KAPITEL ZWEI
Sam schreckte aus dem Schlaf hoch. Seine Welt drehte sich, dann schaukelte sie heftig, und er konnte nicht verstehen, wo er war oder was passierte. Er lag am Rücken, so viel wusste er, auf etwas, das sich wie Holz anfühlte, unbequem kauernd. Er blickte gerade zum Himmel hoch, und er sah, wie die Wolken sich unregelmäßig bewegten.
Sam griff nach einem Stück Holz und zog sich daran hoch. Er saß blinzelnd da, seine Welt drehte sich weiter und er verschaffte sich einen Überblick über seine Umgebung. Er konnte es nicht glauben. Er war auf einem Boot, einem kleinen Ruderboot aus Holz, lag auf seinem Boden, mitten im Meer.
Es schaukelte heftig in der rauen See, im Auf und Ab der Wellen. Es ächzte und krachte, bewegte sich hoch und nieder, schaukelte von Seite zu Seite. Sam sah die Gischt auf den Wellen, die um ihn herum rauschten, spürte den kalten, salzigen Wind, der ihm sein Haar und sein Gesicht besprühte. Es war früh am Morgen, genauer gesagt ein wunderschöner Sonnenaufgang, und der Himmel brach sich in einer Überzahl von Farben. Er fragte sich, wie um alles in der Welt er hier gelandet war.
Sam wirbelte herum und sah sich im Boot um, und dabei entdeckte er eine weitere Gestalt im düsteren Morgenlicht am anderen Ende liegen, am Boden eingerollt und mit einem Schultertuch bedeckt. Er fragte sich, wer es sein konnte, der mit ihm auf diesem kleinen Boot mitten im Nirgendwo feststeckte. Und dann spürte er es. Es durchfuhr ihn wie ein elektrischer Schock. Er musste ihr Gesicht gar nicht erst sehen.
Polly.
Jeder Knochen in Sams Körper verriet ihm das. Es überraschte ihn, mit welcher Bestimmtheit er es wusste, wie verbunden er mit ihr war, wie tief seine Gefühle für sie waren – fast so, als wären sie eins. Er verstand nicht, wie das so schnell passiert war.
Während er dasaß und sie reglos anblickte, bekam er plötzlich ein besorgtes Gefühl. Er konnte nicht sagen, ob sie am Leben war oder nicht, und in dem Moment wurde ihm klar, dass er am Boden zerstört sein würde, wenn sie es nicht war. Und da erkannte er endlich, unmissverständlich, dass er sie liebte.
Sam richtete sich auf und stolperte über das kleine Boot, während eine Welle kam und es hochhob, und er schaffte die paar Schritte zu ihr hinüber und kniete neben ihr. Er streckte die Hand vor und zog sanft das Schultertuch zurück, und rüttelte ihre Schultern. Sie reagierte nicht, und er wartete mit klopfendem Herzen.
„Polly?“, fragte er.
Keine Antwort.
„Polly“, sagte er bestimmter. „Wach auf. Ich bin es, Sam.“
Doch sie rührte sich nicht, und als Sam die bloße Haut auf ihrer Schulter streifte, fühlte sie sich zu kalt an. Sein Herz blieb stehen. Konnte es sein?
Sam beugte sich vor und nahm ihr Gesicht in seine Hände. Sie war so schön, wie er es in Erinnerung hatte, ihre Haut ein sehr blasses, durchscheinendes Weiß, ihr Haar ein helles Braun, ihre perfekt geschnittenen Gesichtszüge exquisit im Glanz des frühen Morgenlichts. Er sah ihre perfekten, vollen Lippen, ihre kleine Nase, ihre großen Augen, ihr langes, braunes Haar. Er erinnerte sich an diese Augen, wenn sie geöffnet waren, ein unglaubliches Kristallblau, wie der Ozean. Er sehnte sich danach, sie auch nun wieder geöffnet zu sehen; er würde alles dafür tun. Er sehnte sich danach, sie lächeln zu sehen, ihre Stimme zu hören, ihr Lachen. In der Vergangenheit hatte es ihn manchmal gestört, dass sie zu viel redete. Doch nun würde er alles dafür geben, sie ewig reden zu hören.
Doch ihre Haut war zu kalt in seinen Händen. Eiskalt. Und er fürchtete langsam, verzweifelt, dass ihre Augen sich nie wieder öffnen würden.
„Polly!“, schrie er und konnte dabei seine eigene Verzweiflung in seiner Stimme hören, als sich diese zum Himmel erhob und sich mit dem Kreischen eines Vogels über ihm vermengte.
Sam war ratlos. Er hatte keine Ahnung, was er tun sollte. Er schüttelte sie stärker und stärker, doch sie reagierte einfach nicht. Er erinnerte sich an den letzten Ort und die letzte Zeit, wo er sie gesehen hatte. Sergeis Palast. Er erinnerte sich daran, wie er sie befreit hatte. Sie waren zu Aidens Burg zurückgekehrt und hatten Caitlin und Caleb und Scarlet alle leblos auf ihrem Bett liegen gesehen. Aiden hatte ihnen gesagt, dass sie ohne sie in die Vergangenheit gereist waren. Er hatte Aiden beschworen, sie ebenfalls zurückzuschicken. Aiden hatte den Kopf geschüttelt und gesagt, dass es nicht sein soll, dass es bedeuten würde, das Schicksal zu beeinflussen. Doch Sam hatte darauf bestanden.
Schließlich und endlich hatte Aiden das Ritual durchgeführt.
War sie auf der Reise zurück umgekommen?
Sam blickte hinunter und schüttelte Polly noch einmal. Immer noch nichts.
