KAPITEL DREI
Doktor Arkwrights Rat an Emily, sich zu schonen und ihr Stresslevel soweit wie möglich zu senken, flog schlichtweg aus dem Fenster, da das Wochenende um den Memorial Day immer näher rückte und die Pension voller Sportler war.
Emily eilte die Treppe hinunter in den Eingangsbereich, wo die Gäste in Gruppen herumstanden. Die Pension sah dank Chantelles Dekorationen wunderschön aus. Sie hatte das ganze Haus mit Fahnen geschmückt und Poster für die Stadtparade hingen an den Wänden. Alles deutete darauf hin, dass dies das beste Ereignis des Jahres werden würde. Bürgermeister Hansen hatte sich in diesem Jahr wirklich übertroffen, indem er eine Prozession antiker Feuerwehrautos sowie eine Blaskapelle aus der High School sowie einundzwanzig Salutschüsse organisiert hatte. Emily war froh, dass er für die Männer und Frauen, die ihr Leben für die Freiheit ihres Landes gelassen hatte, solch einen großartigen Erinnerungstag arrangiert hatte.
Lois und Marnie standen am Empfangstresen, wo sie hektisch Anrufe entgegennahmen und Fragen der Gäste beantworteten. Seit die Pension durch Bryonys Neugestaltung der Webseite für den gesamten Sommer ausgebucht war, hatte Emily die Pläne umgestalten müssen. Serena wollte nicht mehr so viel arbeiten, um sich mehr auf ihren Universitätsabschluss zu konzentrieren, weshalb Emily Marnie vom Zimmermädchen zur Empfangsdame befördert hatte. Als Ersatz hatte sie anschließend die von Amy für die Hochzeit herausgesuchte Reinigungsfirma Magic Elves engagiert und einen jungen Portier namens Trent eingestellt, der dafür verantwortlich war, die Taschen der Gäste beim Einchecken hinaufzutragen. Trotz der Hektik schien das System gut zu funktionieren. Zumindest für den Moment.
Emily traf im Foyer auf Bryony. Auf ihren Knien lag ein Laptop und auf dem Beistelltisch vor ihr stand ein Berg halb ausgetrunkener Kaffeetassen. Normalerweise befanden sich hier nur ein oder zwei Menschen, doch heute war jeder einzelne Tisch und jedes Sofa mit Gästen besetzt, die Kaffee und Saft tranken, Zeitung lasen, Karten studierten und ihre Tagesausflüge planten.
„Ich weiß, ich sage dir das jedes Mal, wenn ich dich sehe“, sagte Emily zu Bryony, als sie sich zu ihr setzte, „aber ich danke dir so sehr für all das, was du für die Pension getan hast. Ich habe sie noch nie zuvor so gesehen.“
Bryony lächelte. „Kein Problem. Ich kann es kaum abwarten, die Renovierungsarbeiten an der Erweiterung endlich zu beginnen. Das eröffnet mir so viele neue Möglichkeiten. Neue Formen. Neue Seiten.“ Ihre Augen glänzten vor Aufregung.
„Du liebst diese Art Arbeit wirklich, oder?“, fragte Emily verwundert. In New York hatte sie selbst jahrelang im Marketing gearbeitet und jede Sekunde davon gehasst.
Bryony wackelte mit den Augenbrauen. „Ich liebe es. Außerdem bekomme ich all diese mysteriösen Gäste, die hier buchen, zu sehen. Schau dir diesen hier an.“ Sie drehte ihren Laptop so, dass Emily die Zimmertabelle der Webseite angezeigt wurde, die sich durch die Magie eines Computercodes wie von allein füllte. „Das Kutscherhaus wurde von einem Mr. X gebucht. Ich hoffe ja, dass er ein neuer Roman Westbrook ist.“
Emily zog ihre Augenbrauchen ebenfalls begeistert hoch. „Oder ein Bösewicht von James Bond.“
In diesem Moment betrat eine Gruppe von drei Männern die Pension. Sie alle trugen beige Hosen und Poloshirts und ihr Haar strahlte in unterschiedlichen Grautönen. Emily bemerkte, dass jeder von ihnen eine große Papierrolle unter dem Arm trug und dass sie keine Art Wanderfriseure, sondern die Architekten von Erik & Sons waren und die ersten Skizzen für die Renovierung von Trevors Haus vorbeibrachten.
