Die Geschichte einer Jugend-4

1343 Words
Sie sahen beide auf, als ich eintrat. Die junge Dame war ein sehr schönes Mädchen mit reichem goldblondem Haar, sanften blauen Augen und einem heitern, unschuldigen, vertrauensvollen Gesicht. »Miß Ada«, stellte mich Mr. Kenge vor, »hier ist Miß Summerson!« Die junge Dame streckte mir mit freundlichem Lächeln die Hand entgegen, schien aber im Augenblick andern Sinnes zu werden, kam auf mich zu und küßte mich; kurz, sie hatte ein so natürliches und gewinnendes Wesen, daß wir nach wenigen Minuten im Schein des Feuers zusammen am Fenster saßen und so ungeniert und heiter wie nur möglich miteinander plauderten. Eine Last war von meinem Herzen genommen. Ich fühlte mich so glücklich, daß sie Vertrauen zu mir fassen und Gefallen an mir finden konnte. Es war so gut von ihr und so ermutigend für mich. Der junge Herr, ein entfernter Vetter von ihr, wie sie mir sagte, hieß Richard Carstone. Er war ein hübscher junger Mann mit einem intelligenten Gesicht und einem sehr gewinnenden Lachen; und nachdem sie ihn zu uns ans Fenster gerufen hatte, plauderte er so lustig wie ein leichtherziger Knabe. Er mußte sehr jung sein, höchstens neunzehn, war aber fast zwei Jahre älter als sie. Beide waren sonderbarerweise Waisen und hatten sich vorher nie gesehen. Daß wir uns alle drei zum ersten Mal an diesem ungewöhnlichen Orte trafen, war allein schon wert, daß man davon redete, und wir unterhielten uns darüber. Das Feuer hatte aufgehört, so laut zu prasseln, und zwinkerte uns mit seinen roten Augen zu – wie sich Richard ausdrückte – wie ein schläfriger alter Gerichtslöwe. Wir unterhielten uns ziemlich leise, weil ein Herr in Kniehosen und Schuhen und einer Zopfperücke häufig ins Zimmer kam, wobei wir beim Aufgehen stets ein schläfriges Summen in der Ferne hörten. Es stammte, wie er uns sagte, von einem Advokaten, der gerade in unserer Sache vor dem Lordkanzler plädierte. Fast gleich darauf öffnete er wieder die Tür und ließ Mr. Kenge eintreten. Sodann begaben wir uns alle in das nächste Zimmer: voran Mr. Kenge mit – meinem Liebling; der Ausdruck ist mir so natürlich geworden, daß er mir von selbst in die Feder kommt. Dort saß, einfach in Schwarz gekleidet, in einem Lehnstuhl vor einem Tisch am Kamin Seine Lordschaft. Sein Gerichtstalar, mit schönen Goldtressen besetzt, lag auf einem Stuhl daneben. Er warf einen forschenden Blick auf uns, als wir eintraten, aber sein Benehmen war höflich und gütig. Der Herr mit der Perücke legte Akten auf den Tisch, und Seine Lordschaft suchte schweigend ein Heft heraus und blätterte darin. »Miß Clare«, begann der Lordkanzler, »Miß Ada Clare?« Mr. Kenge stellte sie vor, und Seine Lordschaft bat sie, neben ihm Platz zu nehmen. Daß er sie bewunderte und großes Interesse an ihr nahm, konnte sogar ich auf den ersten Blick sehen. Es tat mir weh, daß eine kahle trockene Beamtenstube das Vaterhaus eines so schönen und jungen Geschöpfes sein sollte. Der Lord-Oberkanzler erschien mir trotz seines guten Willens ein armseliger Ersatz für liebende Eltern zu sein. »Der in Frage kommende Jarndyce«, fragte der Lordkanzler, immer noch in dem Hefte blätternd, »ist Jarndyce von Bleakhaus?« »Jarndyce von Bleakhaus, Mylord«, bestätigte Mr. Kenge. »Ein trauriger Name, Mr. Kenge.« »Aber jetzt kein trauriger Ort mehr, Mylord.« »Und Bleakhaus«, sagte Seine Lordschaft, »liegt in –?« »Hertfordshire, Mylord.« »Mr. Jarndyce von Bleakhaus ist unverheiratet?« »Ja, Mylord.« Eine Pause. »Der junge Mr. Richard Carstone ist anwesend?« warf der Lordkanzler einen Blick auf den jungen Mann. Richard verbeugte sich und trat vor. »Hm«, sagte der Lordkanzler und blätterte weiter. »Mr. Jarndyce von Bleakhaus, Mylord«, erklärte Mr. Kenge mit leiser Stimme, »sucht, wenn ich mir erlauben darf, Ew. Lordschaft daran zu erinnern, eine geeignete Gesellschafterin für –« »Für Mr. Richard Carstone?« glaubte ich den Lordkanzler mit einem Lächeln sagen zu hören. »Für Miß Ada Clare! Hier ist die junge Dame! Miß Summerson!« Seine Lordschaft schenkte mir einen freundlich herablassenden Blick und erwiderte meine Verbeugung sehr gnädig. »Miß Summerson ist, glaube ich, mit keiner der Parteien in dieser Sache verwandt?« »Nein, Mylord.