Auf hoher See.

2067 Words
Auf hoher See.Der Wind war ungleich, doch günstig, mit starken Aprilstößen. Der Forward durchschnitt rasch das Meer, und seine Schraube beseitigte jedes Hinderniß. Gegen drei Uhr kreuzte er mit dem Post-Dampfer zwischen Liverpool und der Insel Man. Der Kapitän rief ihn von seinem Bord aus an, das letzte Lebewohl, welches die Mannschaft des Forward zu hören bekam. Um fünf Uhr gab der Pilot die Leitung des Schiffes an Richard Shandon zurück, und sein Kutter verschwand bald im Südwest. Gegen Abend fuhr die Brigg um das Südende der Insel Man. Während der Nacht ging das Meer sehr hohl; der Forward hielt sich gut, ließ die Spitze von Ayr nordwestlich und steuerte dem Nord-Canal zu. Johnson hatte Recht; auf dem Meer gewann bei den Matrosen die Liebe zur See die Oberhand. Beim Anblick der Trefflichkeit des Fahrzeugs vergaßen sie das Besorgliche ihrer Lage. Das Leben an Bord gestaltete sich regelmäßig. Der Doctor schlürfte mit größtem Behagen die Seeluft; er ging kräftigen Schrittes allen Windstößen entgegen, für einen Gelehrten auf ziemlich seemännischem Fuß. »Das Meer ist doch etwas Herrliches, sagte er zu Meister Johnson, als er nach dem Frühstück wieder auf das Verdeck sich begab. Ich mache mich etwas spät mit demselben vertraut, aber ich werde mich bald darein finden. – Sie haben Recht, Herr Clawbonny; ich gäbe alle Continente der Welt für ein Stückchen Ocean. Man behauptet, die Seeleute würden bald ihr Geschäft müde; nun bin ich schon vierzig Jahre Seefahrer, und dies Leben gefällt mir noch so gut, wie am ersten Tag. – Es ist doch eine wahre Lust, ein gutes Schiff unter den Füßen zu haben, und irre ich nicht, so hält sich der Forward trefflich. – Sie urtheilen richtig, Doctor, erwiderte Shandon, der zu den beiden hinzutrat; 's ist ein trefflich Fahrzeug, und ich sage offen, noch nie ist ein für die Fahrt in's Eismeer bestimmtes Schiff besser versehen und bemannt gewesen. Das erinnert mich, wie vor dreißig Jahren der Kapitän James Roß, als er die nordwestliche Durchfahrt suchte ... – Er fuhr auf der Victoria, sagte lebhaft der Doctor, einer Brigg von etwa gleichem Tonnengehalt, wie die unsrige, und ebenfalls mit einer Dampfmaschine. – Wie? Das wissen Sie? – Urtheilen Sie selbst, fuhr der Doctor fort; damals waren die Maschinen noch in ihrer Kindheit, und die der Victoria verursachte derselben mehr wie eine nachtheilige Verzögerung: nachdem der Kapitän Roß sie Stück für Stück vergeblich reparirt hatte, ließ er sie zuletzt auseinander nehmen, und gab sie bei seinem ersten Winteraufenthalt auf. – Teufel! rief Shandon; Sie wissen es genau, sehe ich! – Was meinen Sie? fuhr der Doctor fort; das hat man vom Lesen. Ich habe die Werke von Parry, Roß, Franklin, die Berichte von Mac Clure, Kennedy, Kane, Mac Clintock gelesen, und es ist dabei etwas an mir hängen geblieben. Ich sage weiter, daß dieser nämliche Mac Clintock an Bord des Fox, einer Schraubenbrigg, wie die unsrige, leichter und directer zum Ziel gelangte, als alle seine Vorgänger. – Sie haben vollkommen Recht, erwiderte Shandon; dieser Mac Clintock ist ein kühner Seemann; ich hab' ihn bei der Arbeit gesehen; Sie können beifügen, daß wir uns gleich ihm schon im April in der Davis-Straße befinden werden, und wenn es uns gelingt, zwischen den Eisblöcken