Sie und Daniel waren auf das Unternehmen zugegangen, in der Hoffnung, bei ihm eine wohlwollendere Herangehensweise zu finden. Als sie nun so auf sie zukamen, erkannte Emily an ihrer unheimlich gleichen Erscheinung, dass es sich hierbei wohl um den „& Sons“-Teil des Unternehmens handeln musste. Sie schüttelte allen die Hand, wobei sie immer wieder blinzeln musste, denn sie hatte das Gefühl, dass es sich jedes Mal um ein und dieselbe Person handelte.
„Wir sind Drillinge“, erklärte der Mann, dessen Haar im hellsten Grau erstrahlte. „Ich bin Wayne. Das ist Cain. Und das hier ist Shane. Er ist um fünf Minuten der jüngste von uns.“
„Und die Wahrscheinlichkeit, dass ich mir merken kann, wer wie heißt, ist gleich null“, gab Emily zu.
„Das macht uns nichts“, fuhr Wayne Erik fort. „Wir werden schon seit fünfundfünfzig Jahren miteinander verwechselt. Wenn wir ein Problem damit hätten, dann würden wir uns nicht gleich anziehen.“
Er grinste und deutete auf die exakt gleichen, dunkelblauen Poloshirts mit der Aufschrift Erik & Sons.
„Bitte“, sagte Emily“, folgt mir. Wir suchen uns einen ruhigeren Ort, an dem wir die hier ausbreiten können. Ich weiß, dass wir uns später für einen Rundgang des Hauses treffen, aber ich möchte die Pläne unbedingt schon jetzt sehen.“
Sie führte die Männer aus dem geschäftigen Eingangsbereich in das leere Esszimmer, wo die Erik-Drillinge ihre Pläne auf dem großen Walnusstisch ausbreiteten.
Emily warf einen Blick auf die Entwürfe, es gab eine Papierrolle für jedes Stockwerk des Hauses. Die Pläne sahen phänomenal gut aus. Sie waren groß und sehr aufregend. Trotzdem fühlte es sich für sie ungewohnt an, Trevors Haus auf Linien und Maßangaben auf einem Blatt Papier reduziert zu sehen. Sie spürte, wie sich ein Kloß in ihrem Hals formte.
„Es tut mir leid“, stammelte sie, als plötzlich Tränen in ihre Augen traten. „Das Haus gehörte einem verstorbenen Freund. Ich habe seinen Tod immer noch nicht vollständig verarbeitet.“
„Das war das Haus von Trevor Mann, nicht wahr?“, fragte Wayne mit sanfter Stimme.
„Ja“, erwiderte Emily, während sie sich die Tränen mit ihrem Ärmel trockentupfte. „Kannten Sie ihn?“
„Natürlich“, bestätigte Cain. „Mr. Mann war Teil des Vermessungsausschusses, weshalb wir viel mit ihm zu tun hatten. Er war schon eine Person für sich.“
An der Art, wie er sich ausdrückte, erkannte Emily, dass er Trevors schwierige Persönlichkeit nur höflich umschreiben wollte.
„Ich weiß, er war ein griesgrämiger Kauz“, sagte Emily mit einem wehmütigen Lächeln. „Am Anfang konnte er mich nicht ausstehen, doch am Ende waren wir gute Freunde.“
Die Erik-Brüder sahen sie freundlich an.
„Wir lassen die Pläne bei Ihnen“, fuhr Wayne fort. „Wenn wir später das Haus begehen, können wir darüber sprechen.“
„Vielen Dank“, erwiderte Emily, froh, dass sie und Daniel dieses Unternehmen ausgewählt hatten. Es war äußerst beruhigend zu wissen, dass die Eigentümer aus der Gegend kamen und Trevor Mann gekannt hatten. Sie errötete, als sie plötzlich die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte.
„Außerdem bin ich schwanger“, gab sie mit einem schüchternen Kichern zu. „Diese Hormone machen mich verrückt.“
Die Erik-Drillinge versicherten ihr, dass sie sich für nichts entschuldigen musste, bevor sie die Pläne daließen, damit sie und Daniel später einen Blick darauf werfen konnten, wenn sie nicht mehr so hormonal durcheinander war. Anschließend verabschiedeten sie sich.
In diesem Moment platzte Chantelle in den Raum. Yvonne musste sie nach ihrer Übernachtung bei Bailey nach Hause gebracht haben.
„Mommy!“, rief sie, während sie auf Emily zu rannte und ihr die Arme um den Hals schlang. Sie drückte Küsse auf Emilys Wangen. „Warte, warum weinst du denn?“, fragte sie und löste sich ein wenig von ihr.
