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Die Braut, die der angehende Greis sich erkoren hatte, war die Tochter eines Professors am städtischen Gymnasium. Nach dem Tode ihres Vaters hatte sie sich in die Landeshauptstadt begeben, um dort eine Stelle als Erzieherin des Grafen Karl von Rondsperg anzutreten. Zehn Jahre hindurch wurde diese Position unter mancherlei Kämpfen siegreich von ihr behauptet. Nach dem Verlaufe jener Zeit war – wie die Gouvernante auf das bestimmteste erklärte – die Erziehung der Zöglinge vollendet. Aller Schmuck der Bildung setzte die angeborenen Vorzüge der jungen Komtessen in das hellste Licht.
Fräulein Nannette hielt in Gegenwart der gräflichen Eltern und einiger hochgeborenen Angehörigen eine kleine Rede, in der sie den Satz verfocht, daß sagen zu sollen, was hier noch zu lehren sei, ihr die größte Verlegenheit bereiten würde. Helle Freudentränen, welche über die männlichen Wangen des Vaters und über die zarten Wangen der Mutter liefen, belohnten die Spenderin einer so ehrenhaften Anerkennung. Durch den Anblick der hervorgebrachten Wirkung berauscht, ließ sich die Rednerin zu einem uneingeschränkten Lobe der opferfreudigen Unterstützung, welche ihren pädagogischen Bestrebungen von seiten des edlen Elternpaares stets zuteil geworden sei, hinreißen. Die Erschütterung aller Gemüter wurde dadurch noch erhöht; und als Fräulein Nannette mit den Worten schloß, es bleibe ihr nun nichts mehr zu tun übrig, als zu scheiden und die Erinnerung an all das genossene Gute mit sich zu nehmen, baten der Graf und die Gräfin, sie möge ihnen das Herz nicht zerreißen.
O schöne Stunde! unvergeßlicher Anblick! Alle Anwesenden umschlangen Fräulein Nannette in einer Umarmung und küßten sie auf ihren Mausmund.
Der Herr Graf aber begab sich stracks in sein Zimmer und ließ aus der Kanzlei Tinte und Papier holen. Er setzte unter dem Beistande seiner Gemahlin und des Gutsverwalters ein Diplom in die Welt, das ein Wunder war an Auffassung, Stil und pompöser Sprache. Es ließ sich kein einziger Schlußpunkt darin erblicken, die Sätze flossen ineinander und auseinander, ein Redestrom so breit, wie die Aufzählung der Tugenden, Verdienste, Vorzüge und Talente Fräulein Nannettens ihn erforderte.
Und so gestaltete sich die Abreise der plötzlich allen teuer gewordenen Hausgenossin zu einem wahren Familienfeste. Die heiligsten Schwüre ewiger Liebe und Dankbarkeit wurden ausgetauscht, und Vater, Mutter und Töchter einerseits, Fräulein Nannette andrerseits brachten es im Taumel ihrer Gefühle so weit, nicht nur zu sagen, nein, auch zu glauben, die Zeit ihres Zusammenlebens sei eine schöne und glückliche gewesen.
Die Erzieherin hatte beschlossen, ehe sie daran ging, sich einen neuen Wirkungskreis zu schaffen, einige alte Verwandte zu besuchen, die ihr im heimatlichen Städtchen noch lebten. Sie kehrte denn nach Weinberg zurück an der Spitze ihres großen Ruhmes, ihrer kleinen Pension und einiger Ersparnisse. Der Nimbus, den der jahrelang gepflogene Umgang mit vornehmen Leuten ihr verlieh, umstrahlte sie mit schier unheimlichem Glanze und imponierte besonders denen unter ihren Mitbürgern die sich für eingefleischte Demokraten hielten.
Schon einige Tage nach Nannettens Ankunft – und etwa drei Vierteljahre nach Frau Heißensteins Tode – begegneten einander auf der Promenade der reichste Sohn und die gebildetste Tochter der Stadt.
