Drittes Kapitel. Fünfzehn Jahre später-2

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Siebzehn Stein aufrechtes muskelstarkes Fleisch, ohne eine einzige wunde und unreine Stelle, besitzen jedenfalls das Verdienst, daß sie Ausdauer hoffen lassen und dies ist eine vortreffliche Tugend bei Säulen jeder Art, in der gegenwärtigen Zeit aber eine ganz besonders kostbare Eigenschaft an einer Säule der Kirche. Sobald der Vikar in das Frühstückszimmer trat, kamen ihm die Kinder mit lautem Geschrei entgegen. Er war in Beobachtung der Pünktlichkeit bei Mahlzeiten sehr streng und sah sich jetzt selbst von der Uhr überführt, daß er eine Viertelstunde zu spät zum Frühstück kam. „Es tut mir leid, daß ich Sie habe warten lassen, Miß Sturch“, sagte der Vikar, „ich habe jedoch für meine Verspätung eine gute Entschuldigung.“ „O bitte, sprechen Sie nicht davon, Sir“, sagte Miß Sturch, indem sie freundlich ihre feisten kleinen Hände eine über der andern rieb. „Ein schöner Morgen. Ich fürchte, wir werden wieder einen warmen Tag bekommen. Robert, mein guter Junge, stemme dich nicht mit dem Ellbogen auf den Tisch. Ein schöner Morgen – wirklich ein schöner Morgen.“ „Ist dein Magen immer noch nicht in Ordnung, Phippen, wie ?“ fragte der Vikar, indem er den Schinken zu tranchieren begann. Mr. Phippen schüttelte kläglich seinen dicken Kopf, legte seinen gelben, mit einem großen Türkisenring geschmückten Zeigefinger auf das mittelste Quarré seiner hellgrünen Sommerweste, sah Doktor Chennery kläglich an und seufzte, nahm den Finger wieder weg und brachte aus der Brusttasche seines Paletot ein kleines Mahagoni-Etui heraus. Aus diesem nahm er eine sauber gearbeitete kleine Apothekerwaage mit den dazugehörigen Gewichten, ein Stück Ingwer und ein blankpoliertes kleines silbernes Reibeisen. „Sie werden einen Kranken entschuldigen, meine liebe Miß Sturch, nicht wahr ?“ sagte Mr. Phippen, indem er den Ingwer matt und langsam in die nächste Teetasse zu reiben begann. „Ratet einmal, weshalb ich heute Morgen eine Viertelstunde zu spät komme“, sagte der Vikar, indem er geheimnisvoll einen Blick um den Tisch herumschweifen ließ. „Du hast es verschlafen, Papa !“ riefen die drei Kinder, indem sie triumphierend in die Hände klatschten. „Was meinen Sie, Miß Sturch ?“ fragte Doktor Chennery. Miß Sturch lächelte wie gewöhnlich, rieb wie gewöhnlich die Hände, hustete wie gewöhnlich sanft, um die Kehle frei zu machen, sah unverwandt die Teemaschine an und bat dann mit der anmutigsten Höflichkeit, man möge sie entschuldigen, wenn sie nichts sage. „Nun bist du an der Reihe, Phippen“, sagte der Vikar. „Rate einmal, weshalb ich mich heute Morgen verspätet habe.“ „Mein lieber Freund“, sagte Mr. Phippen, indem er dem Doktor brüderlich die Hand drückte, „fordere mich nicht auf, zu raten, denn ich weiß es. Ich sah, was du gestern beim Dinner aßest – ich sah, was du nach dem Dinner trankst. Keine Verdauung könnte dies aushalten, nicht einmal die deinige. Ich soll erraten, weshalb du diesen Morgen so spät gekommen bist ? Ach geh doch, ich weiß es ja ! Du gute, liebe Seele, du hast Arznei eingenommen !“ „Nein, Gott sei Dank, seit zehn Jahren ist davon kein Tropfen über meine Zunge gekommen“, sagte Doktor Chennery mit einem Blick frommer Dankbarkeit. „Nein, nein, du irrst dich vollständig. Du mußt nämlich wissen, ich bin in der Kirche gewesen und was glaubest du wohl, was ich da gemacht habe ? Hören Sie, Miß Sturch – höret, Mädchen, mit allen euren Ohren ! Der arme blinde junge Frankland ist endlich ein glücklicher Mann – heute Morgen eben habe ich ihn mit unserer lieben Rosamunde Treverton vermählt.