Emily wischte sich die Tränen von den Wangen. „Das sind nur die Schwangerschaftshormone“, erklärte sie mit einem Flüstern und legte sich einen Finger auf die Lippen.
„Unser Geheimnis“, sagte Chantelle nickend. Dann sprang sie von Emilys Schoß. „Wann beginnt die Parade zum Memorial Day?“
Emily sah auf die Uhr. „Gleich. Sobald Daddy vom Einkaufen zurückkommt, können wir zusammen losgehen.“
Chantelle klatschte in die Hände. Sie liebte Paraden und jeden Grund, um Zeit mit ihren Freunden zu verbringen.
Emily war ebenfalls aufgeregt. Nicht nur, weil sie die Parade liebte, sondern auch, weil Amy zurzeit ihren neuen Freund Harry, den jüngeren Bruder von Daniels Freund George, in Sunset Harbor besuchte. Bisher hatte Amy ihn komplett für sich behalten, weshalb Emily immer neugieriger wurde und ihn endlich treffen wollte. Um ehrlich zu sein, hatte sie ihn erst einmal gesehen, bevor ihr Amy gesagt hatte, dass sie mit ihm ausging, und damals hatte sie ihn auch nur flüchtig getroffen. Sie konnte sich nicht einmal mehr daran erinnern, wie er aussah. Sie wusste nur, dass er recht jungenhaft gewirkt hatte. Amy konnte offensichtlich gar nicht genug von ihm bekommen, denn sie hatte ihre Beziehung geheim gehalten, genau wie zuvor mit Fraser. Amy wollte nie, dass sich äußere Einflüsse auf ihre Beziehungsentscheidungen auswirkten. Emily hatte lange gebraucht, bis sie Amy endlich dazu überredet hatte, ihr Harry vorzustellen. Dabei hatte sie sie immer wieder daran erinnert, dass sie damals Fraser nicht hatte unter die Lupe nehmen können, weshalb die ganze Sache so schlimm ausgegangen war. Schließlich hatte Amy zugestimmt, dass die Parade eine gute Gelegenheit wäre, um sich miteinander zu unterhalten, und nun war der Moment endlich gekommen, in dem Emily den Mann, der Amys Meinung über diese Kleinstadt so vollkommen verändert hatte, kennenlernen würde. Sie konnte es kaum erwarten!
Vielleicht war Harry ja der Eine für Amy?
*
Wie erwartet tummelten sich Einheimische und viele Touristen in der Stadt, um ihren Respekt für die alten Truppen zu bezeugen. Tatsächlich war sich Emily sogar sicher, dass sie Sunset Harbor noch nie so geschäftig erlebt hatte. Sie hatte das Gefühl, dass sich der Ort schon sehr verändert hatte, seit sie hierhergekommen war. Es war mittlerweile kein verschlafenes Nest mehr.
„Geht es nur mir so oder sind hier mehr Menschen als sonst?“, fragte Daniel neben ihr, während sie Hand in Hand entlangliefen.
„Ich habe gerade das Gleiche gedacht“, stimmte Emily zu, wobei sie nach Amy und Harry in der Menge Ausschau hielt.
In diesem Moment entdeckte sie Karen aus dem kleinen Supermarkt vor ihr. Zusammen gingen sie auf sie zu und als sie neben sie traten, wandte sich die Frau zu ihnen um. Sie umarmte die beiden, weil sie sich wie immer sehr freute, sie zu sehen.
„Es ist so viel los, nicht wahr?“, rief sie. Anscheinend hatte sie dasselbe gedacht.
„Mehr als sonst“, gab ihr Emily Recht.
„Das liegt an Roman Westbrook“, meinte Karen, während sie auf die andere Straßenseite deutete, wo der berühmte Sänger auf die Parade wartete. Ihre Augen glänzten vor Begeisterung, dass sich ein Popstar auf den einfachen Straßen der Stadt hier tummelte.
Roman stand inmitten seiner Sicherheitsleute, etwas, das er bisher noch nicht benötigt hatte. Emily wurde klar, dass jemand den Medien von seinem Umzug hierher erzählt haben musste, und sie war enttäuscht, dass die Presse ihm so schnell auf die Schliche gekommen war. Er hatte versucht, seinen Umzug so lange wie möglich geheim zu halten, um seine Privatsphäre zu schützen.