durchzudringen, so wird das unserer Reise einen bedeutenden Vorschub geben. – Sofern nicht, entgegnete der Doctor, es uns geht, wie dem Fox im Jahre 1857, daß wir gleich im ersten Jahre zwischen den Eisblöcken des nördlichen Baffins-Meeres stecken bleiben und mitten in der Eisdecke überwintern müssen. – Wir müssen hoffen, daß wir glücklicher sein werden, Herr Shandon, erwiderte Johnson; und wenn man mit einem Fahrzeug, wie der Forward nicht dringen kann, wohin man will, muß man es ganz aufgeben. – Uebrigens, fuhr der Doctor fort, wenn der Kapitän an Bord ist, wird er besser als wir wissen, was zu thun ist, und um so mehr, als es uns vollständig unbekannt ist; denn aus seinem gar zu lakonischen Briefe können wir den Reisezweck nicht errathen. – Es ist schon viel werth, erwiderte Shandon lebhaft, daß wir wissen, welchen Weg wir zu nehmen haben; und jetzt, seit einem Monat, denk' ich mir, wir können die übernatürliche Einwirkung dieses Unbekannten und seiner Instructionen schon entbehren. Uebrigens wissen Sie meine Meinung über ihn. – Ho! Ho! rief der Doctor aus, ich glaubte wie Sie, dieser Mann werde das Commando des Schiffes Ihnen lassen, und niemals an Bord kommen, aber ... – Aber? versetzte Shandon etwas ärgerlich. – Aber seit Ankunft des zweiten Briefes hab' ich in dieser Hinsicht meine Ideen ändern müssen. – Und weshalb, Doctor? – Weil dieser Brief Ihnen zwar die Richtung angiebt, welche genommen werden soll, allein über die Bestimmung des Forward keine Auskunft giebt; man muß aber doch wissen, wohin man fährt. Wie kann, frage ich, ein dritter Brief an Sie gelangen, weil wir uns auf hoher See befinden! Auf Grönland muß der Postdienst etwas zu wünschen übrig lassen. Sehen Sie, Shandon, ich denke mir, dieser Schalk wartet auf uns an einem dänischen Platze, zu Holsteinborg oder Uppernawick; dort wird er zu seiner Ladung noch Robbenfelle, Schlitten und Hunde kaufen, kurz alle Geräthschaften, welche für eine Reise in das nördliche Eismeer nöthig sind. Es wird mich daher wenig überraschen, wenn wir ihn eines schönen Morgens aus seiner Cabine herauskommen und das Commando auf eine durchaus nicht übernatürliche Weise führen sehen. – Möglich, erwiderte Shandon trocken; aber inzwischen weht frischer Wind, und es ist nicht klug, zu solcher Zeit seine Masten einer Gefahr auszusetzen.« Shandon verließ den Doctor und gab Befehl, die hohen Segel aufzugeien. »Es hält, sagte der Doctor zum Rüstmeister. – Ja, erwiderte letzterer, und das ist zu bedauern, denn Sie könnten wohl Recht haben, Herr Clawbonny.« Am Samstag gegen Abend fuhr der Forward am Vorgebirge Galloway vorüber, dessen Leuchtthurm nordöstlich bemerklich ward; während der Nacht ließ man das Vorgebirge Cantyre im Norden und Cap Fair im Osten der Küste Irlands. Gegen drei Uhr früh lief die Brigg neben der Insel Rathlin vorbei aus dem Nord-Canal in den Ocean. Es war Sonntag, der 8. April; die Engländer, besonders die Matrosen, feiern diesen Tag streng; daher widmete man einen Theil des Vormittags dem Vorlesen der Bibel, welches der Doctor gern vornahm. Der Wind wurde darauf zum Orkan, welcher die Brigg an die irländische Küste zurückzuwerfen drohte; die Wellen wurden stark, und das Schwanken des Schiffes arg. Der Doctor spürte nichts von der Seekrankheit, weil er nicht wollte. Um Mittag verschwand