlos.
Ich hatte noch nicht einmal die Kraft, zu dem Mann aufzusehen, in den ich gerannt war. Ich hatte keine Garantie, dass er mir nicht auch etwas Böses anhaben wollte, doch im Moment war er meine einzige Chance auf Rettung. Die großen Hände schoben mich hinter einen breiten Rücken.
„Sucht ihr etwas?“, hörte ich die raue Stimme meines Retters.
„Wir sind zu dritt“, sagte einer der drei Kerle selbstbewusst. „Du willst dich sicher nicht wegen so ’ner kleinen Schlampe, die du nicht kennst, mit uns anlegen. Also sei brav und verpiss dich, dann passiert dir auch nichts.“
„Ihr drei seid gerade recht für ein kleines Aufwärmtraining“, erwiderte mein Retter ungerührt. Er trat vor, und damit in den fahlen Schein einer Laterne.
Ich konnte sehen, wie die drei Typen erbleichten.
„Scheiße!“, stieß der rothaarige Typ panisch aus. „Das ist Viper, Jungs!“
„Richtig“, bestätigte mein Retter. „Immer erfreut, ein paar Fans kennenzulernen. Ist wirklich nett von euch, dass ihr euch als Sparringpartner zur Verfügung stellen wollt.“
In diesem Augenblick bog der Bullige um die Ecke, Mordlust stand in sein Gesicht geschrieben.
„Habt ihr die Schlampe?“, fragte er grimmig, dann fiel sein Blick auf Viper. „Was ist?“, fragte er an seine Freunde gerichtet. „Angst vor einem einzelnen Mann? Macht ihn fertig!“
„Das ist Vincent Viper Mahony“, raunte einer seiner Freunde.
Der Bulle grinste.
„Ja und? Wir sind zu viert“, erwiderte er gelassen. „Stan, du greifst dir die Kleine, dass sie nicht abhaut und wir drei machen Mr. Viper zu Schlangenragout.“
Ich wollte schon losrennen, doch Viper fasst mich am Arm ohne seinen Blick von den Männern zu nehmen.
„Bleib!“, sagte er in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. „Die vier sind kein Problem für mich. Wenn du jetzt rennst, gerätst du nur an die nächsten Lumpen. Gib mir ’ne Minute und ich hab die Hurensöhne am Boden.“
Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. Ich bezweifelte, dass ein Mann es mit vier Typen aufnehmen konnte, doch er hatte recht damit, dass ich wieder in irgendwelche Kerle laufen könnte. Ich nahm mir die Zeit, meinen Retter kurz zu mustern, soweit das in dem schwachen Lichtschein möglich war. Er war nicht nur riesig, er war auch gut gebaut. Sein Name, Vincent – Viper – Mahony ließ darauf schließen, dass er vielleicht ein professioneller Fighter war und die Typen schienen ihn zu fürchten. Vielleicht konnte er sie doch erledigen. Ich nickte also, obwohl Viper das nicht sehen konnte, denn er hatte seine Gegner nicht aus den Augen gelassen.
Ein Typ sonderte sich von den anderen ab und ich ging davon aus, dass es Stan sein musste, der mich festhalten sollte, während die anderen drei Viper angreifen würden. Ich fragte mich, wie mein Retter verhindern wollte, dass dieser Stan an mich heran kam, wenn er sich noch um die anderen Kerle zu kümmern hatte. Doch dann ging alles buchstäblich Schlag auf Schlag, dass ich kaum wusste, wie mir geschah. Mein Retter war unglaublich schnell und absolut schonungslos. Stan lag binnen Sekunden reglos auf dem Boden und Viper kämpfte mit den anderen drei Kerlen, die versuchten, irgendwie an ihn heranzukommen und einen Treffer zu landen. Doch mein Retter war trotz seiner massigen Körpermaße so schnell und wendig, dass sie seine Deckung nicht zu durchbrechen vermochten. Der Rothaarige ging als nächstes zu Boden, nachdem Vipers Faust ihn mitten ins Gesicht getroffen hatte. Das hässliche Knirschen, als das Nasenbein zerschmettert wurde, verschaffte mir eine Gänsehaut. Blut spritzte und der Kerl schrie vor Schmerz und rollte sich auf dem Boden. Viper kämpfte mit gezielten Schlägen und Tritten. Nicht ein Mal geriet er aus dem Konzept. Seine Miene zeigte nichts als eiserne Entschlossenheit. Als nur noch der Bulle übrig war, zückte dieser ein Messer und ein widerliches Grinsen erschien auf seinem Gesicht.
„Komm her, Arschloch“, forderte er Viper heraus. „Ich schlitz dich auf, und danach kümmre ich mich um die Kleine.“
„Ich fürchte, dass ich mit deinem Plan nicht einverstanden bin. Wenn du nichts dagegen hast, dann ändern wir ihn zu meinen Vorstellungen ab“, erwiderte Viper gelassen.