Emily, Chantelle und Daniel winkten ihm herzlich zu, als er sich umsah und sie erblickte. Karens Augen weiteten sich.
„Ihr seid befreundet?“, fragte sie.
Emily nickte. „Selbst berühmte Menschen sprechen mit ihren Nachbarn.“ Dann fügte sie hinzu: „Ich hoffe, dass diese Leute nicht nur hier sind, um Roman anzustarren. Es erscheint mir ein wenig…ich weiß nicht…respektlos, zu einer Ehrenparade zu kommen, nur, um einen Blick auf den eigenen Lieblingssänger zu erhaschen.“
„Das hat nichts mit Roman zu tun“, meinte Cynthia, während sie sich von ihrem Platz vor ihnen umdrehte. Irgendwie war Emily trotz Cynthias orangenem Haar entgangen, dass sie mit ihrem Sohn Jeremy vor ihnen stand.
„Mit was denn dann?“, wollte Emily wissen.
„Mit der Pension!“, rief Cynthia begeistert. „Das ist doch offensichtlich.“
Emily schüttelte den Kopf. „Das glaube ich nicht.“
Doch Cynthia ließ sich nicht davon abbringen. „Glaub mir. Nachdem Colin Magnus seinen Artikel über die Pension geschrieben hat, ist sie der große Hit in allen Reiseforen. Einige meinten sogar, dass das Wochenende des Memorial Day perfekt für ein Besuch wäre, weil die Parade immer so schön ist. Und siehe selbst, was sich daraus ergeben hat.“
Emily runzelte die Stirn, denn sie konnte immer noch nicht glauben, dass sich der Zuwachs an Zuschauern nur auf ihre bescheidene Pension zurückführen ließ. Es stimmte, dass sie seit Colins Artikel mehr Reservierungen erhalten hatte. Zusammen mit Bryony, der unglaublichen Marketingexpertin, könnte es aber vielleicht doch stimmen, dass ihre Pension eine solche Auswirkung auf die Stadt hatte.
Emily ließ die Informationen sacken und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Es schockierte sie zwar, dass ihre kleine Pension dazu beigetragen hatte, Sunset Harbor auf der Landkarte hervorzuheben, aber es fühlte sich gut an. Sie war stolz auf das, was sie geschafft hatte.
In diesem Moment erblickte Emily ein bekanntes Gesicht in der Menge. Es war Amy, die in ihrem lässigen, schwarzen Outfit umwerfend aussah. Sie hielt mit dem jungenhaft gutaussehenden Harry Händchen. Aus der Entfernung machten sie einen seltsamen Eindruck. Amy sah aus, als käme sie direkt vom Titelbild des Vogue-Magazins, wohingegen Harry bescheidener angezogen war. Trotzdem sah er wie ein Filmstar aus und Emily konnte sich vorstellen, dass die beiden in formeller Kleidung ein absolut umwerfendes Bild abgeben würden. Emily zweifelte nicht daran, dass Amy seinen Modegeschmack in nur wenigen Wochen komplett umstellen würde.
„Da sind sie“, sagte sie zu Daniel, während sie aufgeregt an seinem Ärmel zog.
Sie spürte, wie ihr Bauch vor Aufregung flatterte. Sie wusste nicht, warum, aber etwas fühlte sich diesmal anders an; die Lässigkeit, mit der Amy neben ihm stand; die öffentliche Liebesbezeugung durch das Händchenhalten, was Amy normalerweise nicht tat. Amy strahlte ein solches Glück aus, wie Emily es noch nie zuvor an ihr gesehen hatte. Ihre Begeisterung, dass Amy Harry kennengelernt hatte, wuchs sogar noch mehr.
Auf einmal bemerkte Chantelle, auf wen Emily zeigte.
„Amy!“, rief sie.
Seit der Junggesellinnenfeier hatte Chantelle offensichtlich beschlossen, dass sie Amy mochte, und ihr ehr mäßig gut verlaufenes erstes Treffen überwunden, bei dem sie Amy und Jayne für hochnäsige Frauen aus New York gehalten hatte.
Als Chantelle auf Amy zu rannte, drehte diese sich um und bückte sich gerade rechtzeitig, um Chantelle aufzufangen. Leicht überrascht richtete sie sich wieder auf und wirbelte das kleine Mädchen im Kreis herum, wobei sie es irgendwie schaffte, auf den eleganten schwarzen Stöckelschuhen das Gleichgewicht zu halten.
