Achtes Kapitel

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Achtes KapitelAm Nachmittag desselben Tages langte Iris in der Ortschaft an, welche in der nächsten Nachbarschaft von Arthur Mountjoys Pachtgut gelegen war. Die allgemeine Erregung, mit anderen Worten der Hass gegen England, der wie eine ansteckende Krankheit die Gemüter der Irländer ergriffen hatte, war sogar bis zu diesem weltentlegenen Orte gedrungen. Auf den Stufen, die in seine kleine Kapelle führten, stand der Priester, der, selbst ein Bauer, zu seinen Brüdern in lautem, lebhaftem Ton sprach. Ein Irländer, der seinem Gutsherrn den Zins zahlte, war ein Verräter an seinem Vaterland; derjenige aber, der sein freies, angeborenes Recht auf das Land behauptete, war ein erleuchteter Patriot. Das war das neue Gesetz, welches der ehrwürdige Herr seiner aufmerksamen Zuhörerschaft vorpredigte. Wenn seine Brüder gern von ihm wissen möchten, wie sie dieses Gesetz in Anwendung bringen sollten, so wolle er auf den treulosen Irländer Arthur Mountjoy hinweisen und ihnen sagen: „Kauft nichts von ihm und verkauft nichts an ihn; geht ihm aus dem Weg, wenn er sich euch nähert; hungert ihn auf seinem Gut aus. Ich könnte noch mehr sagen, Freunde - ihr wisst schon, was ich meine!” Den letzten Teil dieser rednerischen Leistung mit anhören zu müssen, ohne ein Wort des Widerspruchs dagegen äußern zu dürfen, war eine harte Prüfung ihrer Selbstüberwindung und Geduld, die Iris erzittern ließ. Erst in zweiter Linie machte sich bei ihr als eine durch die Ansprache des Priesters hervorgerufene Wirkung geltend, dass sich in ihrem Geist die Überzeugung von der Arthur drohenden Gefahr mit zehnfach verstärkter Zähigkeit festwurzelte. Nach dem, was sie soeben gehört hatte, konnte die geringste Verzögerung der Bewahrung seiner Sicherheit das beklagenswerteste Ergebnis zur Folge haben. Sie setzte einen barfüßigen Knaben, der außerhalb der den Priester umdrängenden Menge stand, durch das Geschenk eines Sechspencestückes in nicht geringes Erstaunen und erkundigte sich nach dem zur Besitzung Arthurs führenden Weg. Der kleine Irländer lief rasch vor ihr her, ernstlich bemüht, der freigebigen jungen Dame zu beweisen, wie brauchbar er schon sein konnte. In weniger denn einer halben Stunde stand Iris mit ihrem Kammermädchen vor der Tür des Gutshauses. Nichts von derartigen nützlichen Erfindungen der Zivilisation wie eine Glocke oder ein Klopfer war zu entdecken. Der Junge nahm statt dessen seine Fäuste und lief eilends davon, als er an der innern Seite den Schlüssel im Türschloss sich drehen hörte. Er fürchtete, gesehen zu werden, wenn er mit einem Bewohner der „verfemten Farm” spräche. Eine einfach gekleidete alte Frau erschien und fragte argwöhnisch, was die Damen wünschten. Der Akzent, mit dem sie sprach, war der unverfälscht englische. Als Iris nach Mr. Arthur Mountjoy fragte, lautete die Antwort: „Nicht zu Hause.” Darauf versuchte die Haushälterin, die Tür wieder zu schließen. „Warten Sie einen Augenblick,” sagte Iris; „die Jahre haben Sie zwar verändert, aber in Ihrem Gesicht liegt etwas, was mir nicht ganz fremd ist. Sind Sie Mrs. Lewson?” Die Alte erwiderte, dies sei ihr Name. „Aber wie kommt es, dass Sie mir ganz unbekannt sind?” fragte sie misstrauisch. „Wenn Sie lange in Mr. Mountjoys Diensten gewesen sind,” antwortete Iris, „so werden Sie ihn vielleicht von Miss Henley haben sprechen hören?” Das Gesicht der alten Frau erstrahlte