Neuntes Kapitel

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Neuntes KapitelDie Hauptpersonen in der Geschichte waren ein alter irischer Edelmann, der einfach der Earl genannt wurde, und der jüngere seiner beiden Söhne, von seinem Bruder durch den mysteriösen Beinamen „der wilde Lord” unterschieden. Von dem Earl wurde erzählt, dass er kein guter Vater gewesen sei; er habe auf die unverantwortlichste Weise die Erziehung seiner beiden Söhne vernachlässigt. Der jüngere, der in der Schule viel zu leiden hatte und in den Ferien sich selbst überlassen blieb, begann seine abenteuerliche Laufbahn damit, dass er davonlief. Unter angenommenem Namen fand er Anstellung als Schiffsjunge. Gleich von Anfang an hielt er sich brav, lernte seine Sache und war bei Kapitän und Mannschaft beliebt. Aber der erste Steuermann war ein roher Mensch, und das lebhafte Temperament des jungen Durchgängers empfand doppelt die schimpfliche Strafe von Schlägen. Er kam daher auf den Gedanken, sein Glück auf dem Lande zu versuchen, und schloss sich einer herumziehenden Schauspielergesellschaft an. Da er ein hübscher Junge war, eine gute Figur und eine klare, schöne Stimme hatte, so ging es ihm wenigstens eine Zeit lang ganz gut. Dann kamen schlimme Zeiten, die Gagen wurden verkürzt; der Abenteurer wurde der Gesellschaft der Schauspieler und Schauspielerinnen überdrüssig. Der nächste Abschnitt seines wechselvollen Lebens zeigt ihn in Nordbritannien als Mitarbeiter an einer schottischen Zeitung. Eine unglückliche Liebesgeschichte war der Grund, dass er auch dieser neuen Anstellung bald verlustig ging. Kurz darauf tauchte er wieder auf als Gehilfe des Stewart auf einem der großen Passagierdampfer, die zwischen Liverpool und New York fahren. In dieser letzteren Stadt angekommen, wurde er schnell durch die nicht gerade sehr anständige und ehrenvolle Beschäftigung als „Medium”, welches sich der übernatürlichen Kraft rühmte, mit der Welt der Geister in Verbindung zu stehen, bekannt. Als der Betrug schließlich endgültig aufgedeckt wurde, zehrte der junge Edelmann von dem Gelde, das er in dem unwürdigen Dienste des gemeinen, prosaischen Aberglaubens der modernen Tage verdient. Ein langer Zeitraum verfloss, wo man nichts von ihm hörte, bis er als verirrter und fast verhungerter Mann von einem Reisenden in einer der westlichen Prärien aufgefunden wurde. Der unglückliche irische Lord hatte sich einem Indianerstamme angeschlossen, sich aber einige Verstöße gegen dessen Gesetze zu Schulden kommen lassen und war deshalb in die Einöde hinausgejagt worden, um dem Hungertode preisgegeben zu sein. Nach seiner Auffindung schrieb er an seinen älteren Bruder, der die Titel und Besitzungen des inzwischen verstorbenen alten Earls geerbt hatte. Er sagte in seinem Briefe, dass er sich über das Leben, welches er bis jetzt geführt habe, schäme und dass er das ernstliche Verlangen trage, sich zu bessern. Deshalb wolle er irgend eine ehrliche Beschäftigung ergreifen, die sich ihm darbiete. Der Reisende, der ihm das Leben gerettet hatte, und dessen Aussage vollständig zu trauen war, erklärte, dass der Brief eine aufrichtig bereuende Gemütsverfassung offenbart habe. Es lagen gute Eigenschaften in dem Vagabunden verborgen, welche nur ein klein wenig mitleidsvoller Ermutigung bedurften, um sich zu betätigen. Die Antwort, die er aus England empfing, kam von den Anwälten, deren sich der neue Lord zur Vermittlung seiner Angelegenheiten bediente. Sie hatten mit ihren Agenten in New York das Abkommen getroffen, dem jüngeren Bruder ein Legat von tausend Pfund auszuzahlen, welche die ganze Summe ausmachten, die ihm nach seines Vaters letztem Willen zu übergeben seien. Wenn er wieder schreiben würde, würden seine Briefe unbeantwortet bleiben, denn sein Bruder wolle nichts mit ihm zu tun haben. In so unmenschlicher Weise behandelt, wurde der wilde Lord von der Zeit an erst recht dieses seines Namens würdig. Er begann jetzt ein neues Leben als Buchmacher bei allen Wettrennen. Das Glück begünstigte ihn gleich von Anfang an und er vermehrte sein Erbteil um ein Beträchtliches. Mit der gewöhnlichen Verblendung derjenigen Leute, welche Geld gewinnen, indem sie sich dem Verluste desselben aussetzen, verließ er sich auf sein gutes Glück; ein pekuniärer Verlust folgte dem andern und beraubte ihn buchstäblich des letzten Pfennigs. Darauf tauchte er wieder in England auf und ließ ein offenes Boot für Geld sehen, in dem er mit einem Genossen eine jener tollkühnen Fahrten über den atlantischen Ozean ausgeführt hatte, welche jetzt glücklicherweise aufgehört haben, das Interesse des Publikums zu erregen. Einem Bekannten, der ihm über dieses unsinnige Wagstück Vorwürfe machte, antwortete er, er habe darauf gerechnet, dass er auf der See umkommen würde, und dass