Kapitel 4 - Ned-Land
Der Commandant Farragut war ein tüchtiger Seemann, seiner Fregatte würdig. Er fühlte sich eins mit seinem Schiff; war die Seele desselben. Ueber das Seeungeheuer hegte er nicht den mindesten Zweifel, und er gestattete gar nicht, daß an Bord seines Schiffes über die Existenz des Thieres disputirt wurde. Er glaubte daran, wie manche gute Frauen an Leviathan – nicht aus Vernunftgründen, sondern als an einen Glaubensartikel. Das Ungeheuer existirte, und er hatte geschworen, die Meere von demselben zu befreien. Entweder der Commandant Farragut würde den Narwal tödten, oder der Narwal den Commandanten. Ein Drittes gab's nicht.
Die Officiere an Bord theilten die Ansicht Ihres Chefs. Man mußte sie reden hören, disputiren, discutiren, die verschiedenen möglichen Fälle bei einem Zusammentreffen in Berechnung ziehen, das weite Meer beobachten. Mancher, der sonst einen solchen Dienst verwünscht hätte, übernahm freiwillig eine Wache auf dem Mastgebälk. So lange die Sonne am Himmel stand, waren die Masten voll Matrosen, denen auf dem Verdeck die Fußsohlen brannten und die sich nicht an ihrem Platze halten konnten! Und doch befand sich der Abraham Lincoln noch nicht in den verdächtigen Gewässern des Stillen Meeres.
Die Mannschaft war eifrigst gespannt, mit dem Einhorn zusammenzutreffen, die Harpune zu werfen, es an Bord zu ziehen und es zu zerhauen. Sie beobachtete mit sorglichster Achtsamkeit die Meeresfläche. Uebrigens sprach der Commandant Farragut von einer Summe von zweitausend Dollars, die er aussetzte – Schiffsjunge, Matrose oder Officier – der das Thier signalisirte. Da kann man sich denken, wie an Bord des Abraham Lincoln sich die Augen abmühten!
Ich meines Theils blieb hinter den Anderen nicht zurück, und überließ Niemand meinen Theil an der täglichen Beobachtung. Die Fregatte hätte hundertfach Grund gehabt, den Namen Argus zu führen. Nur der einzige Conseil stand mit seiner Gleichgültigkeit im Widerspruch mit uns in Hinsicht der Frage, welche uns in Bewegung setzte, und stimmte nicht in den allgemeinen Enthusiasmus ein.
Ich habe gesagt, der Commandant Farragut habe sein Schiff wohl mit Werkzeugen und Vorkehrungen versehen, um das Riesenthier zu fischen. Wir waren im Besitz aller bekannten Maschinen, von der mit der Hand geworfenen Harpune bis auf die explodirenden Kugeln der Geschütze.
Auf dem Vordersteven war eine vervollkommnete Kanone, Hinterlader, von sehr starker Mündung und sehr enger Seele, deren Modell auf der nächsten Weltausstellung figuriren sollte. Dieses vortreffliche Instrument amerikanischen Ursprungs schleuderte leicht ein konisches Projectil von vier Kilogramm auf eine durchschnittliche Entfernung von sechzehn Kilometer.
Es fehlte also dem Abraham Lincoln nicht an Mordmitteln. Aber er besaß noch mehr, den Harpunierkönig Ned-Land.
Ned-Land war ein Canadier von seltenem Handgeschick, der seinesgleichen in dem gefährlichen Handwerk nicht hatte. Er besaß Gewandtheit und Kaltblütigkeit, Kühnheit und List in besonders hohem Grad, und ein Wallfisch mußte schon recht tückisch, ein Pottfisch besonders listig sein, um seiner Harpune zu entrinnen.
Ned-Land war etwa vierzig Jahr alt, hochgewachsen – über sechs englische Fuß – kräftig gebaut, von ernster Miene, wenig mittheilsam, manchmal heftig und sehr zornig, wenn man ihn reizte. Seine Person erregte Aufmerksamkeit, zumal die Macht seines Blickes, der seine Züge besonders belebte.
Der Commandant Farragut hatte wohl sehr weise gethan, diesen Mann für sein Schiff zu gewinnen. Er allein wog mit Auge und Arm die ganze Mannschaft auf. Ich könnte ihn am besten mit einem starken Teleskop vergleichen, der zugleich als Kanone stets schußfertig wäre.
