KAPITEL DREI
Gwendolyn stand in den Eingeweiden der Burg, ihr Bruder Godfrey neben ihr, und starrte Steffen an, der von einem Fuß auf den anderen trat und mit den Händen rang. Er war ein seltsamer Vogel—nicht nur wegen seines verkrümmten, buckeligen Rückens, sondern auch, weil er von Nervosität erfüllt schien. Seine Augen zuckten immerzu hin und her, und seine Hände packten einander, als wäre er vor Schuld geplagt. Er schaukelte im Stehen, trat von einem Fuß auf den anderen und summte mit tiefer Stimme vor sich hin. All die Jahre hier unten, dachte Gwen bei sich, all die Jahre der Isolation, hatten ihn offenbar zu einem Sonderling geformt.
Gwen wartete gespannt darauf, dass er sich endlich öffnete und enthüllte, was ihrem Vater zugestoßen war. Doch Sekunden wurden zu Minuten, Schweiß sammelte sich auf Steffens Brauen, er schaukelte sich immer dramatischer hin und her, und nichts kam hervor. Das dichte, schwere Schweigen zog sich weiter in die Länge, lediglich von seinen Summgeräuschen durchbrochen.
Gwen fing schon selbst an, hier unten zu schwitzen—die schwelenden Flammen von den Feuerstellen standen an diesem Sommertag zu nahe. Sie wollte, dass das hier ein Ende hatte, wollte diesen Ort verlassen und nie wieder zurückkehren. Sie betrachtete Steffen eingehend und versuchte, seinen Ausdruck zu entziffern; zu entschlüsseln, was ihm durch den Kopf ging. Er hatte versprochen, ihnen etwas zu erzählen, doch nun war er verstummt. Während sie ihn betrachtete, schien es, als würde er es sich anders überlegen. Er hatte sichtlich Angst; er hatte etwas zu verbergen.
Endlich räusperte sich Steffen.
„Etwas fiel in jener Nacht den Abfluss herunter, ich gebe es zu“, begann er, den Augenkontakt vermeidend und zu Boden blickend, „aber ich bin nicht sicher, was es war. Es war aus Metall. Wir trugen in jener Nacht den Nachttopf hinaus und ich hörte, wie etwas im Fluss landete. Etwas, das anders war. Also“, sagte er, räusperte sich mehrmals und rang weiter seine Hände, „Ihr seht, was immer es war, es wurde von den Fluten davongespült.“
„Bist du sicher?“, forderte Godfrey.
Steffen nickte energisch.
Gwen und Godfrey tauschten einen Blick aus.
„Konntest du zumindest einen Blick darauf werfen?“, drängte Godfrey.
Steffen schüttelte den Kopf.
„Aber du erwähntest einen Dolch. Wie konntest du wissen, dass es ein Dolch war, wenn du es nicht sehen konntest?“, fragte Gwen. Sie war sicher, dass er log; sie wusste bloß nicht, warum.
Steffen räusperte sich.
„Das sagte ich, weil ich einfach annahm, dass es ein Dolch war“, antwortete er. „Es war klein und aus Metall. Was sollte es sonst gewesen sein?“
„Aber hast du am Boden des Topfes nachgesehen?“ fragte Godfrey. „Nachdem du ihn entleert hast? Vielleicht ist es immer noch am Boden des Topfes.“
Steffen schüttelte den Kopf.
„Ich habe den Boden überprüft“, sagte er. „Das tue ich immer. Da war nichts. Leer. Was immer es war, es wurde davongespült. Ich sah, wie es davonschwamm.“
„Wenn es aus Metall war, wie konnte es dann schwimmen?“, fragte Gwen.
Steffen räusperte sich, dann zuckte er die Schultern.
„Der Fluss ist geheimnisvoll“, antwortete er. „Die Fluten sind stark.“
Gwen warf Godfrey einen skeptischen Blick zu und konnte an seinem Ausdruck erkennen, dass er Steffen genauso wenig glaubte.
Gwen wurde langsam ungeduldig. Und jetzt war sie auch ratlos. Noch vor wenigen Augenblicken wollte Steffen ihnen alles erzählen, wie er es versprochen hatte. Doch anscheinend hatte er es sich plötzlich anders überlegt.
Gwen machte einen Schritt auf ihn zu und starrte ihn grimmig an; sie spürte, dass dieser Mann etwas zu verbergen hatte. Sie setzte ihre härteste Miene auf und fühlte dabei die Stärke ihres Vaters durch sich fließen. Sie war entschlossen, herauszubekommen, was er wusste—besonders, wenn es ihr helfen würde, den Mörder ihres Vaters zu finden.
