2. Kapitel

1367 Words
2. Kapitel Rom, 1790 Kyle stand in der Dunkelheit und atmete heftig. Es gab nur wenige Dinge, die er mehr hasste als enge Räume. Als er die Hand ausstreckte und die Steinwände fühlte, die ihn umgaben, brach ihm der kalte Schweiß aus. Er war gefangen, es gab fast nichts Schlimmeres für ihn. Er holte aus und schlug mit der Faust ein Loch in die Steinwand. Als sie in Stücke zersprang, musste er seine Augen vor dem Tageslicht schützen. Wenn Kyle etwas noch mehr hasste, als gefangen zu sein, dann war es helles Tageslicht, das ihn direkt traf, ohne dass er seine Hautfolie angelegt hatte. Schnell sprang er über den Steinschutt und suchte Schutz hinter einer Mauer. Jetzt atmete er erst einmal tief durch, wischte sich den Staub aus den Augen und musterte orientierungslos seine Umgebung. Das Unangenehme an Zeitreisen war, dass man nie genau wusste, wo man landen würde. Er hatte es seit Jahrhunderten nicht mehr ausprobiert, und er hätte es auch jetzt nicht getan, gäbe es da nicht diesen quälenden Stachel in seinem Fleisch, diese Caitlin. Nachdem sie New York verlassen hatte, war es Kyle ziemlich bald klar geworden, dass er seinen Krieg nur zum Teil gewonnen hatte. Solange sie immer noch frei herumlief und nach dem Schutzschild suchte, konnte er nie wirklich zur Ruhe kommen. Er war so kurz davor gewesen, den Krieg zu gewinnen, die gesamte Menschheit zu versklaven und der Herrscher aller Vampire zu werden. Doch sie, dieses jämmerliche, kleine Mädchen, stand ihm im Weg. Solange es diesen Schutzschild gab, war seine Macht nicht vollkommen. Also hatte er keine andere Wahl, als Caitlin aufzuspüren und zu töten. Und wenn das bedeutete, dass er eine Zeitreise unternehmen musste, dann würde er auch das tun. Schnell zog Kyle eine Hautfolie aus der Tasche und wickelte seine Arme, den Hals und den Rumpf ein. Dann sah er sich um und stellte fest, dass er sich in einem Mausoleum befand – es wirkte irgendwie römisch. Rom. Seit einer Ewigkeit war er nicht mehr in Rom gewesen. Doch er war nicht ganz sicher, ob es wirklich in Rom war - durch das Zerschlagen des Marmors hatte er so viel Staub aufgewirbelt hatte, dass er nicht richtig sehen konnte. Erneut atmete er tief durch, sammelte seine Kräfte und ging nach draußen. Er hatte recht gehabt, es war tatsächlich Rom. Als er die italienischen Zypressen sah, war ihm klar, dass es kein anderer Ort sein konnte. Er stand mitten auf dem Forum Romanum, vor ihm erstreckten sich das grüne Gras, die Hügel und Täler und die Ruinen der antiken Bauwerke Roms. Der Anblick weckte Erinnerungen – hier hatte er viele Leute getötet, als das Forum Romanum noch genutzt wurde, und einmal war er beinahe selbst ums Leben gekommen. Bei dem Gedanken lächelte er. Er mochte diesen Ort. Außerdem war er perfekt für seine Zwecke geeignet. Das Pantheon war nicht weit entfernt, was bedeutete, dass er in kürzester Zeit bei den Richtern des Großen Rates von Rom vorsprechen konnte. Sie standen dem mächtigsten Vampirclan in Rom vor, und von ihnen würde er alle Antworten bekommen, die er brauchte. Sehr bald würde er wissen, wo Caitlin sich aufhielt, und wenn alles gut lief, bekäme er auch die Erlaubnis, sie zu töten. Nicht, dass er eine Erlaubnis brauchen würde. Das war bloß Höflichkeit, Vampir-Etikette, die Befolgung von Jahrtausende alten Traditionen. Man bemühte sich immer um eine Genehmigung, wenn man jemanden auf dem Territorium eines anderen Clans töten wollte. Doch selbst wenn sie sein Ersuchen ablehnen würden, würde er sich nicht von seinem Plan abhalten lassen. Das könnte die Dinge für ihn schwieriger gestalten, aber er würde einfach jeden töten, der sich ihm in den Weg stellte. Kyle atmete die Luft Roms tief ein und fühlte sich sofort heimisch. Er war zu lange nicht mehr hier gewesen. Das New York der Neuzeit, die Vampirpolitik und die moderne Zeit hatten ihn zu sehr in Anspruch genommen. Das hier entsprach viel mehr seinem Stil. Als er in der Ferne Pferde und unbefestigte Straßen sah, vermutete er, dass er wahrscheinlich im achtzehnten Jahrhundert gelandet war. Perfekt. Rom war städtisch, aber noch sehr naiv und hatte noch zweihundert Jahre aufzuholen. Als Kyle seinen Körper genau untersuchte, stellte er fest, dass er diesmal die Reise in die Vergangenheit