KAPITEL FÜNF

1967 Words
KAPITEL FÜNF Caitlin und Caleb, gefolgt von Scarlet und Ruth, wanderten schnellen Schrittes über die Insel Skye, flankiert von Taylor, Tyler und einigen anderen aus Aidens Clan. Caitlin war überglücklich, sie zu sehen. Nach dem anfänglichen Mühsal, in dieser Zeit zu landen, verspürte sie endlich ein Gefühl von Frieden und Leichtigkeit, und sie wusste, sie waren genau da, wo sie sein sollten. Taylor und Tyler, und alle von Aidens Leuten, waren ebenso erfreut gewesen, sie zu sehen. Es war so seltsam, sie hier an diesem anderen Ort zu sehen, in diesem kalten Klima, auf dieser kargen und schroffen Insel mitten im Nirgendwo. Caitlin begann, zu verstehen, dass die Zeiten und Orte sich änderten, doch die Leute waren zeitlos. Taylor und Tyler hatten ihnen eine rasche Führung um die Insel angeboten, und sie spazierten schon seit Stunden. Caitlin hatte sofort gefragt, ob sie etwas von Sam oder Polly gehört hatten; als sie verneint hatten, war sie geknickt gewesen. Sie hoffte verzweifelt, dass auch sie es in die Vergangenheit geschafft hatten. Unterwegs erklärte ihnen Taylor die Rituale, Bräuche, neuen Trainingsmethoden und alles andere, was Caitlin nur wissen wollte. Caitlin stellte fest, dass Skye umwerfend war, einer der schönsten Orte, an dem sie je gewesen war. Es fühlte sich steinalt an, ursprünglich, mit Felsen, die aus der Landschaft hochragten, von Moos überwachsenen Hügeln, Bergseen, die die Morgensonne widerspiegelten, und einem wunderschönen Nebel, der über allem zu hängen schien. „Der Nebel verlässt uns nie“, sagte Tyler lächelnd, Caitlins Gedanken lesend. Caitlin wurde rot, wie immer verlegen, wie einfach andere ihre Gedanken lesen konnte. „Genau daher kommt auch eigentlich ihr Name: Skye heißt „die neblige Insel““, sagte Taylor. „Er verleiht allem hier eine ziemlich dramatische Kulisse, findest du nicht?“ Caitlin nickte und betrachtete die Landschaft. „Und er kommt uns gelegen im Kampf gegen unsere Feinde“, stimmte Tyler mit ein. „Und doch wagt es niemand, sich unseren Küsten auch nur zu nähern.“ „Das kann ich ihnen nicht verübeln“, sagte Caleb. „Das war wohl kaum ein einladender Zugang.“ Taylor und Tyler grinsten. „Nur die Würdigen können sich nähern. Das ist unsere Prüfung. Es ist Jahre her, dass jemand versucht hat, herüberzukommen – und noch mehr Jahre, seit jemand die Prüfung bestanden und es lebend an unsere Ufer geschafft hat.“ „Nur die Würdigen können hier überleben und trainieren“, sagte Taylor. „Aber das Training ist das Beste der Welt.“ „Skye ist ein erbarmungsloser Ort“, fügte Taylor hinzu, „ein Ort der Extreme. Aidens Clan steht sich hier so nahe wie nie zuvor. Wir verlassen die Insel kaum. Wir trainieren fast den ganzen Tag lang zusammen, und in den extremsten Umständen – Kälte, Nebel, Regen, Klippen, in den Bergen, auf zugefrorenen Seen, auf felsigen Ufern – manchmal sogar im Meer. Es gibt nur sehr wenige Trainingsmethoden, die er uns nicht hat durchmachen lassen. Und wir sind kampfgestärkter als wir es je waren.“ „Und wir trainieren nicht alleine“, fügte Tyler hinzu. „Hier leben auch menschliche Krieger, angeführt von ihrem König McCleod. Sie haben eine Burg und ihre eigene Krieger-Legion, und wir alle leben und trainieren gemeinsam. Es ist äußerst ungewöhnlich, dass Vampire und Menschen gemeinsam trainieren. Doch wir stehen uns nahe hier. Wir sind alle Krieger, und wir alle respektieren den Kodex der Krieger.