“ „Ohne uns etwas zu sagen, Papa !“ riefen die beiden Mädchen gleichzeitig im gellendsten Tone des Ärgers und der Überraschung. „Ohne uns etwas zu sagen, während du doch weißt, wie gern wir zugesehen hätten !“ Eben dies war der Grund, weshalb ich euch nichts davon sagte, meine lieben Kinder“, antwortete der Vikar. „Der junge Frankland ist noch nicht so an sein Übel gewöhnt, der arme junge Mann, daß er es ertragen könnte, sich in der Eigenschaft eines blinden Bräutigams öffentlich bemitleiden und angaffen zu lassen. Er hatte eine so große Furcht davor, an seinem Hochzeitstage Gegenstand der Neugier zu sein, und Rosamunde, dieses gutherzige Mädchen, war so darauf bedacht, ihm in allen Dingen den Willen zu tun, daß wir verabredeten, die Vermählung zu einer Stunde des Morgens zu vollziehen, wo sich vermuten ließe, daß noch keine müßigen Gaffer sich in der Nähe der Kirche herumtrieben. Mir war in Bezug auf den Tag die strengste Verschwiegenheit zur Pflicht gemacht und dasselbe war mit meinem Küster Thomas der Fall. Mit Ausnahme von uns beiden, der Braut, des Bräutigams und des Vaters der Braut, Kapitäns Treverton, wußte niemand –“ „Treverton !“ rief Mr. Phippen, indem er seine Teetasse mit dem geriebenen Ingwer auf dem Boden derselben hinhielt, um sie von Miß Sturch füllen zu lassen, „Treverton! – So ist es genug, meine liebe Miß Sturch ! – Das ist doch merkwürdig ! Diesen Namen kenne ich. – Noch ein wenig Wasser, wenn ich bitten darf. – Sage mir, lieber Doktor – ich danke recht sehr – keinen Zucker – er verwandelt sich im Magen in Säure – ist diese Miß Treverton, welche du vermählt hast – ich danke nochmals, auch keine Milch – eine von den Trevertons in Cornwall ?“ „Jawohl, versteht sich“, entgegnete der Vikar. „Ihr Vater, Kapitän Treverton, ist das Haupt der Familie. Nicht als ob dieselbe sehr zahlreich wäre. Der Kapitän und Rosamunde und ihr launenhafter, mürrischer alter Onkel, Andrew Treverton, sind alles, was noch von dem alten Stamme übrig ist. In frühern Zeiten war es eine reiche Familie und eine schöne Familie – gute Freunde der Kirche und des Staats, weißt du, und alles dergleichen.“ „Erlauben Sie, Herr Doktor, daß Amely noch ein Stück Brot und Kompott bekommt ?“ fragte Miß Sturch den Vikar, ohne im mindesten zu wissen, daß sie ihn in seiner Rede unterbrach. Da sie in ihrem Geiste keinen überflüssigen Raum hatte, an welchem sie gewisse Dinge hätte aufbewahren können bis es Zeit war, damit herauszurücken, so tat sie Fragen und machte Bemerkungen in dem Augenblick, wo ihr dieselben einfielen, ohne auf den Anfang, die Mitte, oder das Ende der Konversationen zu warten, welche vielleicht in ihrem Beisein geführt wurden. Mit den Augen spielte sie die Rolle einer Zuhörerin ganz vollkommen, aber sie war eine solche wirklich nur dann, wenn die Worte unmittelbar für ihre eigenen Ohren bestimmt und an dieselben gerichtet waren. „O, geben Sie ihr noch ein Stück – immerhin“, sagte der Vikar gleichgültig. „Überessen muß sie sich einmal und das kann sie ebensogut in Brot und Kompott tun, als in etwas anderem.