ziemlich gut überstanden hatte. Bei vorhergehenden Reisen war er wesentlich mitgenommener gewesen und hatte mehr Zeit zur Erholung gebraucht. Nicht so bei dieser Reise – er fühlte sich stärker als je zuvor und war bereit, sofort loszulegen. Er spürte, dass seine Flügel sehr bald wachsen würden, und er direkt zum Pantheon fliegen könnte, wenn er wollte. Doch er war noch nicht bereit, denn er hatte sich zu lange keinen Urlaub mehr gegönnt. Daher wollte er sich ein wenig umsehen und sich erinnern, wie es gewesen war, hier zu leben. Mit unglaublicher Geschwindigkeit sprang Kyle den Hügel hinunter und hatte das Forum im Handumdrehen hinter sich gelassen. Dann mischte er sich unter die Menschen auf den belebten, vollen Straßen Roms. Staunend stellte er fest, dass Rom sogar schon zweihundert Jahre früher überfüllt gewesen war. Langsam ließ er sich im Gedränge mittreiben. Auf dem breiten Boulevard, der noch unbefestigt war, eilten Tausende von Menschen in alle Richtungen. Überall sah man Pferde aller Größen und Formen, außerdem von Pferden gezogene Karren, Fuhrwerke und Kutschen. Die Straßen stanken nach menschlichen Ausdünstungen und Pferdemist. Jetzt erinnerte Kyle sich wieder an die fehlende Kanalisation und die mangelhafte Körperhygiene – es war der Gestank alter Zeiten. Er machte ihn regelrecht krank. Kyle wurde ständig angerempelt, während die Menschenmenge immer dichter wurde. Menschen aller Rassen und Klassen hasteten hin und her. Er wunderte sich über die primitiven Fassaden der Läden, in denen altmodische italiensche Hüte feilgeboten wurden. Kleine Jungen in Lumpen kamen auf ihn zu und boten Obst zum Verkauf an. Manche Dinge änderten sich einfach nie. Dann bog Kyle in eine schmale, heruntergekommene Gasse ein, an die er sich gut erinnerte. Er hoffte, dass sie noch das war, was sie einst gewesen war. Zu seinem Entzücken wurde er nicht enttäuscht – an den Hauswänden lehnten Prostituierte, die ihn alle ansprachen, als er vorbeiging. Kyle grinste breit. Als er sich einer der Damen näherte – einer großen, vollbusigen Frau mit rotgefärbtem Haar und zu viel Make-up -, streckte sie die Hand aus und streichelte sein Gesicht. »Hey, großer Junge«, sagte sie, »willst du dich ein bisschen amüsieren? Wie viel hast du denn?« Kyle lächelte, legte den Arm um sie und bugsierte sie eine Seitengasse. Sie folgte ihm bereitwillig. Sobald sie um die Ecke gebogen waren, sagte sie: »Du hast meine Frage nicht beantwortet. Wie viel Geld hast ...« Noch bevor sie die Frage beenden konnte, hatte Kyle ihr bereits die Zähne in den Hals gebohrt. Als sie schreien wollte, hielt er ihr mit der freien Hand den Mund zu und zog sie dichter an sich. Er trank und trank. Sobald das Menschenblut durch seine Adern strömte, fühlte er sich prächtig. Er war völlig ausgedörrt und dehydriert gewesen. Die Zeitreise hatte ihn erschöpft, und diese Mahlzeit war genau das, was er brauchte, um ihm neue Kraft zu geben. Der Körper der Frau erschlaffte, doch er trank immer weiter. Schließlich war er restlos gesättigt und ließ die Frau einfach fallen. Als er sich umdrehte, um weiterzugehen, tauchte ein großer, unrasierter Mann vor ihm auf, dem ein Zahn fehlte. Er zog einen Dolch aus seinem Gürtel und blickte auf die tote Frau zu Kyles Füßen. Dann zog er eine Grimasse und warf Kyle einen drohenden Blick zu. »Die Frau hat mir gehört«, sagte er dann. »Hoffentlich hast du wenigstens genug Geld dabei.« Damit trat er zwei Schritte näher und holte mit seinem Dolch aus. Kyle reagierte blitzschnell, wich der Waffe aus und packte den Mann am Handgelenk. Mit einer einzigen fließenden Bewegung brach er dem Angreifer den Arm. Bevor der Mann auch nur einen Laut von sich geben konnte, hatte Kyle sich den Dolch geschnappt und seinem Gegner die Kehle durchgeschnitten. Auch diese Leiche ließ er einfach auf die Straße fallen. Dann betrachtete er den Dolch, ein hübsches kleines Ding mit einem Elfenbeingriff, und nickte beifällig - gar nicht so übel. Er steckte die Waffe in seinen Gürtel und wischte sich mit dem Handrücken das Blut vom Mund ab. Dann atmete er tief durch, marschierte zufrieden die Gasse entlang und bog wieder in die Hauptstraße ein. Oh, wie sehr hatte er Rom vermisst!
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