Canadier sind Franzosen, und so wenig mittheilsam Ned-Land war, hatte er doch, erkenne ich an, eine gewisse Anhänglichkeit an mich. Ohne Zweifel zog ihn meine Nationalität an. Ich gab ihm eine Gelegenheit sich zu unterreden, und er mir eine solche, die alte Sprache des Rabelais zu hören, die in einigen Gegenden Canadas noch in Gebrauch ist. Die Familie des Harpuniers stammte aus Quebec, und bildete schon zu der Zeit, als diese Stadt den Franzosen gehörte, einen kühnen Fischerstamm.
Allmälig bekam Ned l**t zu plaudern, und ich hörte ihn gern von seinen Abenteuern in den Polarmeeren erzählen. Er sprach mit viel natürlicher Poesie von seinem Fischfang und seinen Kämpfen dabei. Sein Vortrag hatte echt epische Form, und ich glaubte manchmal einen canadischen Homer zu hören, der die Iliade der Hyperboreerlande sang.
Ich schildere eben diesen kühnen Gesellen so, wie ich ihn gegenwärtig kenne. Wir sind alte Freunde geworden, geeinigt durch die unerschütterliche Sympathie, welche in den entsetzlichsten Lebenslagen entsteht und aneinander fesselt! Wackerer Ned! Ich möchte noch hundert Jahre leben, um mich noch recht lange Deiner zu erinnern!
Und jetzt, was war denn Ned-Land's Meinung in der Frage des Seeungeheuers? Ich muß gestehen, daß er an das Einhorn wenig glaubte, und daß er allein an Bord die allgemeine Ansicht nicht theilte. Er mied selbst von dem Gegenstand zu sprechen, so daß ich ihm einmal glaubte darin zu Leibe gehen zu müssen.
An einem prachtvollen Abend des 30. Juli, d. h. drei Wochen nach unserer Abfahrt, befand sich die Fregatte auf der Höhe des Cap Blanco, dreißig Meilen unter'm Wind an der patagonischen Küste. Wir waren über den Wendekreis des Steinbocks hinaus, und die Magellanische Enge war keine siebenhundert Meilen mehr südlich. Vor Ablauf von acht Tagen konnte der Abraham Lincoln die Wogen des Stillen Meeres durchsegeln.
Wir saßen, Ned-Land und ich, auf dem Hinterverdeck und plauderten über dies und jenes, indem wir auf das geheimnißvolle Meer hinschauten, dessen Tiefen bis jetzt den Blicken der Menschen unzugänglich gewesen sind. Ich führte ganz natürlich das Gespräch auf das Riesen-Einhorn, und prüfte die verschiedenen Aussichten unserer Unternehmung auf Gelingen oder Mißlingen. Hernach, als Ned mich reden ließ, ohne darauf zu antworten, setzte ich ihm directer zu.
»Wie ist es, Ned, fragte ich, wie ist nur möglich, daß Sie von der Existenz des Thieres, welches wir verfolgen, nicht überzeugt sind? Haben Sie denn besondere Gründe, sich so ungläubig zu zeigen?«
Der Harpunier sah mich erst eine Weile an, bevor er mir antwortete, schlug sich dann mit einer ihm eigenthümlichen Handbewegung auf seine große Stirn, schloß die Augen, als wolle er sich sammeln, und sagte endlich:
»Vielleicht wohl, Herr Arronax.
– Doch, Ned, Sie, ein Wallfischfänger von Profession, der mit den großen Seesäugethieren vertraut ist, dessen Einbildungskraft leicht die Hypothese von enormen Seethieren gelten lassen kann, Sie sollten der Letzte sein, der in solche Dinge Zweifel setzt!
– Darin gerade irren Sie, Herr Professor, erwiderte Ned. Mag die Menge an außerordentliche Kometen glauben, welche den Raum durchlaufen, oder an das Dasein urweltlicher Ungeheuer, welche im Innern des Erdballs hausen, das geht noch an, aber weder der Astronom noch der Geologe lassen solche Hirngespinnste gelten. Ebenso der Wallfischfänger. Ich habe manche Seethiere verfolgt, viele harpuniert, eine Menge erlegt, aber so stark und wohl bewaffnet sie auch waren, weder mit den Schwänzen, noch mit den Zähnen hätten sie den Eisenplatten eines Dampfers etwas anhaben können.
– Doch, Ned, führt man Schiffe an, welche der Narwal mit seinem Zahn durch und durch gebohrt hat.