Die beiden Männer umkreisten sich mit lauernden Blicken. Mein Herz klopfte wie wild. Ich sah, wie sich der Rothaarige zu regen begann. Er griff in seine Hosentasche und holte eine Pistole heraus. Ohne weiter nachzudenken, griff ich nach einer Eisenstange aus einem Haufen Schrott zu meiner Linken, und ließ die Stange auf den Schädel des Rothaarigen niedersausen. Vipers Blick glitt zu mir, als der Rothaarige einen Schmerzenslaut von sich gab, und der Bulle nutzte die Gelegenheit, um anzugreifen. Vipers Arm schnellte vor und umfasste das Handgelenk seines Gegners so schnell, dass dieser überrascht aufschrie. Mit zwei Handgriffen hatte Viper dem Mistkerl das Handgelenk gebrochen und die Klinge landete scheppernd auf dem Boden. Das Gebrüll des Bullen hallte durch die Nacht. Mit ein paar weiteren, gezielten Schlägen hatte mein Retter den Kerl reglos auf dem Boden. Er wandte sich zu mir um und unsere Blicke trafen sich. Als er auf mich zukam wurde mir unangenehm bewusst, dass, nur allein weil er mich von den anderen gerettet hatte, es nicht bedeuten musste, dass mir von ihm keine Gefahr drohte. Ich wich langsam zurück und überlegte, was ich tun sollte. Ich hatte noch immer die Stange in meiner Hand, doch ich bezweifelte, dass ich schaffen würde, was vier kampferprobte Kerle nicht geschafft hatten.
„Ist okay, Baby. Du bist jetzt sicher“, sagte er in ruhigem Ton.
„Woher soll ich wissen, dass ich mit dir sicher bin?“, fragte ich.
Er schaute mich einen Moment verwundert an.
„Ich hab dich gerettet“, gab er zu bedenken.
„Vielleicht wolltest du mich nur für dich haben, wer weiß das schon?“, erwiderte ich und wich weiter zurück, die Eisenstange schützend vor mich haltend.
Er blieb stehen und schaute mich an, dann schüttelte er leicht den Kopf.
„Baby, wenn ich dir etwas antun wollte, dann hättest du keine Chance, mir hier zu entkommen.“
Ich nickte. Er hatte schon wieder recht.
„Schau, ich bin auf dem Weg nach Hause gewesen, aber wenn du mir sagst, wo du wohnst, dann bring ich dich heim. Ich liefere dich sicher an deiner Haustür ab und du siehst mich nie wieder.“
„Ich ...“, begann ich stockend. „Ich hab ... Ich bin neu hier und ...“
„Du hast keine Bleibe?“, fragte er und ich nickte.
Er seufzte und fuhr sich über sein ultrakurzes schwarzes Haar.
„Ich hab ein Gästezimmer. Du kannst heute bei mir übernachten und dann sehen wir weiter. Komm. Lass uns erst mal von hier verschwinden.“
„Bei ... bei dir ü-übernachten?“, stammelte ich panisch.
„Ich meine im Gästezimmer. Ich habe keinerlei sexuelle Hintergedanken, das kann ich dir garantieren. Du bist mir zu jung und nicht mein Typ.“ Er schaute mich etwas ungeduldig an. „Also, was ist nun? Möchtest du lieber auf der Straße übernachten?“
„Nein!“, erwiderte ich entsetzt über die Vorstellung. „Ich ... ich nehme dein Angebot an. Danke.“
„Okay, dann komm!“, sagte er und wandte sich ab.
Ich schaute unschlüssig auf die Eisenstange in meiner Hand, dann ließ ich sie fallen, und folgte Viper eilig nach. Er warf mir einen Seitenblick zu, als ich neben ihm angelangt war, dann starrte er wieder stur geradeaus.
Wir ließen den heruntergekommenen Stadtteil hinter uns und gelangten in ein Industriegebiet. Viper war nicht gerade gesprächig und ich kämpfte noch immer mit der Frage, ob es wirklich eine gute Idee war, mit ihm mitzugehen. Immerhin kannte ich ihn nicht und das einsam daliegende Industriegebiet erschien mir auch nicht sicherer als das heruntergekommene Viertel, wo ich ihn getroffen hatte.
„Es ist nicht mehr weit“, sagte er schließlich.
Wenig später bogen wir auf ein Gelände, gingen vorbei an drei großen Hallen, zu einem dreistöckigen Backsteingebäude. Ein paar Rottweiler in einem Zwinger neben der letzten Halle fingen an zu bellen und ich zuckte erschrocken zusammen. Ein Mann trat hinter dem Zwinger hervor. Er hatte einen weiteren Hund an der Leine.
„’N Abend, Viper“, grüßte er.
„Hey Buck, alles ruhig?“, erwiderte Viper.
Der Mann, dessen Alter irgendwo jenseits der fünfzig liegen mochte, nahm seine Kappe ab und nickte.