„Du lügst“, sagte sie mit kalter, stählerner Stimme, und die Kraft, die darin lag, überraschte sie selbst. „Weißt du, welche Strafe darauf steht, ein Mitglied der königlichen Familie anzulügen?“
Steffen rang seine Hände und hüpfte geradezu auf der Stelle auf und ab, blickte einen Moment zu ihr hoch und wandte rasch den Blick wieder ab.
„Es tut mir leid“, sagte er. „Es tut mir leid. Bitte, ich habe nichts mehr zu sagen.“
„Du hast uns vorhin gefragt, ob du dem Gefängnis entgehen könntest, wenn du uns sagst, was du weißt“, sagte sie. „Doch du hast uns gar nichts gesagt. Warum würdest du uns diese Frage stellen, wenn du uns nichts zu sagen hast?“
Steffen leckte sich über die Lippen und blickte zu Boden.
„Ich... ich... ähm“, setzte er an, und stockte. Er räusperte sich. „Ich war besorgt...dass ich in Schwierigkeiten geraten würde, dass ich nicht gemeldet habe, dass ein Gegenstand den Abfluss herunterkam. Das ist alles. Es tut mir leid. Ich weiß nicht, was es war. Es ist weg.“
Gwen kniff die Augen zusammen, starrte ihn an und versuchte, diesem seltsamen Geschöpf auf den Grund zu gehen.
„Was genau ist deinem Meister passiert?“, frage sie, nicht locker lassend. „Uns wurde gesagt, dass er vermisst wird. Und dass du etwas damit zu tun haben sollst.“
Steffen schüttelte wieder und wieder den Kopf.
„Er ist fortgegangen“, antwortete Steffen. „Mehr weiß ich nicht. Es tut mir leid. Ich weiß nichts, dass Euch weiterhelfen könnte.“
Plötzlich ertönte ein lautes, zischendes Geräusch am anderen Ende des Raumes, und sie blickten sich um und sahen, wie Mist den Abfluss herunterkam und in den riesigen Nachttopf platschte. Steffen lief durch den Raum zum Topf hinüber. Er stand daneben und sah zu, wie er sich mit Mist aus den oberen Gemächern füllte.
Gwen blickte zu Godfrey, der ihren Blick erwiderte. Auch sein Gesichtsausdruck war ratlos.
„Was er auch immer verbirgt“, sagte sie, „er wird es nicht preisgeben.“
„Wir könnten ihn einsperren lassen“, sagte Godfrey. „Das bringt ihn vielleicht zum Reden.“
Gwen schüttelte den Kopf.
„Das glaube ich nicht. Nicht bei dem da. Er hat offensichtlich enorme Angst. Ich denke, es hat etwas mit seinem Meister zu tun. Er ist eindeutig zwiegespalten von irgendetwas, und ich glaube nicht, dass es mit Vaters Tod zu tun hat. Ich denke, er weiß etwas, das uns weiterhelfen könnte—aber ich spüre, dass er nur ganz zumachen wird, wenn wir ihn in die Ecke drängen.“
„Also was sollen wir tun?“, fragte Godfrey.
Gwen stand da und grübelte. Sie erinnerte sich an eine Freundin aus ihrer Kindheit, die einmal beim Lügen erwischt wurde. Sie erinnerte sich, dass ihre Eltern sie von allen Seiten unter Druck setzten, die Wahrheit zu sagen, doch sie tat es nicht. Erst Wochen später, als alle sie endlich in Ruhe ließen, trat sie freiwillig hervor und verriet alles. Gwen spürte die gleiche Stimmung von Steffen ausgehen; dass er nur noch verschlossener werden würde, wenn er in die Ecke gedrängt würde; dass er den Freiraum brauchte, aus eigenen Stücken mit der Wahrheit hervorzurücken.
„Geben wir ihm Zeit“, sagte sie. „Suchen wir woanders weiter. Sehen wir, was wir herausfinden können, und kommen wir auf ihn zurück, wenn wir mehr in der Hand haben. Ich denke, er wird sich öffnen. Er ist nur noch nicht so weit.“
Gwen beobachtete ihn am anderen Ende des Raumes, wie er den Mist begutachtete, der den Kessel füllte. Sie fühlte sich sicher, dass er sie zum Mörder ihres Vaters führen würde. Sie wusste nur nicht, wie. Sie fragte sich, welche Geheimnisse sich in den Tiefen seines Verstandes verbargen.
Er war ein sehr eigenartiger Geselle, dachte Gwen. Wahrlich sehr eigenartig.