– Hölzerne, wohl möglich, erwiderte der Canadier; und dazu hab' ich solche nie gesehen. Also, bis mir der Beweis vom Gegentheil erbracht wird, leugne ich, daß Wallfische, Pottfische oder Einhörner solch eine Wirkung hervorbringen können.
– Hören Sie mich an, Ned …
– Nein, Herr Professor, nein. Alles sonst, was Sie wollen, nur dies nicht. Ein Riesenpolyp vielleicht … ?
– Noch weniger, Ned. Der Polyp ist nur eine Molluske, von wenig festem Fleisch, wie schon dieser Name andeutet. Wäre ein Polyp – der nicht zu den Wirbelthieren gehört – auch fünfhundert Fuß lang, so ist er doch durchaus ungefährlich für solche Schiffe, wie der Scotia oder Abraham Lincoln. Es müssen also die Heldenthaten der Kraken und anderen Ungeheuer der Art in's Reich der Fabeln verwiesen werden.
– Also, Herr Naturforscher, fuhr Ned-Land mit etwas schelmischem Ton fort, Sie beharren bei der Annahme, daß ein enormes Seesäugethier vorhanden sei … ?
– Ja, Ned, ich wiederhole es mit einer Ueberzeugung, welche sich auf die Logik der Thatsachen stützt. Ich glaube an die Existenz eines stark organisirten Seesäugethiers aus der Classe der Wirbelthiere, wie der Wallfisch, Pottfisch und Delphin, welches mit einer hörnernen Waffe von äußerster Stärke versehen ist.
– Hm! sagte der Harpunier, und schüttelte den Kopf, als ein Mann, der sich nicht überzeugen lassen will.
– Bemerken Sie, mein wackerer Canadier, fuhr ich fort, daß, wenn ein solches Thier existirt, wenn es die Tiefen des Oceans bewohnt, wenn es in den Wasserschichten verkehrt, welche einige Meilen unter der Oberfläche sind, – es nothwendig einen Organismus haben muß, dessen Festigkeit über alle Vergleichung geht.
– Und weshalb dieser starke Organismus? fragte Ned.
– Weil eine unberechenbare Kraft nöthig ist, um sich in den tiefen Schichten aufzuhalten und dem Druck derselben zu widerstehen.
– Wirklich? sagte Ned, und sah mich blinzelnd an.
– Wirklich, und einige Zahlen werden es leicht beweisen.
– O! Zahlen! versetzte Ned. Mit Zahlen läßt sich Alles machen!
– In Geschäften, Ned, aber nicht in der Mathematik. Hören Sie nur. Nehmen wir an, daß der Druck einer Atmosphäre dem Druck einer Wassersäule von zweiunddreißig Fuß Höhe gleich ist. In Wirklichkeit würde die Wassersäule nicht so hoch sein, weil das Meerwasser dichter ist als das süße. Nun, Ned, wenn Sie untertauchen, muß Ihr Körper, soviel mal er zweiunddreißig Fuß Wasser über sich hat, ebensoviel mal einen Druck gleich dem der Atmosphäre aushalten, nämlich ein Kilogramm auf jeden Quadratcentimeter seiner Oberfläche. Daraus folgt, daß bei dreihundertundzwanzig Fuß Tiefe dieser Druck gleich zehn Atmosphären gleichkommt, und hundert Atmosphären bei dreitausendzweihundert Fuß Tiefe, tausend Atmosphären bei zweiunddreißigtausend Fuß. Dies will ebensoviel heißen, als daß, wenn Sie bis in eine solche Tiefe gelangen können, jeder Quadratcentimeter der Oberfläche Ihres Körpers einen Druck von tausend Kilogramm zu erleiden haben würde. Nun, wissen Sie, wackerer Ned, wieviel Quadratcentimeter Oberfläche Ihr Körper hat?
– Ich habe keine Ahnung davon, Herr Arronax.
– Ungefähr siebenzehntausend.
– So viele?
– Und da in Wirklichkeit der atmosphärische Druck etwas mehr als ein Kilogramm auf den Quadratcentimeter beträgt, so haben Ihre siebenzehntausend Quadratcentimeter in diesem Augenblick einen Druck von siebenzehntausendfünfhundertachtundsechzig Kilogramm auszuhalten.
– Ohne daß ich's merke?