er auf diese Weise einen Selbstmord begehen könnte, der würdig sei des elenden Lebens, das er geführt habe. Die letzten Berichte, die nach dieser Tat über ihn gemacht wurden, waren zu unbestimmt und widersprechend, als dass man daraus irgend etwas Sicheres hätte entnehmen können. Einmal wurde gemeldet, dass er nach den Vereinigten Staaten zurückgekehrt sei. Kurz darauf brachten die Zeitungen die sonderbarsten Geschichten über ihn, denen zufolge er zu ein und derselben Zeit in der schlechtesten Gesellschaft in Paris gelebt haben und in einem ganz verrufenen Viertel der Stadt Dublin, genannt „die Freiheit”, sich verborgen halten sollte. Jedenfalls war hinreichender Grund zu der betrübenden Annahme vorhanden, dass irisch-amerikanische Desperados den wilden Lord in das Netzwerk politischer Verschwörung verwickelt hatten. Das Kammermädchen bemerkte eine auffällige Veränderung an ihrer Herrin, nachdem sie am Ende ihrer Erzählung aus der Zeitung angekommen war.Von Miss Henleys gewöhnlichem heiterem und glücklichem Wesen war keine Spur mehr zu entdecken. „Wenige Menschen, Rhoda, erinnern sich so gut dessen, was sie gelesen haben, wie Du,” sagte sie freundlich und traurig. Sonst kam kein Wort weiter über ihre Lippen. Sie hatte guten Grund, in sich gekehrt zu sein. Von zwei Seiten hatte Iris in kurzer Zeit von den Fehlern und Verirrungen Lord Harrys hören müssen. Die vollständige Erzählung von seinem regellosen Leben, wie es sich in der ununterbrochenen Reihe von Ereignissen darstellte, hatte jetzt zum erstenmale ihre ganze Aufmerksamkeit auf dasselbe gelenkt. Sie schauderte natürlich entsetzt davor zurück, sie fühlte, wie es nie zuvor geschehen war, dass ihr Vater vollkommen recht gehabt hatte mit seinem Widerstande gegen eine Verbindung, die ihrer unwürdig gewesen wäre. So weit, jedoch auch nicht einen Schritt weiter, gab ihr Verstand ihrer eigenen Überzeugung nach. Aber die einzige unüberwindliche Kraft in der Welt ist die Kraft der Liebe. Sie mag den härtesten Prüfungen des Lebens unterworfen sein; sie mag die gebieterischen Forderungen der Pflicht anerkennen, sie mag mit Stillschweigen Tadel über sich ergehen lassen, sie mag demütig duldend sich berauben lassen; es mag mit ihr geschehen, was da will, sie ist und bleibt doch die stärkste, die gewaltigste Leidenschaft, die keinen künstlichen Einflüssen unterworfen, niemand die Herrschaft über sich zugesteht als ihrem eigenen Gesetz. Iris war schon längst über den Bereich der Selbstvorwürfe hinaus, als sie sich ihrer kühnen Handlungsweise erinnerte, durch welche Lord Harry an dem Meilensteine gerettet wurde. Ihr Verstand gab zu, dass Hugh Mountjoy in jeder Beziehung dem andern vorzuziehen sei, aber ihr Herz, ihr törichtes Herz blieb trotz allem seiner ersten Wahl treu. Sie verließ ihr Kammermädchen und Mrs. Lewson nach einigen flüchtigen Entschuldigungsworten, um im Garten ihr Gleichgewicht wieder zu gewinnen. Die Abendstunden schlichen langsam dahin. Ein Spiel Karten war im Hause; die Frauen versuchten sich damit die Zeit zu vertreiben, aber der Versuch misslang. Die Angst um Arthur lag drückend auf den Gemütern von Miss Henley und Mrs. Lewson. Selbst das Kammermädchen, welches ihn nur bei seinem letzten Besuch in London gesehen hatte, wünschte, der morgige Tag wäre erst gekommen und vergangen. Sein liebenswürdiges Wesen, sein hübsches Gesicht und seine anregende Unterhaltung hatten Arthur bei allen beliebt gemacht. Mrs. Lewson hatte ihr wohnliches englisches Heim verlassen, um ihm die Haushaltung zu führen, als er seinen tollkühnen Plan, sich in Irland niederzulassen, zur Ausführung brachte, und was noch viel wunderbarer war, selbst der langweilige Sir Giles wurde in seiner Gesellschaft ein ganz erträglicher Mensch. Iris zog sich beizeiten auf ihr Zimmer zurück. Es lag etwas Beängstigendes in der ringsum herrschenden feierlichen Stille und vereinigte sich geheimnisvoll mit der Angst um Arthur; es flüsterte leise von Verrat, der bewaffnet auf den Zehen umher schleicht, von durch die Luft pfeifenden Flintenkugeln, von dem durchdringenden Schrei eines tödlich verwundeten Mannes, und dieser Mann war vielleicht... Iris schrak zurück vor ihren eigenen Gedanken. Eine plötzliche Schwäche übermannte sie; sie öffnete das Fenster. Als sie ihren Kopf hinausstreckte, um die kühle, erfrischende Nachtluft einzuatmen, kam ein Mann auf das Haus zugeritten. War es Arthur? Nein, die hellfarbige Bedientenlivree, die der Mann trug, wurde gerade sichtbar. Bevor er noch absteigen konnte, um an der Thür zu klopfen, trat ein großer Mann aus der Dunkelheit an ihn heran. „Ist das Miles?” fragte der große Mann. Der Reitknecht kannte die Stimme. Sogar Iris wusste genau, wessen Stimme da sprach. Es war Lord Harry.
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