“ „Obwohl, natürlich“, sagte Tyler, „wir die Seiten streng getrennt halten. Viele von ihnen hätten gerne unsere Vampirfertigkeiten, doch Aiden hat strenge Regeln darüber aufgestellt, Menschen zu wandeln. Also haben sie sich alle damit abgefunden, dass sie nie einer von uns sein werden. Wir leben und trainieren in Harmonie miteinander. Wir schärfen ihre Künste über alles hinaus, was ein Mensch sich erträumen könnte. Und sie gewähren uns Unterschlupf und Schutz. Sie haben ein Arsenal von silberbewehrten Waffen, und falls ein feindlicher Clan je angreifen sollte, stehen sie bereit, uns zu verteidigen.“ „Eine Burg?“, fragte Scarlet plötzlich. „Eine echte Burg?“ Taylor blickte hinunter und fing breit zu grinsen an. Sie nahm Scarlets freie Hand in ihre, und sie spazierten weiter. „Ja, meine Liebe. Wir bringen dich gerade dorthin. Tatsächlich“, sagte sie, als sie um einen Hügel bogen, und deutete, „ist es gleich dort drüben.“ Sie alle blieben stehen und starrten, und Caitlin bestaunte den Anblick. Vor ihnen bot sich ein weiter Blick auf sanfte Hügel, Berge, Seen, und in der Ferne, auf ihrer eigenen kleinen Klippe sitzend, lag eine uralte Burg, eingebettet an den Rand eines riesigen Sees. „Dunvegan Castle“, verkündete Taylor. „Seit Jahrhunderten schon Heimat schottischer Könige.“ „OOH!“, schrie Scarlet. „Mami, wir wohnen in einer Burg!“ Caitlin musste lächeln, so wie die anderen, so ansteckend war Scarlets Enthusiasmus. „Kann Ruth mitkommen!?“, fragte Scarlet. Caitlin blickte zu Taylor, die zurücknickte. „Natürlich kann sie das, meine Liebe.“ Scarlet quietschte vor Vergnügen, knuddelte Ruth, und die Gruppe eilte den Hang hinab auf die ferne Burg zu. Als Caitlin die Burg betrachtete, spürte sie, dass in ihren Mauern tiefe Geheimnisse verborgen lagen, Geheimnisse, die ihr auf der Suche nach ihrem Vater weiterhelfen konnten. Einmal mehr spürte sie, dass sie genau am richtigen Ort war. „Ist Aiden hier?“, fragte Caitlin Tyler. „Das fragen wir uns nun schon seit einer Weile“, antwortete Tyler. „Ich habe ihn schon seit Wochen nicht mehr gesehen. Manchmal verschwindet er für eine Weile. Du weißt ja, wie er ist.“ Das wusste Caitlin nur zu gut. Sie erinnerte sich an all die Zeiten zurück, all die Orte, an denen sie bei ihnen gewesen war. Sie wollte nun unbedingt mit ihm reden, mehr darüber erfahren, warum sie an diesem Ort und in dieser Zeit gelandet waren, herausfinden, ob es Sam und Polly gut ging, mehr über den letzten Schlüssel erfahren – und vor allem anderen, ob ihr Vater jetzt hier war. Sie hatte so viele brennende Fragen, die sie ihm unbedingt stellen wollte. Zum Beispiel, was in London passiert war, bevor sie alle zurückgeschickt worden waren? Hatte Kyle überlebt? Während sie sich der Burg näherte, blickte Caitlin hoch und bewunderte die Architektur – sie erhob sich fünfzehn Meter hoch über viele Stockwerke, in rechteckiger Form, mit mehreren quadratischen Türmen und Zinnen. Sie saß stolz und kühn auf den Klippen, überblickte den ausgedehnten See und weiten Himmel, und anders als andere Burgen war diese hell und luftig, mit dutzenden Fenstern. Der Zugang zu ihr war eindrucksvoll gestaltet, mit