im Süden Cap Malinhead, das letzte Stück von Europa, welches die kühnen Seeleute erblicken sollten. Man befand sich damals unter 55° 57' Breite, und 7° 40' Länge. Gegen neun Uhr Abends legte sich der Sturm, und der Forward blieb als guter Segler in nordwestlicher Richtung: er war nach dem Urtheil der Kenner zu Liverpool vorzugsweise Segelschiff. Während der folgenden Tage kam der Forward rasch nordwärts voran; der Wind schlug um in Süd, und das Meer ging gewaltig hohl; die Brigg fuhr damals mit vollen Segeln. Einige Sturmvögel flatterten über dem Hinterverdeck; der Doctor war so glücklich einen der letzteren zu schießen, und derselbe fiel an Bord. Er verstand es auch denselben schmackhaft zuzubereiten, indem er zuerst alles unter der Haut liegende Fett ablöste, so daß der ranzige Geschmack, welcher den Seevögeln mitunter eigen ist, völlig beseitigt wurde. Während des letzten Sturmes hatte Richard Shandon Gelegenheit, sich von den Vorzügen seiner Leute besonders zu überzeugen. James Wall, der Richard höchst ergeben war, faßte gut auf, verstand gut auszuführen, aber es mochte ihm am selbständigen Auftreten fehlen; in einer Stellung dritten Ranges war sein Platz. Johnson, ein erfahrener Seemann, ergraut in Fahrten nach dem Eismeer, war an Kaltblütigkeit und Kühnheit unübertrefflich. Der Harpunier Simpson und der Zimmermann Bell waren zuverlässige Leute, an strenge Disciplin und Pflichterfüllung gewöhnt. Der Eismeister Foker, im Seedienst erfahren, in Johnson's Schule gebildet, versprach die trefflichsten Dienste zu leisten. Von den übrigen Matrosen schienen Garry und Bolton die besten zu sein: Bolton, ein lustiger Geselle, munter und redselig; Garry, ein Junggeselle von fünfunddreißig Jahren, energischen Gesichtszügen, doch etwas blaß und traurig. Die drei Matrosen Clifton, Gripper und Pen schienen weniger eifrig und weniger entschlossen; sie murrten gern. Gripper wäre bei der Abfahrt selbst den Dienst wieder aufzugeben geneigt gewesen, hätte ihn nicht einiges Schamgefühl gehalten. Ging es gut, waren nicht allzuviel Gefahren zu bestehen oder Manoeuvres auszuführen, so konnte man auf diese drei Männer bauen; aber man mußte sie tüchtig nähren. Trotz der Vorschrift fiel ihnen die Enthaltsamkeit schwer, und bei der Mahlzeit vermißten sie den Branntwein oder Gin; sie entschädigten sich jedoch am Kaffee oder Thee, welche reichlich an Bord gespendet wurden. Die beiden Maschinisten, Brunton und Plover, und der Heizer waren zufrieden, daß sie bis jetzt die Arme kreuzten. Shandon wußte also, wie er mit jedem daran war. Am 14. April durchschnitt der Forward den großen Golfstrom, welcher, nachdem er entlang der Ostküste Amerikas bis zur Bank New-Foundlands nordwärts geflossen, sich nordöstlich dem Gestade Norwegens zuwendet. Man befand sich damals unter 51° 37' Breite und 22° 58' Länge, zweihundert Meilen von der Spitze Grönlands ab. Das Wetter wurde kälter; das Thermometer fiel auf 0° des hunderttheiligen, d. h. den Gefrierpunkt. Der Doctor hatte noch nicht seine Polarwinterkleidung angezogen, sondern sein Seemannscostüm, gleich den Matrosen und Offizieren. Es war eine Lust, ihn zu sehen, wie er ganz in den hohen Stiefeln steckte, mit seinem großen Hut von Wachsleinwand, Hosen und Jacke von gleichem Stoff; durch die starken Regen und großen