Book 3 2. Kapitel

1774 Words
2. Kapitel Kyle flog über den Norden Manhattans. Noch nie zuvor hatte er ein derartiges Hochgefühl erlebt. Hinter ihm flog Sergei, sein gehorsamer Diener, gefolgt von Hunderten von Vampiren, die sich ihnen unterwegs angeschlossen hatten. In Kyles Gürtel steckte nun das sagenumwobene Schwert, und das sagte alles. Überall entlang der Ostküste hatten böse Vampire die Neuigkeit bereits gehört, und immer mehr Clans stießen dazu und folgten Kyle. Allen war klar, dass es Krieg geben würde, denn Kyles Ruf eilte ihm weit voraus. Diese Vampire wussten, dass er garantiert nichts Gutes im Schilde führte. Und sie wollten daran teilhaben. Prickelnde Vorfreude erfüllte Kyle, während die Armee hinter ihm anwuchs. Sergei hatte seine Sache gut gemacht, als er das Schwert genommen und diese Caitlin niedergestochen hatte. Damit hatte er Kyle überrascht, denn das hätte er Sergei gar nicht zugetraut. Offensichtlich hatte er ihn unterschätzt, und als Belohnung hatte er ihn am Leben gelassen. Bestimmt würde Sergei sich noch als guter Handlanger erweisen. Vor allem war Kyle beeindruckt gewesen, dass Sergei ihm sofort brav das Schwert überreicht hatte, nachdem sie die King’s Chapel verlassen hatten. Ja, Sergei kannte seine Stellung. Wenn er sich weiterhin dementsprechend verhielt, würde Kyle ihn vielleicht sogar befördern und ihm die Verantwortung über eine kleine Legion übertragen. Zwar hasste Kyle die meisten Dinge an den meisten Leuten, aber wenn er eine Eigenschaft schätzte, dann war es Loyalität. Vor allem nach dem, was sein eigenes Volk, der Blacktide Clan, ihm angetan hatte. Nachdem Kyle Tausende von Jahren uneingeschränkt loyal gewesen war, hatte Rexus, der Oberste Meister, ihn verstoßen, als wäre er ein Niemand und als hätten all die Jahre treuer Gefolgschaft nichts bedeutet. Und alles nur wegen eines einzigen kleinen Fehlers. Das war unvorstellbar. Doch jetzt war Kyles Plan perfekt aufgegangen. Nun, da das Schwert sich endlich in seinem Besitz befand, konnte ihm nichts mehr – absolut gar nichts mehr – in die Quere kommen. Sehr bald würde er Krieg gegen die Menschen und gegen die guten Vampirclans führen, und selbstverständlich würde er gewinnen. Als Kyle sich dem Stadtzentrum näherte und Harlem überflog, ließ er sich etwas tiefer sinken und nutzte sein ausgezeichnetes Vampirsehvermögen, um die Einzelheiten dort unten heranzuzoomen. Dabei wurde sein Grinsen noch breiter. Die Verbreitung der Pest, die Kyle selbst in die Wege geleitet hatte, zeigte offenbar bereits Wirkung, denn es herrschte schreckliches Chaos. Diese jämmerlichen kleinen Menschen drängten sich in alle Richtungen, rasten mit ihren Autos gegen Einbahnstraßen, stritten miteinander und plünderten Geschäfte. Er konnte erkennen, dass die meisten von ihnen mit den charakteristischen Beulen übersät waren, die symptomatisch für die Beulenpest waren. Außerdem sah er die Leichen, die sich bereits an jeder Straßenecke stapelten. Dort unten herrschte regelrecht Weltuntergangsstimmung. Nichts hätte Kyle glücklicher machen können. Jetzt war es nur noch eine Frage von Tagen, bis sich alle Menschen in der ganzen Stadt angesteckt haben würden. Das war der Augenblick, in dem Kyle und seine Männer zuschlagen und die Übriggebliebenen vernichten würden. Es würde das größte Festmahl werden, das es je gegeben hatte. Und danach würden sie die wenigen überlebenden Menschen als Sklaven halten. Das einzige kleine Hindernis, das noch im Weg stand, war der Whitetide Clan. Er bestand aus diesen jämmerlichen Vampiren, die sich nur von Tierblut ernährten und sich für etwas Besseres hielten. Ja, sie würden versuchen, sich ihm in den Weg zu stellen. Da Kyle jedoch das Schwert besaß, hatten sie keine Chance. Wenn er mit den Menschen fertig war, würde er sich als Nächstes um die Vampire des Whitetide Clans kümmern. Aber zuerst – das war ihm am allerwichtigsten – würde er sich seinen Platz in seinem eigenen Clan zurückerobern. Und dabei würde er gnadenlose Härte walten lassen. Rexus hat einen schweren Fehler begangen, indem er mich bestraft hat, dachte Kyle. Unwillkürlich hob er die Hand und berührte die verkrusteten Wunden an seiner einen Gesichtshälfte. Man hatte ihn grausam bestraft, weil Caitlin ihm entwischt war. Rexus würde für jede einzelne Narbe, die Kyle davongetragen hatte, büßen müssen. Zwar besaß Rexus große Macht, doch mit dem Schwert war Kyle sogar noch mächtiger als er. Und Kyle würde nicht eher ruhen, bis er Rexus eigenhändig getötet hatte und er selbst der neue Oberste Meister war. Bei dem Gedanken grinste Kyle wieder breit. Oberster Meister. Nach all den Jahrtausenden. Er hatte es verdient – es war seine Bestimmung. Kyle und seine Männer flogen immer weiter, über den Central Park, über das Stadtzentrum, über den Union Square, über Greenwich Village ... bis sie schließlich den City Hall Park erreichten. Elegant landete Kyle, und die Schar der Vampire, die inzwischen auf Hunderte angewachsen war, folgte seinem Beispiel. Es war unglaublich, wie groß seine Armee nun geworden war. Was für eine eindrucksvolle Rückkehr! Als Kyle gerade auf die City Hall zusteuerte, um die Türen aufzubrechen und seinen Krieg zu beginnen, entdeckte er aus dem Augenwinkel etwas, was seine Aufmerksamkeit erregte. Etwas, das ihn beunruhigte. Er zoomte die Brooklyn Bridge heran, die mehrere Häuserblocks entfernt war, um das dort herrschende wilde Durcheinander genauer zu inspizieren. Unmengen von Autos steckten im Stau vor der Brücke fest, weil jeder versuchte, aus der Stadt herauszukommen. Doch die Brücke war abgeriegelt. Mehrere Panzer und Militärfahrzeuge blockierten den Weg, und Soldaten richteten ihre Maschinengewehre auf die Menge. Offensichtlich durfte niemand Manhattan Island verlassen. Das Militär hatte den Auftrag, eine weitere Verbreitung der Seuche zu verhindern. Wahrscheinlich hatte man inzwischen sämtliche Brücken und Tunnel abgeriegelt. Eigentlich war das genau das, was Kyle gewollt hatte: Wenn alle Menschen in Manhattan in der Falle saßen, würde es einfacher sein, sie zu töten. Trotzdem drehte sich ihm jetzt der Magen um, als er das Spektakel mit eigenen Augen sah. Denn er hasste sämtliche Obrigkeiten – und dazu gehörte eben auch das Militär. Beinahe empfand er Mitgefühl mit den Menschenmassen, die schreiend verlangten, die Insel verlassen zu können. Sie wurden von Autoritätspersonen aufgehalten, und bei dem Gedanken kochte heiße Wut in Kyle hoch. Gleichzeitig schoss ihm eine neue Idee durch den Kopf. Warum sollte man nicht einige Menschen von der Insel lassen? Denn dann würden sie die Pest weiterverbreiten, was ganz in seinem Sinne wäre. Zum Beispiel nach Brooklyn. Ja, das wäre doch sehr praktisch. Plötzlich erhob Kyle sich wieder in die Lüfte und flog auf die Brooklyn Bridge zu. Sofort folgten ihm Hunderte Vampire. Gut, dachte er. Sie sind loyal und gehorsam, und sie stellen keine Fragen. Eine sehr brauchbare Armee. Geschmeidig landete Kyle vor der Brooklyn Bridge auf der Motorhaube eines Autos. Die Stiefel der anderen Vampire machten klackende Geräusche, als sie auf den Autos hinter Kyle aufsetzten. Ein plötzliches Hupkonzert setzte ein – offensichtlich gefiel es den Menschen nicht, wenn man über ihre Autos spazierte. Wut flammte in Kyle auf, weil diese erbärmlichen Menschen so undankbar waren und hupten, obwohl er gekommen war, um ihnen zu helfen. Er stand auf der Motorhaube eines Saab Geländewagens und wollte gerade herunterspringen, um sich um das Militär zu kümmern. Weil der Fahrer jedoch wie wild hupte, drehte er sich langsam um und blickte durch die Windschutzscheibe auf die Familie hinunter, die wiederum zu ihm hinaufstarrte. Sie waren eine typische adrette Vorzeigefamilie. Auf den Vordersitzen saßen Ehemann und Ehefrau, beide in den Vierzigern, hinter ihnen ihre beiden Kinder. Der Mann öffnete das Fenster und drohte Kyle mit der Faust. »Runter von meinem Auto, verdammt noch mal!