einer breiten Steinstraße, die zu einem Eingangstor und einem imposanten gewölbten Torbogen führte. Dies war eindeutig kein Ort, an den man sich leicht annähern konnte, und als Caitlin hochblickte, sah sie menschliche Wachen auf allen Türmen, die sie wie Habichte beobachteten. Als sie sich dem Eingang näherten, ertönten plötzlich Trompeten, gefolgt vom Donnern von Pferdehufen. Caitlin drehte sich herum. Über den Horizont galoppierten, direkt auf sie zustürmend, dutzende menschliche Krieger in Rüstung. Sie wurden angeführt von einem imposanten Mann, der in Felle gekleidet war, mit einem großen orangeroten Bart, flankiert von Dienern, und mit der Haltung eines Königs. Er hatte weiche Gesichtszüge und schien der Typ zu sein, der leicht lächelte. Er hatte ein großes Gefolge von Kriegern, und Caitlin hätte sich angespannt, wenn Taylor und Tyler nicht so entspannt gewesen wären. Sichtlich waren dies Freunde. Als die Soldaten vor ihnen hielten und eine Gasse bildeten, blieb Caitlin wie angewurzelt stehen. Da in der Mitte der Truppe, vom Pferd steigend, waren zwei der Menschen, die sie auf der Welt am meisten liebte. Sie konnte es nicht glauben. Sie blinzelte mehrmals. Sie waren es wirklich. Vor ihr stehend und sie angrinsend waren Sam und Polly. * Caitlin und Sam traten beide vor die beiden großen Kriegertrupps und nahmen einander fest in die Arme. Caitlin fühlte sich so erleichtert, ihren Bruder im Arm zu halten, ihn zu drücken, zu sehen und spüren, dass er am Leben war, und wirklich hier. Dann ging sie zu Polly und umarmte sie, während Caleb selbst vortrat und sowohl Sam als auch Polly umarmte. „Polly!“, schrie Scarlet auf und lief herüber, mit Ruth, die an ihrer Seite bellte. Polly kniete nieder und nahm sie fest in den Arm, und hob sie hoch. „Ich habe schon geglaubt, ich sehe dich nie wieder!“, sagte Scarlet. Polly strahlte. „So schnell wirst du mich nicht los!“ Ruth bellte, und Polly kniete nieder und drückte sie, während Sam Scarlet umarmte. Caitlin badete in dem warmen Gefühl, ihre Familie und ihre Liebsten wiedervereint zu sehen. Sie dachte an London zurück, als alle krank und am Sterben waren, an die Zeit, in der sie sich nicht mehr vorstellen konnte, dass eine glückliche Szene wie diese je wieder möglich sein würde. Sie fühlte sich so dankbar, dass alles wiederhergestellt zu sein schien, und staunte darüber, wie viele Lebzeiten sie schon durchlebt hatte. Es machte sie so dankbar für ihre Unsterblichkeit. Sie konnte sich nicht vorstellen, was sie mit nur einem Leben machen würde. „Was ist mit euch passiert?“, fragte Caitlin Sam. „Als ich euch zuletzt gesehen habe, habt ihr mir versprochen, Caleb und Scarlet nicht von der Seite zu weichen. Und als ich zurückkam, wart ihr weg.“ Caitlin war immer noch verärgert über ihren Verrat. Sam und Polly blickten beschämt zu Boden. „Es tut mir so leid“, sagte Sam. „Es war meine Schuld. Polly war entführt worden, und ich bin weg, um sie zu retten.“ „Nein, es ist meine Schuld“, sagte Polly. „Sergei hatte behauptet, dass es ein Heilmittel gab, und dass ich mit ihm gehen musste, um es zu bekommen. Ich war so dämlich – ich habe ihm geglaubt. Ich dachte, ich würde sie retten. Aber ich habe mein Versprechen an dich gebrochen. Kannst du mir je vergeben?“ „Und mir?