– Ohne es wahrzunehmen. Und daß Sie nicht von einem solchen Druck zerquetscht werden, kommt daher, daß die Luft im Innern Ihres Körpers einen gleichen Druck ausübt. Es entsteht daraus ein vollständiges Gleichgewicht des innern und äußern Druckes, welche sich einander aufheben, so daß Sie es leicht aushalten. Im Wasser aber ist's anders.
– Ja, ich begreife, erwiderte Ned, der aufmerksamer geworden war, weil das Wasser mich umgiebt, nicht ebenso mich durchdringt.
– Richtig, Ned. Also bei zweiunddreißig Fuß unter der Meeresoberfläche hätten Sie einen Druck von siebenzehntausendfünfhundertachtundsechzig Kilogramm auszuhalten; bei dreihundertundzwanzig Fuß diesen Druck zehnfach, nämlich hundertfünfundsiebenzigtausendsechshundertachtzig Kilogramm; bei dreitausendzweihundert Fuß hundertfach, nämlich siebenzehnhundertsechsundfünfzigtausendachthundert Kilogramm; bei zweiunddreißigtausend Fuß endlich den tausendfachen Druck, nämlich von siebenzehn Millionen fünfhundertachtundsechzigtausend Kilogramm; d. h. Sie würden platt gedrückt, wie unter den Platten einer hydraulischen Presse!
– Teufel! sagte Ned.
– Nun denn, mein werther Harpunier, wenn Wirbelthiere, die einige hundert Meter lang und verhältnißmäßig d**k sind, sich in solchen Tiefen aufhalten können, und ihre Oberfläche Millionen Centimeter beträgt, so ist der Druck, welchen sie aushalten können, auf Milliarden Kilogramm anzuschlagen. Nun rechnen Sie, wie groß muß die Widerstandskraft ihres Knochenbaues und die Stärke ihres Organismus sein, um solchem Druck Widerstand zu leisten!
– Sie müssen wohl, versetzte Ned-Land, mit acht Zoll dickem Eisenblech beschlagen sein, wie die Panzerfregatten.
– So ist's, Ned, und nun denken Sie, was eine solche mit der Schnelligkeit eines Eilzugs wider einen Schiffsrumpf anstürzende Masse für Zerstörung anrichten kann.
– Ja … wirklich … vielleicht, erwiderte der Canadier, der durch diese Ziffern zwar wankend geworden, doch sich noch nicht ergeben wollte.
– Nun, hab' ich Sie überzeugt?
– Sie haben, Herr Naturforscher, mich davon überzeugt, daß, wenn auf dem Grund des Meeres solche Thiere existiren, sie nothwendig so stark sein müssen, wie Sie sagten.
– Aber wenn sie nicht existiren, starrköpfiger Harpunier, wie erklären Sie dann den Unfall, welcher den Scotia traf?
– Vielleicht … , sagte Ned stotternd.
– Nun, nun!
– Weil … es nicht wahr ist!« Canadier, indem er, ohne es zu wissen, die Antwort, welche einmal der berühmte Arago gab, wiederholte.
Aber diese Antwort bewies doch nur die Hartnäckigkeit des Harpuniers. Damals drängte ich ihn nicht weiter. Der Unfall der Scotia war nicht zu leugnen. Das Loch war so stark, daß man es stopfen mußte, und ich glaube nicht, daß das Vorhandensein eines Loches entschiedener bewiesen werden kann. Dieses Loch aber ist nicht von selbst entstanden, und da es nicht von Felsen oder Maschinen unter'm Meer hervorgebracht worden ist, so ist es nothwendig dem durchbohrenden Werkzeug eines Thieres zuzuschreiben.
Meiner Ansicht nach, und aus allen vorhin angeführten Gründen, gehörte nun dieses Thier der Abtheilung der Wirbelthiere an, zur Classe der Säugethiere, Gruppe der fischförmigen, und endlich zur Ordnung der wallfischartigen. Zu welcher Familie es zu rechnen, Wallfisch, Pottfisch oder Delphin, zu welcher Gattung und Art, wäre eine später zu beleuchtende Frage. Um diese zu lösen, müßte man das unbekannte Ungeheuer erst zerlegen; um es zu zerlegen, es fangen; um es zu fangen, die Harpune werfen; zum Harpunieren müßte man es sehen – was der Mannschaft zufiele; dafür aber müßte man ihm begegnen, was eine Sache des Zufalles ist.