Wellen, welche die Brigg überschütteten, bekam der Doctor das Aussehen eines Seethieres, worauf er sich etwas einbildete. Zwei Tage lang war das Meer äußerst unruhig; der Wind schlug um nordwestlich, und hemmte die Fahrt des Forward. Vom 14. bis 16. April ging die See sehr hoch; aber am Montag erfolgte ein heftiger Platzregen, der das Meer fast augenblicklich beruhigte. Shandon machte den Doctor auf diese eigenthümliche Erscheinung aufmerksam. »Ei, erwiderte letzterer, dies bestätigt die merkwürdigen Beobachtungen des Wallfischfahrers Scoresby, welcher Mitglied der königlichen Gesellschaft zu Edinburgh ist. Sie sehen, daß während des Regens die Wellen wenig merkbar sind, selbst bei heftigem Wind; dagegen bei trockenem Wetter würde die See auch bei minder starkem Wind mehr aufgeregt sein. – Aber, wie erklärt man diese Erscheinung, Doctor? – Sehr einfach, man erklärt sie nicht.« In diesem Augenblick machte der Eismeister auf eine rechts vom Bord, etwa fünfzehn Meilen unter'm Wind, schwimmende Masse aufmerksam. »Ein Eisberg in diesen Strichen!« sagte der Doctor. Shandon richtete sein Fernrohr nach der bezeichneten Stelle, und bestätigte die Angabe des Piloten. »Das ist merkwürdig! sagte der Doctor. – Darüber staunen Sie? sagte der Commandant lachend. Sollten wir so glücklich sein, auf etwas zu stoßen, das Sie in Erstaunen versetzt? – Es ist mir auffallend, ohne daß es mich in Staunen versetzte, erwiderte lächelnd der Doctor; denn die Brigg Ann de Poole aus Greenspond blieb im Jahre 1813 unter'm vierundvierzigsten Grade nördlicher Breite in wahren Eisfeldern stecken, und ihr Kapitän Dayement zählte die Blöcke nach Hunderten! – Gut! sagte Shandon, Sie können uns noch dazu belehren! – O! Das will noch wenig heißen, erwiderte bescheiden der liebenswürdige Clawbonny, ist man ja unter noch weit niedern Breitegraden auf Eisberge gestoßen. – Damit sagen Sie mir nichts neues, lieber Doctor. Als ich Schiffsjunge an Bord der Kriegscorvette Fly war ... – Im Jahre 1818, fuhr der Doctor fort, zu Ende März, oder auch April sind Sie unter'm zweiundvierzigsten Breitegrad zwischen zwei große schwimmende Eisinseln gerathen. – Ah! Das ist zu arg! rief Shandon aus. – Aber 's ist wahr; ich brauche also nicht in Staunen zu gerathen, wenn uns zwei Grad weiter nördlich ein schwimmender Eisberg aufstößt. – Sie sind wie ein Brunnen, Doctor, erwiderte der Commandant, aus dem man nur zu schöpfen braucht. – Gut! Ich werde rascher seicht werden, als sie sich denken, und jetzt, können wir die Erscheinung näher ansehen, Shandon, so würde mir es eine große Freude sein. – Sogleich. Johnson, sagte Shandon zu seinem Rüstmeister, der Wind wird, scheint es, stärker. – Ja, Commandant, erwiderte Johnson; wir gewinnen jedoch wenig, und die Strömung der Davis-Straße wird sich bald fühlbar machen. – Sie haben Recht, Johnson, und wenn wir am 20. April das Cap Farewell in Sicht haben wollen, müssen wir mit Dampf fahren, oder wir werden an die Küste von Labrador getrieben. Herr Wall, wollen Sie also Befehl zum Heizen ertheilen.« Dieser Befehl wurde ausgeführt; nach einer Stunde hatte der Dampf schon hinreichende Treibkraft; die Segel wurden beschlagen, und die Schraube trieb den Forward kräftig dem Nordwest entgegen. Sechstes Capitel.
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