“, fragte Sam. Caitlin blickte ihnen beiden ins Gesicht und konnte ihre absolute Ernsthaftigkeit sehen. Ein Teil von ihnen war immer noch gekränkt, dass sie ihr Wort gebrochen hatten und Scarlet und Caleb einem Angriff so ausgeliefert zurückgelassen hatten. Doch ein anderer Teil von ihr, der Teil, der sich entwickelte, sagte ihr, sie solle ihnen vollständig vergeben und es gut sein lassen. Sie holte tief Luft und konzentrierte sich darauf, es gut sein zu lassen. Sie atmete aus und nickte. „Ja, ich vergebe euch beiden“, sagte sie. Sie beide lächelten zurück. „Du magst ihnen vielleicht vergeben“, sagte König McCleod plötzlich, während er vom Pferd stieg und vor sie schritt, „aber ich vergebe ihnen nicht dafür, dass sie meine Männer so bloßgestellt haben!“, sagte er und stieß ein herzhaftes Lachen aus. „Besonders Polly. Ihr beiden bringt Schande über meine feinsten Krieger. Wir haben sichtlich viel von euch zu lernen, so wie wir von den anderen gelernt haben. Vampire gegen Menschen. Ist nie fair“, sagte er, und schüttelte den Kopf mit einem weiteren herzhaften Lachen. McCleod trat auf Caitlin und Caleb zu. Caitlin mochte ihn sofort. Er lächelte so bereitwillig, hatte ein tiefes, tröstliches Lachen, und schien jeden um sich dazu zu bringen, sich wohl zu fühlen. „Willkommen auf unserer Insel“, sagte er, nahm Caitlins Hand und küsste sie mit einer Verbeugung. Dann schüttelte er herzhaft Calebs Hand. „Die Insel Skye. Es gibt auf Erden keinen anderen Ort wie diesen. Verzweifelte Heimat der größten Krieger. Diese Burg ist schon seit hunderten Jahren im Besitz meiner Familie. Ihr könnt hier wohnen. Aiden wird begeistert sein. So wie meine Männer. Ich heiße euch offiziell willkommen!“, rief er aus, und seine Männer jubelten. Caitlin fühlte sich von seiner Gastfreundschaft überwältigt. Sie wusste kaum, wie sie reagieren sollte. „Es ist uns eine große Freude“, sagte sie. „Und wir danken Euch für Eure Großmütigkeit“, sagte Caleb. „Bist du ein König?“, fragte Scarlet und trat vor. „Gibt es hier eine echte Prinzessin?“ Der König blickte hinunter und brach in schallendes Gelächter aus, lauter und tiefer als zuvor. „Also, ich bin in der Tat ein König – aber hier gibt es fürchte ich keine Prinzessin. Nur uns Männer. Aber vielleicht kannst du dem abhelfen, meine Schöne!“, sagte er mit einem Lachen, hob Scarlet hoch und wirbelte sie herum. „Und wie ist wohl dein Name?“ Scarlet wurde rot, plötzlich schüchtern. „Scarlet“, sagte sie und blickte zu Boden. „Und das ist Ruth“, sagte sie und deutete hinunter. Ruth bellte wie zur Antwort, und McCleod setzte sie lachend ab und streichelte Ruth übers Fell. „Ich bin sicher, ihr seid alle am Verhungern“, sagte er. „Auf zum Schloss!“, rief er. „Es ist Zeit zu feiern!“ Alle seine Männer jubelten auf, drehten sich im Einklang herum und brachen zum Eingang zur Burg auf. Dabei standen reihenweise die Wachen stramm. Sam legte einen Arm um Caitlins Schulter, und Caleb um Pollys, und gemeinsam gingen sie auf den Burgeingang zu. Caitlin wusste, dass sie das nicht tun sollte, doch trotz allem ließ sie die Hoffnung zu, dass, wieder einmal, sie diesmal ein dauerhaftes Zuhause gefunden hatten, einen Ort auf der Welt, an dem sie alle endlich für immer in Frieden leben konnten.
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