Schließlich zog Sam Polly eng an sich. Er wischte ihr das lange, schöne Haar aus dem Gesicht, legte ihr eine Hand in den Nacken und zog ihr Gesicht an seines heran. Er beugte sich hinunter und küsste sie.
Es war ein langer, voller Kuss, direkt auf ihre Lippen gedrückt, und Sam erkannte, dass dies erst das zweite Mal war, dass sie einander je wirklich geküsst hatten. Ihre Lippen fühlten sich auf seinen so sanft, so perfekt an. Doch ebenso zu kalt, zu leblos. Während er sie küsste, versuchte er, sich darauf zu konzentrieren, seine Liebe durch sie zu senden, sie dazu zu bewegen, wieder zum Leben zu erwachen. Er versuchte, ihr eine klare geistige Botschaft zu senden. Ich würde alles tun. Ich würde jeden Preis bezahlen. Ich würde alles tun, um dich zurückzubekommen. Komm nur zu mir zurück.
„ICH BEZAHLE JEDEN PREIS!“, schrie Sam in die Wellen hinaus.
Der Schrei schien sich in die Lüfte zu erheben und wurde dabei von einer Schar Vögel zurückgeworfen, die über ihm flogen. Sam spürte, wie ein kalter Schauer durch seinen Körper fuhr, als er spürte, in dem Augenblick, dass das Universum ihn gehört hatte und ihm eine Antwort gab. Er wusste in dem Moment mit jeder Faser seines Körpers, dass Polly tatsächlich wieder zum Leben erwachen würde. Selbst wenn es ihr nicht bestimmt war. Dass sein Wille dies bewirkt hatte, einen größeren Plan des Universums umgeworfen hatte. Und dass er in der Tat den Preis dafür bezahlen würde.
Plötzlich blickte Sam hinunter und sah zu, wie Pollys Augen sich langsam öffneten. Sie waren so blau und so schön, wie er sie in Erinnerung hatte, und sie starrten ihn direkt an. Einen Augenblick lang waren sie leer, doch dann füllten sie sich mit Erkenntnis. Und dann, der größte Zauber, den er je gesehen hatte, formte sich ein kleines Lächeln in ihren Mundwinkeln.
„Versuchst du etwa, es auszunutzen, dass ein Mädchen schläft?“, fragte Polly in ihrer typischen heiteren Stimme.
Sam konnte nicht anders, als breit zu grinsen. Polly war wieder da. Alles andere war egal. Er versuchte, das ominöse Gefühl aus seinen Gedanken zu verdrängen, dass er sich gegen das Schicksal aufgelehnt hatte; dass er den Preis bezahlen würde.
Polly setzte sich auf, wieder ganz ihr flinkes, fröhliches Selbst, sah peinlich berührt aus, dass sie so verletzlich in seinen Armen gelegen war, und bemühte sich, stark und unabhängig zu wirken. Sie sah sich ihre Umgebung an und hielt sich an der Kante des Bootes fest, als eine Welle sie hochhob und dann hinunterfallen ließ.
„Das nenne ich nicht gerade einen romantischen Bootsausflug“, sagte sie und blickte etwas blass drein, während sie versuchte, im schaukelnden Boot Halt zu finden. „Wo genau sind wir? Und was ist das am Horizont?“
Sam drehte sich herum und sah sich an, worauf sie zeigte. Er hatte es vorher noch nicht gesehen. Ein paar hundert Meter vor ihnen lag eine felsige Insel, die direkt aus dem Meer ragte, mit hohen, erbarmungslosen Klippen. Sie wirkte uralt, unbewohnt, mit felsigem und kargem Terrain.
Er blickte sich um und betrachtete den Horizont in alle Richtungen. Es sah aus, als wäre dies die einzige Insel im Umkreis von tausenden Meilen.
„Sieht aus, als steuerten wir direkt auf sie zu“, sagte er.
„Das will ich wohl hoffen“, sagte Polly. „Auf diesem Boot ist mir eindeutig übel.“
Plötzlich beugte Polly sich über die Kante und übergab sich mehrmals.
Sam legte ihr beruhigend eine Hand auf den Rücken. Schließlich stand Polly auf, wischte sich mit dem Ärmel den Mund ab und wandte sich beschämt ab.
„Tut mir leid“, sagte sie. „Diese Wellen sind erbarmungslos.“ Sie blickte schuldbewusst zu ihm hoch. „Das muss sehr unattraktiv sein.“
Doch Sam dachte das überhaupt nicht. Im Gegenteil, es machte ihm klar, dass er noch stärkere Gefühle für Polly hatte, als ihm je bewusst war.
„Warum schaust du mich so an?“, fragte Polly. „War es so furchtbar?“
Rasch blickte Sam weg, als ihm klar wurde, dass er starrte.
„Das habe ich überhaupt nicht gedacht“, sagte er und wurde rot.
Doch die beiden wurden unterbrochen. Auf der Insel erschienen plötzlich mehrere Krieger, die hoch auf einer Klippe standen. Einer nach dem anderen tauchte auf, und schon bald war der Horizont von ihnen erfüllt.
Sam prüfte nach, welche Waffen er mit sich gebracht hatte. Doch er stellte enttäuscht fest, dass er gar keine an sich hatte.
Der Horizont verdunkelte sich mit mehr und mehr Vampir-Kriegern, und Sam konnte sehen, dass die Strömung sie direkt auf sie zu trieb. Sie trieben direkt in eine Falle und es gab nichts, was sie dagegen tun konnten.
„Schau nur“, sagte Polly. „Sie kommen, um uns zu begrüßen.“
Sam betrachtete sie aufmerksam und kam zu einem gänzlich anderen Schluss.
„Nein, tun sie nicht“, sagte er. „Sie kommen, um uns zu prüfen.“