“ „Mein guter, lieber Freund“, rief Mr. Phippen, „sieh an, was für ein unglücklicher, kranker Mensch ich bin; spricht nicht in dieser entsetzlich gedankenlosen Weise davon, daß du deine liebe kleine Amely sich überessen lassen willst. Wenn der Magen schon in der Jugend überladen wird, was soll dann aus der Verdauung im Alter werden ? Das Ding, welches die gemeinen Leute das Inwendige nennen – Miß Sturch wird aus Interesse an ihrer liebenswürdigen Schülerin mich entschuldigen, wenn ich in physiologische Erörterungen eingehe – ist in der Tat eine Maschine. Vom Standpunkt der Verdauung aus betrachtet, Miß Sturch, ist selbst der schönste und jüngste von uns eine Maschine. Man öle unsere Räder, aber man hemme ihren Gang nicht durch unpassende Substanzen. Mehlhaltige Puddings und Hammelkoteletts – Hammelkoteletts und mehlhaltige Puddings – das müßte, wenn es mir nach ginge, die Parole der Älteren von einem Ende Englands bis zum andern sein. Schau her, liebes Kind, sieh mich an. Diese kleine Waage ist durchaus kein Spaß, sondern furchtbarer Ernst. Sieh, ich lege in die eine Schale derselben trockenes Brot – altbackenes, trockenes Brot, liebe Amely – und in die andere einige Unzen Gewichte. ‚Mr. Phippen, essen Sie nach dem Gewicht. Mr. Phippen, essen Sie Tag für Tag aufs Haar genau dieselbe Quantität. Mr. Phippen, überschreiten Sie dieselbe um keinen Preis, wenn es auch bloß altbackenes, trockenes Brot ist.’ Meine liebe Amely, das ist kein Scherz – das ist, was die Ärzte zu mir sagten – die Ärzte, liebes Kind, welche meine Maschine seit dreißig Jahren mit kleinen Pillen durch und durch sondiert, aber immer noch nicht gefunden haben, wo es mit meinen Rädern hapert. Merke dir das, liebe Amely – denke an Mr. Phippens mangelhafte Maschine – und sage das nächste Mal, wo man dir noch mehr zu essen anbietet: Nein, ich danke – Miß Sturch, ich bitte tausendmal um Verzeihung, daß ich mich in etwas mische, was Ihres Amtes ist, mein Interesse aber für dieses liebe Kind, meine eigene traurige Erfahrung in Bezug auf die hydraköpfigen Qualen – ach, Chennery, mein guter, lieber Freund, wovon sprachen wir denn eigentlich ? – Ja, jetzt fällt es mir wieder ein – wir sprachen von der Braut – der interessanten Braut. Also, sie ist eine der Trevertons von Cornwall ? Ich war vor Jahren mit Andrew ein wenig näher bekannt. Er war ein exzentrischer, menschenfeindlicher alter Junggesell, gerade wie ich selbst, Miß Sturch; er litt auch an der Verdauung gerade wie ich, liebe Amely. Er hatte, vermute ich, durchaus keine Ähnlichkeit mit seinem Bruder, dem Kapitän. Also, die ist nun vermählt ? Ein liebenswürdiges Mädchen – ich zweifle nicht daran – ein liebenswürdiges Mädchen.“ „In der ganzen Welt gibt es kein besseres, aufrichtigeres und hübscheres“, sagte der Vikar. „Dabei ist sie auch eine sehr lebhafte, energischer Person.“ „Wie werde ich sie vermissen“, sagte Miß Louise. „Niemand anders amüsierte mich so wie Rosamunde, als ich das letzte Mal an dem blöden Schnupfen litt und das Bett hüten mußte.“ „Und was gab sie uns immer für nette kleine Soupers !“ sagte Miß Amely. „Sie war das einzige Mädchen, welches ich je gekannt, das mit Knaben zu spielen verstand“, sagte Master Robert. „Sie konnte den Ball mit einer Hand fangen, Mr. Phippen, und auf dem Eise mit gleichen Füßen schuscheln.“ „Was du nicht sagst !“ rief Mr. Phippen. „Das ist ja eine ganz außerordentliche Frau für einen Blinden ! Nicht wahr, lieber Doktor, du sagtest, er sei blind ? Wie hieß er gleich ? Sie werden mein schlechtes Gedächtnis nicht allzuhart beurteilen, Miß Sturch. Wenn Verdauungsbeschwerden den Körper ruiniert haben, dann beginnen sie auch an dem Geiste zu nagen. Mr. Frank hieß er, nicht wahr ? Und ist er von seiner Geburt an blind gewesen ? Traurig ! Traurig !“ „Nein, nein – Frankland heißt er“, antwortete der Vikar, „Leonard Frankland. Auch ist er keineswegs von seiner Geburt an blind gewesen. Es ist nicht viel über ein Jahr her, als er noch so gut sehen konnte wie eins von uns.