Sie drückte ihm ihre Teilnahme an seinem Verluste in Worten aus, die man so geschmackvoll gewählt noch nie vernommen hatte unter den Kastanienbäumen der städtischen Anlagen. Sie gedachte auch mit Wehmut der freundschaftlichen Beziehungen, in welchen sie in schönen Jugendtagen zu der edlen Verklärten gestanden. Ihr größtes Mitgefühl jedoch erregte die Sorge, die dem »alleinstehenden Witwer« aus dem Dasein einer Tochter erwuchs.
»O Herr Heißenstein, welche Aufgabe für Sie, dieses Dasein! Eine Aufgabe, deshalb so groß für einen Mann, weil sie eigentlich zu klein für ihn ist. Wie soll er dem erziehlichen Momente gerecht werden, das alles ist, Herr Heißenstein, alles!«
Sie legte auf dieses letzte Wort ein Gewicht, das zusammengeballt schien aus der Überzeugungskraft von tausend fanatischen Seelen, empfahl sich mit bescheidener Würde und enteilte mit so gleichmäßigen kleinen Schritten, daß es war, als rolle sie auf unsichtbaren Rädern über den Kies des Weges dahin.
Herr Heißenstein blickte ihr eine geraume Weile nach und dachte: Das erziehliche Moment, ja ja – das erziehliche Moment! Er wußte freilich nicht, was sie darunter gemeint hatte, aber die Worte prägten sich seinem Gedächtnis ein, und zugleich erwachte in ihm ein gewisser Respekt vor dem erstaunlichen Frauenzimmer, das solche Ausdrücke mir nichts, dir nichts gebrauchte, wie gewöhnliche Menschen Wasser oder Brot sagen.
Er sah sie wieder, er besuchte sie ab und zu bei ihren alten Verwandten. Die Ehrfurcht, welche von diesen dem Fräulein gezollt wurde, und die demütige Liebenswürdigkeit, mit der die Verehrte ihn behandelte, taten seinem stolzen Herzen wohl. Er gewann die Überzeugung, daß er sich im Notfalle an Nannettens spitzes Gesicht würde gewöhnen können. Leicht wurde ihm der Entschluß, sich ein zweitesmal zu verheiraten, nicht, aber er faßte ihn doch, dem Hause, dem anzuhoffenden Erben zu Ehren, dessen Mutter zu werden die über alles Lob erhabene Dame Nannette ihm gerade gut genug schien.
Feierlich trug er ihr denn eines Tages seine breite Rechte an, und sie legte ihr Pfötchen mit einer Eile hinein, die ihn fast bestürzt machte ob seines raschen Glückes. Sein Wort war kaum verpfändet, als er sich von der Ahnung ergriffen fühlte, er habe der Erhaltung seines Stammes ein schweres Opfer gebracht. Die nächste Zukunft rechtfertigte diese Befürchtung; es war ein unseliger Ehebund, den Herr Leopold mit Frau Heißenstein II. schloß. Der Mann, starr, unbeugsam, von dem Glauben an sich selbst durchdrungen; die Frau, von dem Teufel der Hofmeisterei besessen, hätte leichter auf das Atemholen als auf das Spenden guter Lehren verzichtet. Sie unterzog das Benehmen ihres Gatten, seine Art, zu gehen, zu grüßen, zu sprechen, zu essen, einer beständigen Kritik und suchte ihn in allen diesen Beziehungen durch ihre Ratschläge auf das gründlichste zu reformieren.
Der erstaunte Herr Heißenstein ließ sich dies alles eine Zeitlang ruhig gefallen, er begriff nach und nach, was sie damals gemeint haben mochte, als sie von dem »erziehlichen Momente« sprach, das »alles« sei.
Er schwieg lange, plötzlich jedoch fuhr er empor und war im Zorne so fürchterlich, daß Frau Nannette sich von dem Schrecken, den er ihr in diesem Augenblicke einflößte, nie mehr ganz erholte. Er erklärte ihr, er sei, ohne jemals »erzogen« worden zu sein, zu Vermögen, Ansehen und hohen Jahren gekommen. Er denke nicht daran, jetzt nachzuholen, was er, ohne den geringsten Schaden davon zu verspüren, in seiner Jugend versäumt habe. Der Mensch lebe nicht, dem zuliebe er auch nur eine seiner Gewohnheiten, möge sie gut oder übel sein, aufgeben wolle. Er wies sie übrigens an, ihre Erziehungskünste an seiner Tochter zu üben, dazu habe er die Gouvernante geheiratet, dazu sei sie da.