Daniel und Emily bahnten sich ihren Weg durch die Menge, während Amy Chantelle wieder auf die Füße stellte. Als sie neben ihr zum Stehen kamen, lief Amy sofort rot an.
Emily umarmte ihre Freundin fest. Dann, nachdem sie sich wieder gelöst hatte, fing sie ihren Blick auf und wackelte mit den Augenbrauen.
Amy errötete stark. „Em, Daniel, das ist Harry. Harry, das sind meine beste Freundin Emily und ihr Ehemann Daniel.“
Daniel schüttelte Harrys Hand. „Wir kennen uns bereits“, erklärte er. „Ich bin ein alter Freund von George.“
„Natürlich!“, meinte Harry mit vor Überraschung weit aufgerissenen Augen. „Aber das ist schon lange her.“
Daniel nickte. „Ich habe ein paar Jahre in Tennessee verbracht.“
Chantelle sah zu Harry auf und strahlte dann. „Dort habe ich auch meinen Akzent her“, warf sie ein.
Harry lächelte sie an, er war offensichtlich von ihrem Temperament eingenommen. Emily bemerkte, dass seine Finger mit denen von Amy verschränkt waren, und spürte, wie sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete.
Hinter ihnen zogen die Flaggen der Parade vorbei. Anschließend begann die dreißig Mann starke Blaskapelle mit ihren Trompeten, Hörnern und Holzblasinstrumenten den Marsch „Hail to the Spirit of Liberty“ zu spielen. Die Menge stürmte nach vorne, um einen besseren Blick zu haben.
„Kommst du oft zur Parade?“, wollte Emily von Henry wissen, als die Menschen an ihr vorbeiliefen. Sie wollte unbedingt mehr über ihn erfahren.
„Natürlich, jedes Jahr“, erwiderte Harry. „Meine Familie hat einen militärischen Hintergrund. Sowohl mütterlicherseits als auch väterlicherseits. Das bedeutet George und mir sehr viel.“
Emily wollte sich noch weiter mit ihm unterhalten, doch die Band kam immer näher und die Lautstärke schwoll weiter an. Sie verstummte und sah der Parade zu, wobei sie an all die gefallenen Männer und Frauen dachte.
Nachdem die Band vorbeigezogen war, wurde es allerdings nicht leiser, denn darauf folgte die Prozession der Feuerwehrautos, deren Glocken geschlagen wurden. Sie waren schon seltsam anzusehen, da die Gruppe nicht nur aus Feuerwehrautos bestand, sondern auch aus alten Militärpanzern, die mit ihren Rollenketten vorbeiratterten. Und gemeinsam mit der wogenden Menge entstand eine sehr laute und chaotische Atmosphäre. Emily fragte sich, ob die Überwältigung, die sie verspürte, wohl teilweise auf die Schwangerschaftshormone, die ihre Sinne verschärften, zurückzuführen war.
„Jetzt müssen wir ihnen in den Park folgen“, meinte Chantelle, während sie Emilys Hand ergriff. „Dort finden die Salutschüsse statt. Schnell! Ich will sie nicht verpassen!“
Sie zog und Emily folgte ihr. Die große Menschenmenge, die der Parade zugesehen hatte, strömte in den Park. Emily hatte das Gefühl in einem Menschenfluss, der die Straßen füllte, gefangen zu sein. In ihr stieg eine leichte Klaustrophobie auf. Das einzige, was sie auf dem Boden hielt, war Chantelles Hand, die sie fest umschossen hielt.
Sie sah sich suchend nach Daniel, Amy und Harry um und entdeckte sie schließlich im Gedränge. Harry sah Amy liebevoll an und hatte einen Arm um ihre Schultern gelegt. Sie hatte einen heiteren Ausdruck auf dem Gesicht, als ob sie sich in ihrem Glück verloren hätte. Emily lächelte wieder, als sie erkannte, dass es Amy bis über beide Ohren erwischt hatte. Sie konnte es gar nicht abwarten, Harry näher kennenzulernen, sobald der Lärm und die Hektik abgeebbt waren.
Als die Menge den Park erreicht hatte und sich verteilte, trafen die anderen wieder zu ihnen. Sie versammelten sich um eine Gruppe Militärpersonal in Uniform, deren Gewehre zum Himmel gerichtet waren. Plötzlich verspürte Emily eine gewisse Nervosität bei dem Gedanken an die lauten Schüsse. Obwohl sie wusste, dass es vollkommen sicher war, konnte sie ihre Sorge dennoch nicht unterdrücken, da sie wusste, dass es nicht mehr nur um ihre eigenen Sicherheit ging. Der starke Mutterinstinkt, ihr ungeborenes Kind zu beschützen, überflutete sie ganz unvermutet.