“ „Dann ist er wohl durch einen Unfall erblindet ?“ sagte Mr. Phippen. „Du erlaubst mir doch, daß ich mich in den Armstuhl setze ? Eine teilweise liegende Stellung ist mir nach der Mahlzeit allemal von wesentlichem Nutzen. Also, es ist mit seinen Augen ein Unfall vorgegangen ? Ja, in diesem Lehnstuhl sitzt es sich doch köstlich !“ „Einen Unfall kann man es eigentlich nicht nennen“, entgegnete Doktor Chennery, „Leonard Franklans Erziehung hatte viel Schwierigkeiten. Erstens war er von Haus aus sehr schwächlich. Mit der Zeit schien sich dies jedoch zu bessern und er wuchs zu einem ruhigen, gesetzten, manierlichen Knaben heran, der mit meinem Söhnchen dort durchaus keine Ähnlichkeit hatte. Er war sehr liebenswürdig und es ging sich, wie man zu sagen pflegt, sehr gut mit ihm um. Er hatte große Vorliebe für die Mechanik – ich erzähle dir alles dies, damit du die Sache richtig begreifst, wenn ich auf seine Blindheit zu sprechen komme – und nachdem er eine Beschäftigung dieser Art nach der andern vorgenommen, legte er sich endlich aufs Uhrmachen. Es war dies ein seltsamer Zeitvertreib für einen Knaben, aber alles, was zarte Behandlung und viel Geduld und Ausdauer erforderte, war gerade das, was Leonard liebte und gern trieb. Ich sagte immer zu seinen Eltern: „Zieht ihn von diesem Stuhle herunter, zerbrecht seine Vergrößerungsgläser, schickt ihn zu mir und ich will mit ihm Turnübungen durchmachen und ihn einen Ballschlägel handhaben lehren.“ Aber es half nichts. Seine Eltern wußten, glaube ich, am besten, was zu tun wäre und sagten, man müsse ihm den Willen tun. Na, die Sache ging eine Zeitlang ganz gut, bis er wieder in eine lange Krankheit verfiel – wie ich glaube, weil er sich nicht Bewegung genug gemacht hatte. Sobald als er wieder zu genesen begann, ging auch die alte Uhrmacherei wieder los. Das schlimme Ende aber sollte noch kommen. Ungefähr die letzte Arbeit, die er ausführte, der arme Teufel, war die Reparatur meiner Uhr – hier ist sie – sie geht so regelmäßig wie eine Dampfmaschine. Ich hatte sie noch nicht lange wieder in der Tasche, als ich hörte, daß er sich über heftige Schmerzen im Hinterkopfe beklage und daß er alleArten sich bewegende Punkte vor den Augen sähe. „Gebt ihm tüchtig Portwein zu trinken und laßt ihn täglich drei Stunden lang auf einem ruhigen Pferdchen spazierenreiten“ – dies war mein Rat. Anstatt aber denselben zu befolgen, ließen seine Eltern Ärzte von London holen, legten ihm spanische Fliegen hinter die Ohren und zwischen die Schultern, ließen ihn Quecksilber einnehmen und steckten ihn in ein finsteres Zimmer. Es half nichts. Die Augen wurden schlimmer und schlimmer, flackerten und flackerten und verlöschten endlich wie die Flamme eins Lichts. Seine Mutter starb – es war ein Glück für sie, die arme Seele – ehe dies geschah. Sein Vater war ganz außer sich und reiste mit ihm zu Augenärzten in London und zu Augenärzten in Paris. Sie taten aber weiter nichts, als daß sie die Blindheit bei einem langen lateinischen Namen nannten und sagten, es sei hoffnungslos und nutzlos, eine Operation zu versuchen. Einige von ihnen sagten, das Übel sei die Folge der langwierigen Schwäche, woran er zwei Mal nach seiner Krankheit gelitten. Andere wieder sagten, es sein eine apoplektische Ergießung im Gehirn. Alle aber schüttelten die Köpfe, als sie von der Uhrmacherei hörten. Und so brachte man ihn blind wieder nach Hause; blind ist er jetzt und blind wird er bleiben, der arme junge Mann, so lange er lebt.“
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