Dieser Befehl gehörte freilich zu der großen Menge derer, die leichter gegeben als befolgt werden. In ihrer Art war Rosa ebensowenig danach angetan wie ihr Herr Papa, sich einem fremden Willen zu unterwerfen. Das Kind, heimlich von Bozena unterstützt, leistete Unglaubliches an Widerstand gegen die stiefmütterliche Autorität und brachte es wirklich dahin, daß Frau Nannette gestand, es sei doch etwas an der Behauptung gewisser Materialisten und Nihilisten, die sie bisher auf Tod und Leben bekämpft hatte, es gäbe Kinder, deren unbändigem Naturell gegenüber selbst die bewährtesten, von pädagogischen Autoritäten ersten Ranges als unübertrefflich anerkannten Erziehungsmethoden sich ohnmächtig erwiesen.
Am kläglichsten jedoch scheiterten Frau Heißensteins Bemühungen, doch wenigstens in den Augen der Magd Bozena einiges Ansehen zu gewinnen. Waren Herr Leopold und seine Tochter naive Gegner, die sich nur kräftig wehrten, wenn sie angegriffen wurden, so galt es bei Bozena auf der Hut sein vor einer stets kampfbereiten, hartnäckigen Plänklerin, die auf jede Gelegenheit lauerte, die Feindseligkeiten selbst zu eröffnen. Frau Nannette war in allem, was die Leitung eines Hauswesens betrifft, unerfahren wie ein Säugling, und es gab für Bozena Veranlassungen genug, ihre Überlegenheit fühlen zu lassen, ob sie nun genau das Gegenteil einer erhaltenen Weisung mit Erfolg ins Werk setzte oder eine ungeschickte Anordnung wörtlich befolgte und dadurch die Gebieterin grausam bloßstellte.
So hatte sich die Existenz Frau Heißensteins II. recht bedauerlich gestaltet, und nicht wenig moralischer Mut gehörte dazu, um doch, wie sie es tat, vor Verwandten und Nachbarn den Schein der Zufriedenheit zu retten und an ihre ehemaligen Zöglinge regelmäßig alle Vierteljahre Briefe zu entsenden, in denen nur von Liebe zu Mann und Kind und von »Gesang der Sphären in Haus und Gemüt« die Rede war.
Endlich jedoch trat ein Umstand ein, der die Stellung Dame Nannettens in dem alten Heißensteinschen Familienneste völlig und günstig veränderte.
Bozena bemerkte mit schwer gebändigter Entrüstung, daß Herr Leopold seine Gemahlin mit Rücksicht und Aufmerksamkeit zu behandeln begann. Dinge, die bisher für ihn zu den gleichgültigsten gehört hatten, ihre Stimmung und ihr Befinden, schienen ihm wichtig geworden. »Wie geht’s der Frau?« fragte er beim Kommen; »gebt acht auf die Frau«, sagte er beim Gehen. Nur an seinem Arme durfte sie das Haus verlassen. Der mürrische Kaufmann fand Koseworte für seine Nannette, er nannte sie »seine liebwerte Oberhofmeisterin« und »seine alte graue Maus«; er empfahl Bozena und Rosa die unbedingteste Unterwerfung der geringsten Laune der Gebieterin und Mutter gegenüber und drohte, jeden Widerstandsversuch auf das unbarmherzigste zu bestrafen.
Bozena rang mit der Verzweiflung; sie verlor den Schlaf und einen Teil ihres Appetits und fegte in ihrer Küche herum wie ein Wirbelwind. Die Anzahl der Koch- und Speisegeschirre, die damals im Heißensteinschen Hause in Trümmer verwandelt wurden, erreichte eine erstaunliche Höhe. Es versteht sich von selbst, daß ein rauchender Vulkan leichter dahin zu bringen gewesen wäre, seine glühende Lava still hinabzuschlucken anstatt sie auszuwerfen, als Bozena, den Ausbruch ihres gärenden Grolls zu unterdrücken.