sofort in freudigem Glanz; sie riss mit einem frohen Ausruf des Wiedererkennens die Türe weit auf. „Treten Sie ein, Miss, treten Sie ein! Wer hätte gedacht, Sie an diesem schrecklichen Ort zu sehen! Ja, ich war die Kinderfrau, unter deren Obhut Sie alle drei - Sie, Miss, Mr. Arthur und Mr. Hugh - zusammen gespielt haben!” Ihre Augen ruhten mit Wohlgefallen auf ihrem Liebling vergangener Tage. Ihre feinfühlige Sympathie deutete Iris diesen Blick. Liebevoll bot sie der alten Wärterin die Wange zum Kuss. Nachdem sie dieser herzlichen Aufforderung Folge geleistet hatte, brach die Fassung der armen alten Frau zusammen; sie entschuldigte ihre Tränen mit den Worten: „Wie oft ich jener, ach, so glücklichen Zeit denken musste, Miss, werden Ihnen diese Tränen erzählen, - wenn Sie sie selbst nicht vergessen haben!” Als sie das Empfangszimmer betraten, war der erste Gegenstand, den Iris erblickte, der Brief, den sie an Arthur geschrieben hatte; er lag noch uneröffnet auf dem Tisch. „Er ist also wirklich nicht zu Hause?” fragte sie mit dem frohen Gefühl der Erleichterung. Er war schon länger als eine Woche von dem Gut abwesend gewesen. Hatte er von einer andern Seite eine Warnung erhalten und in weiser Vorsicht sein Heil in der Flucht gesucht? Das Erstaunen, welches sich in dem Gesicht der Haushälterin ausdrückte, verlangte eine nähere Erklärung. Iris bekannte ohne Zurückhaltung die Gründe, die sie zu der Reise veranlasst hatten, und erkundigte sich angelegentlich darnach, ob ihre Annahme unrichtig gewesen sei, dass sich Arthur in der ernstlichen Gefahr, ermordet zu werden, befunden hätte. Mrs. Lewson schüttelte den Kopf. Es unterlag nicht dem geringsten Zweifel, dass Arthur in Gefahr schwebte; aber Iris hätte seine Natur besser kennen sollen, als dass sie glauben konnte, er habe sich dem drohenden Unheil durch die Flucht entzogen. Er hätte es selbst dann nicht getan, wenn alle Mitglieder der Landliga zusammen ihn bedroht hätten. Nein, gewiss nicht! Lachend hätte er der Gefahr Trotz geboten. Er hatte sein Gut mit der Absicht verlassen, einen Freund in der nächsten Grafschaft zu besuchen, und die alte Frau hatte sich scharfsinnig zusammengereimt, dass ein junges Mädchen, welches sich dort befand, die Anziehungskraft wäre, die ihn so lange entfernt hielt. „Auf jeden Fall wird er, wie es auch seine Absicht war, morgen zurückkommen,” sagte Mrs. Lewson. „Hoffentlich besinnt er sich aber eines Bessern und benützt die sich ihm bietende günstige Gelegenheit, nach England zu entweichen. Wenn die Barbaren hier in dieser Gegend durchaus jemand töten müssen, ich bin da - eine alte Frau, die doch nicht mehr lange zu leben hat. Mich können sie ruhig ermorden.” Iris fragte, ob Arthurs Sicherheit auch in der nächsten Grafschaft gefährdet sei und in dem Hause seines Freundes. „Das kann ich Ihnen nicht sagen, Miss, denn ich bin niemals dort gewesen. Er ist in Gefahr, wenn er darauf besteht, nach seinem Gute zurückzukehren. Da gibt es auf dem ganzen Weg bis hieher Gelegenheiten genug, ihn aus dem Hinterhalt niederzuschießen. O, er weiß es, der arme, liebe Junge, ebenso gut, wie ich es weiß. Aber Menschen seiner Art sind so wunderliche, eigensinnige Geschöpfe. Er geht seine eigenen Wege und hört nicht auf eine alte Frau, wie ich bin. Und was seine Freunde anbetrifft, die ihm raten könnten - der einzige von ihnen, der unsere Schwelle betreten hat, ist ein Taugenichts, der besser weggeblieben wäre. Sie