„Lasst uns ein wenig weiter hinten stehen“, sagte sie laut. Dabei stand sie einen Meter hinter der Menge und versuchte, rückwärts zu gehen.
„Aber ich kann nichts sehen“, beschwerte sich Chantelle. Sie sprang auf ihren Zehenspitzen auf und ab und runzelte die Stirn. Offensichtlich wollte sie näher am Ort des Geschehens sein.
„Daniel, kannst du mit ihr weiter nach vorne ghen?“, fragte Emily, die selber zu einigen Bänken stolperte. Sie klammerte sich an der Lehne einer Bank fest, um nicht durch das panische Gefühl, das sie durchströmte, umzufallen.
„Aber ich will, dass wir alle näher herangehen“, widersprach Chantelle mit weinerlicher Stimme.
Daniel kniete sich hin und sah Chantelle in die Augen. Emily hörte, wie er mit leiser Stimme sagte: „Erinnerst du dich an unser Geheimnis? Emily muss hier hinten bleiben. Deshalb kannst du entweder mit mir näher herangehen oder wir bleiben alle hier. Du kannst auf die Bank klettern oder ich nehme dich auf die Schultern, damit du besser siehst.“
Doch Chantelle ließ sich nicht überzeugen. Sie verschränkte ihre Arme und schmollte.
„Ich wusste nicht, dass wir wegen dem Baby keinen Spaß mehr haben können“, grummelte sie.
Emily versteifte sich. Nicht, weil sie Angst hatte, dass Harry und Amy zuhören könnten – sie war sich sogar sicher, dass sie Chantelles Stimme durch den Lärm nicht gehört hatten – sondern, weil sie Chantelles Stimmung nicht verderben wollte. Sie wollte nicht, dass es zwischen Chantelle und dem neuen Baby zu einer Art Wettstreit oder Feindseligkeit kam. Es war ihr sehr wichtig, dass sie eine glückliche Familie waren. Sie hoffte, dass dieser Moment nur eine kleine Startschwierigkeit war, die nicht weiter anwachsen würde.
„Chantelle“, warnte Daniel unbeeindruckt von ihrem Verhalten.
Plötzlich wurden Schüsse abgegeben. Der Lärm war unerträglich. Emily legte sich die Hände auf die Ohren, denn sie war durch die Lautstärke alarmiert und aufgeregt zugleich. Die Menge verstummte, als die explosiven Geräusche durch den Himmel krachten. Es schien, als ob die Menge in einem Zug nach Luft schnappen würde.
Dann hörten die Schüsse auf und alle begannen, zu klatschen und zu jubeln.
Amy wandte sich mit vor Begeisterung strahlenden Augen zu ihnen um. „Wow, das war fantastisch“, schwärmte sie.
Emily nickte. Sie freute sich, dass Amy die Kleinstadtparade genossen hatte. Doch sie hatte immer noch keine Gelegenheit gehabt, mit Harry zu reden, wo sie doch unbedingt mehr über ihn erfahren wollte.
„Wir sollten alle etwas Mittagessen gehen“, schlug Emily vor.
Obwohl sich ihr Magen bei dem Gedanken an Essen umdrehte, wollte sie nicht, dass Amy mit Harry davoneilte, und ihr keine Chance ließ, sich richtig mit ihm zu unterhalten.
Bei dem Vorschlag verbesserte sich Chantelles Laune schlagartig. Alle stimmten zu, dass es eine gute Idee wäre.
Als sie die Menge hinter sich ließen und die Straßen entlangschlenderten, fragte sich Emily, wie gut sie sich beherrschen konnte, um ihrer besten Freundin nichts von der Schwangerschaft zu erzählen. Doch dann erkannte sie, dass Amy es wahrscheinlich ganz von alleine erraten würde. Nicht, weil sie eine besonders gute Intuition hatte, sondern weil Emily keinen Wein mehr trinken würde. Auf einmal stieg in ihr eine Aufregung auf, als sie erkannte, dass schon bald eine Person, die sie sehr gerne hatte, von ihren Neuigkeiten erfahren würde.
Sie konnte es kaum abwarten, Amys Reaktion zu sehen.