« Mr. Kenge beugte sich, ehe er dies sagte, ein wenig vor und flüsterte etwas. Der Kanzler hörte zu, die Augen auf seine Akten geheftet, nickte zwei oder dreimal, blätterte um und blickte mich nicht wieder an, bis wir uns verabschiedeten. Mr. Kenge trat jetzt mit Richard wieder zurück zu mir in die Nähe der Tür und ließ Ada neben dem Lordkanzler sitzen. Seine Lordschaft sprach mit ihr eine Weile allein, fragte sie, wie sie mir später erzählte, ob sie den Schritt, den sie zu tun im Begriffe stehe, sich auch wohl überlegt habe und glaube, sie werde sich bei Mr. Jarndyce von Bleakhaus glücklich fühlen, und weshalb sie das denke. Gleich darauf erhob er sich höflich grüßend und sprach ein paar Minuten lang mit Richard Carstone im Stehen und mit viel mehr Ungeniertheit und weniger Förmlichkeit, als ob er trotz seines Ranges als Lordkanzler immer noch wüßte, wie man den geraden Weg zu dem Herzen eines jungen Mannes findet. »Sehr gut«, sagte er dann laut. »Ich werde das Dekret ausfertigen lassen. Mr. Jarndyce von Bleakhaus hat, soweit ich beurteilen kann«, – er sah mich dabei an – »eine sehr gute Gesellschafterin für die junge Dame gefunden, und das erscheint mir als das beste, was unter den gegebenen Umständen geschehen kann.« Er entließ uns freundlich, und wir alle waren ihm für seine Leutseligkeit und Höflichkeit, durch die er gewiß nichts an Würde verloren, sondern nur gewonnen hatte, sehr verbunden. Als wir in den Säulengang kamen, erinnerte sich Mr. Kenge, daß er noch einmal zurück müsse, um sich nach etwas zu erkundigen, und ließ uns in dem Nebel stehen, wo des Lordkanzlers Wagen und Bediente warteten. »Nun, das wäre überstanden«, sagte Richard Carstone. »Und wo gehen wir jetzt hin, Miß Summerson?« »Wissen Sie es nicht?« »Nicht im mindesten.« »Und Sie auch nicht, liebe Ada?« fragte ich. »Nein, wenn Sie es nicht wissen, Miß Summerson.« »Ich durchaus nicht.« Wir sahen einander an und lachten, daß wir dastanden wie Kinder, die sich im Walde verirrt haben, als eine seltsame kleine Alte mit einem zerdrückten Hut und einem großen Strickbeutel knicksend und lächelnd sich uns mit höchst feierlicher Miene näherte. »Oh«, sagte sie. »Die Mündel in Sachen Jarndyce! Schätze mich sehr glücklich, die Ehre zu haben. Ein gutes Omen für Jugend, Hoffnung und Schönheit, an diesem Ort zusammenzukommen und nicht zu wissen, was daraus werden soll.« »Verrückt!« flüsterte uns Richard zu, in dem Glauben, sie könne es nicht hören. »Sehr richtig! Verrückt, junger Herr!« antwortete die Alte so rasch, daß Richard wie begossen dastand. »Ich war selbst einst ein Mündel. Damals war ich nicht verrückt«, setzte sie mit einer tiefen Verbeugung und einem Lächeln nach jedem kleinen Satz hinzu. »Ich war jung und voll Hoffnung. Ich glaube, ich war auch schön. Darauf kommt es jetzt aber sehr wenig an. Weder Jugend noch Hoffnung noch Schönheit halfen mir etwas. Ich habe die Ehre, den Gerichtssitzungen regelmäßig beizuwohnen. Mit meinen Dokumenten. Ich erwarte ein Urteil. Binnen kurzem. Am Tage des Jüngsten Gerichts. Ich habe entdeckt, daß das sechste Siegel in der Offenbarung das Große Siegel ist. Es ist schon seit langer Zeit geöffnet. Erlauben Sie mir, daß ich Ihnen Glück wünsche.« Da Ada etwas erschrocken war, sagte ich, um der armen Alten nicht weh zu tun, daß wir ihr sehr verbunden wären. »Ja-a!« antwortete sie geziert. »Das glaube ich. Und hier kommt 'Konversationskenge'. Mit seinen Dokumenten. Wie geht es Ew. Würden?« »Danke, danke. Aber bitte, belästigen Sie uns nicht, gute Frau«, sagte Mr. Kenge, indem er uns zurückgeleitete. »O gewiß nicht«, entschuldigte sich die arme Alte, neben Ada und mir hergehend. »Will durchaus nicht belästigen. Ich werde beiden Güter schenken; was doch gewiß keine Belästigung ist. Ich erwarte ein Urteil. Am Tage des Jüngsten Gerichts. Ein gutes Omen für Sie. Nehmen Sie meinen Glückwunsch entgegen.« Sie blieb unten an der steilen, breiten Treppe stehen, und als wir uns beim Hinaufgehen umsahen, stand sie immer noch da und sagte immer noch mit einem Knicks und einem Lächeln bei jedem kleinen Satz: »Jugend! Und Hoffnung! Und Schönheit! Und Kanzleigericht! Und Konversationskenge! Ha! Bitte, nehmen Sie meinen Glückwunsch entgegen!« 4. Kapitel
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