mögen vielleicht auch schon von ihm gehört haben. Der alte Earl, ein schlechter Mensch, wurde gewöhnlich mit einem schlimmen Namen bezeichnet, und der wilde junge Lord ist seines Vaters echter Sohn.” „Doch nicht Lord Harry?” rief Iris aus. Ihr Kammermädchen bemerkte die heftige Erregung in ihrer Stimme und in ihrem ganzen Wesen, sagte aber nichts. Die Haushälterin Arthurs dagegen machte gar nicht den Versuch, ihre Gedanken darüber zu verbergen. „Hoffentlich kennen Sie diesen Vagabunden nicht,” sagte sie sehr ernst. „Vielleicht denken Sie an seinen älteren Bruder, den ältesten Sohn des alten Earl, der ein durchaus ehrenhafter Mann ist, wie man mir gesagt hat.” Miss Henley ließ diese Fragen vollständig unbeachtet. Einzig und allein getrieben von dem Interesse für ihren Geliebten, welches sich jetzt mehr denn je ihrer Beherrschung entzogen hatte, fragte sie: „Ist Lord Harry seines Freundes wegen in Gefahr?” „Er hat nichts von dem Gesindel zu fürchten, das unsere Gegend unsicher macht,” entgegnete Mrs. Lewson. „Berichte erzählen, er gehöre selbst dazu. Die Polizei, die ist's, vor der seine junge Lordschaft auf der Hut sein muss, wenn nämlich alles wahr ist, was über ihn gesprochen wird. Jedenfalls kam er damals, als er meinem Herrn seinen Besuch abstattete, heimlich wie ein Dieb in der Nacht, und ich hörte Mr. Arthur, als sie beide zusammen hier im Empfangszimmer waren, ihn laut und heftig tadeln wegen etwas, was er getan hatte. Und jetzt nichts mehr über Lord Harry, Miss! Ich habe mit Ihnen etwas Wichtiges zu besprechen. Wollen Sie, wenn ich Ihnen das Versprechen gebe, es Ihnen so behaglich wie möglich zu machen, wollen Sie dann bis morgen hier bleiben, damit Sie mit Mr. Arthur reden können? Wenn es einen Menschen auf der Welt gibt, der imstande ist, ihn zu einiger Vorsicht zu bewegen, so sind Sie es nach meiner Meinung ganz allein.” Iris erklärte sich sofort bereit, auf Arthur Mountjoys Rückkunft zu warten. Als Mrs. Lewson, um ihren häuslichen Obliegenheiten nachzugehen, sie mit ihrer Kammerzofe allein gelassen hatte, bemerkte sie in dem Gesichte des Mädchens etwas von Missstimmung. „Es scheint mir, Rhoda, als ob Du jetzt schon anfingest, zu wünschen,” sagte Iris, „ich hätte Dich nicht an diesen fremden Ort unter diese rohen und wilden Gesellen gebracht?” Rhoda war ein stilles, freundliches Mädchen, augenscheinlich von sehr zarter Gesundheit. Sie lächelte matt und antwortete: „Ich dachte gerade an einen andern Edelmann, Miss, als den, von dem Mrs. Lewson soeben sprach; er scheint ein sehr freies, leichtsinniges Leben geführt zu haben. Es stand in einer Zeitung gedruckt, die ich gelesen habe, bevor wir London verließen.” „War sein Name erwähnt?” fragte Iris. „Nein, Miss; ich glaube, sie fürchteten, sich dadurch Unannehmlichkeiten zu bereiten. Er hatte so viele sonderbare Wege eingeschlagen, um sich seinen Lebensunterhalt zu erwerben, dass es sich fast wie ein Roman las.” „Erinnerst du dich noch der Erlebnisse des Helden?” fragte Iris. „Ich will es versuchen, Miss, wenn Sie es zu hören wünschen.” Die Erzählung in der Zeitung schien einen lebhaften Eindruck auf Rhodas Geist gemacht zu haben. Wenn man die selbstverständlichen Stockungen und Irrtümer und die Schwierigkeiten, sich richtig auszudrücken, in Abrechnung brachte, so wiederholte sie mit überraschend klarer Erinnerung den Inhalt dessen, was sie gelesen hatte.
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