«, schrie er erbost. Langsam kniete Kyle sich hin, holte aus und zertrümmerte mit der Faust die Windschutzscheibe. Dann packte er den Mann an seinem Polokragen und riss ihn durch die Scheibe aus dem Wagen. Glassplitter flogen in alle Richtungen, während die Ehefrau und die Kinder vor Entsetzen aufschrien. Breit grinsend hob Kyle den Mann hoch über seinen Kopf. Der arme Kerl jammerte und schrie. Die Glasscherben hatten ihm viele Verletzungen zugefügt, und er war blutüberströmt. Mit Schwung warf Kyle den Mann durch die Luft, als wäre er ein Papierflugzeug. Er flog viele Meter weit und stürzte schließlich irgendwo mitten im Stau auf ein Auto. Kyle hoffte, dass er tot war. Nun machte Kyle sich an die Arbeit, sprang von dem Auto und lief auf die riesigen Panzer zu, die den Zugang zur Brücke versperrten. Die übrigen Vampire folgten ihm auf den Fersen. Als Kyle und seine Männer näher kamen, wurden die Soldaten sichtlich nervös. Mehrere brachten ihre Maschinengewehre in Anschlag. Zwischen den Panzern und den Autos befand sich ein gut dreißig Meter breiter Streifen, den offensichtlich niemand überqueren wollte. Doch Kyle überschritt diese unsichtbare Grenze völlig unbekümmert und marschierte geradewegs auf die Panzer zu. »Stehen bleiben!«, rief einer der Soldaten durch ein Megafon. »Kommen Sie NICHT näher, sonst eröffnen wir das Feuer!« Kyle lachte über das ganze Gesicht und marschierte weiter. »Ich habe gesagt, STEHEN BLEIBEN!«, wiederholte der Soldat. »Das ist die LETZTE Warnung! Es besteht Ausgangssperre. Wir haben den Auftrag, nach Einbruch der Nacht auf jeden zu schießen!« Kyles Grinsen wurde noch breiter. »Die Nacht gehört mir«, antwortete er. Als Kyle seinen Weg fortsetzte, eröffneten sie plötzlich das Feuer. Dutzende Soldaten richteten ihre Maschinenpistolen auf Kyle und seine Männer und schossen. Die Kugeln prallten von Kyle ab, von seiner Brust, seinen Armen, seinem Kopf und seinen Beinen. Sie fühlten sich an wie Regentropfen, nur etwas heftiger. Amüsiert lächelte er über diese jämmerlichen Waffen der Menschen. Dann sah er die entsetzten Gesichter der Männer, als sie begriffen, dass er nicht einmal verletzt war. Ganz offensichtlich konnten sie nicht begreifen, warum er immer noch auf den Beinen war. Auch seine Begleiter waren gesund und munter. Den Soldaten blieb keine Zeit, auf ihre Erkenntnis zu reagieren, denn Kyle ging bereits auf einen der Panzer zu, kroch darunter und stemmte ihn mit übermenschlichen Kräften in die Höhe. Dann trug er das Fahrzeug mehrere Schritte Richtung Brückengeländer. Einige Soldaten verloren das Gleichgewicht und purzelten von dem Panzer herunter, während Dutzende weiterer Männer sich mit aller Kraft an dem Metall festklammerten, um nicht abzustürzen. Doch das erwies sich als großer Fehler. Kyle machte noch drei schnelle Schritte und warf den Panzer mit aller Kraft von der Brücke. Das Fahrzeug flog im hohen Bogen über das Geländer und stürzte viele Meter in die Tiefe auf den Fluss zu. Dabei drehte es sich immer wieder um sich selbst. Die Soldaten schrien, als sie sich nicht mehr halten konnten und abstürzten. Schließlich schlug der Panzer mit einem gewaltigen Platschen auf der Wasseroberfläche auf. Plötzlich erwachte der Verkehr zum Leben. Die vollkommen verängstigten New Yorker traten ohne zu zögern das Gaspedal durch, und die Autos schossen auf der jetzt frei gewordenen Fahrspur auf die Brücke zu. Innerhalb weniger Sekunden brausten Hunderte von Autos aus Manhattan heraus. Als Kyle ihre Gesichter musterte, erkannte er, dass viele bereits mit der Pest infiziert waren. Ein strahlendes Lächeln breitete sich auf seinem entstellten Gesicht aus. Diese Nacht versprach wunderbar zu werden.
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