Nicht lange, und Herr Leopold fand eines Morgens seine Gattin und seine Magd, die erste zornesblaß, die zweite zornesrot, in einem Wortwechsel begriffen, der nur seines Sängers bedurft hätte, um unsterblich zu werden wie jener der Königinnen vor dem Dome zu Worms oder wie jener der gekrönten Schwestern im Parke zu Fotheringhay.
Der Kaufherr warf einen Blick voll Besorgnis auf seine Frau und einen ingrimmigen auf die kecke Dienerin.
»Was unterstehst du dich?!« rief er dieser zu und stürzte ihr mit erhobener Hand entgegen. Sie aber, hochaufgerichtet, den Kopf zurückgeworfen, die Arme in die Seiten gestemmt, stand wie ein Fels. Herausfordernd blickte sie ihren Herrn an, dessen stattliche Gestalt sich neben ihrer hünenhaften fast klein ausnahm, und schleuderte der Gebieterin über seinen Kopf hinweg eine niederschmetternde, in kurze Sätze zusammengefaßte und mit Kraftworten gewürzte Kritik ihrer Tätigkeit als Stiefmutter und Hausfrau zu.
Jeder Versuch, den der Kaufmann machte, Bozenas derber Beredsamkeit Einhalt zu tun, verlieh derselben nur einen höheren Schwung, der Zorn der Riesin wuchs, indem er tobte wie die flammende Lohe, vom selbsterzeugten Sturme angefacht.
Endlich raffte Heißenstein alle seine Kraft zusammen: »Hinaus, Canaille! Aus dem Zimmer – aus dem Hause – du bist entlassen!« schrie er, bei jedem Satze neu Atem holend.
Ein wildes Gelächter antwortete ihm.
»Entlassen?!« wiederholte Bozena mit grimmigem Hohne: »Nicht entlassen! … Oh – ich gehe selbst! Und gehe heut und gehe gleich!«
Der ungebändigte Hochmut der echten Plebejerin brach aus diesen Worten hervor und verkündigte jubelnd, was sie nicht aussprachen, die stolze Überzeugung: Ich gehe, und das Behagen, die Ordnung, die Wohlfahrt des Hauses nehm ich mit!
Von vorahnender Wollust der Rache berauscht, stürmte Bozena dem Ausgange zu. Sie hatte schon die Schwelle betreten, schon die Klinke erfaßt, als sie sich plötzlich am Kleide ergriffen und zurückgehalten fühlte. Ohne sich umzusehen, versuchte sie von sich zu schieben, was sie hinderte in ihrer triumphierenden Flucht. Da berührten ihre Finger seidenweiche Locken, da lag ihre Hand auf dem Haupte eines Kindes. Schmerzdurchzuckt, als hätte sie ein glühendes Eisen berührt, fuhr sie zusammen. Ein Laut, nicht Schrei, nicht Schluchzen, ein qualerpreßtes Stöhnen entrang sich den halbgeöffneten Lippen der Riesin.
»Fort, du Range!« rief sie dann, und die mächtig erwachte, zornig bekämpfte Rührung gab ihrer Stimme einen heiseren, unheimlichen Klang. Aber der hartgewöhnte Zögling Bozenas ließ sich so leicht nicht einschüchtern. Nur heftiger zerrte Rosa ihre rauhe Freundin am Gewande und wiederholte ohne Aufhören und in allen Tonarten: »Bleib! Bleib doch! Bleib bei mir!«
Und Bozena, wie ein plötzlich ohnmächtig gewordener Simson, biß die Lippen und rang die Hände. Doch gärte in ihr die aufrichtigste Wut gegen den Unband, der sich zwischen sie und ihren Sieg drängte; gegen das undankbare Geschöpf, das sich an ihr Kleid hängte und sagte: »Bleib!« – anstatt zu sagen: »Geh, befreie dich!« Oh, sie gibt nicht nach, die Rosa. Aber die Bozena noch weniger, das ist gewiß; sie reißt sich los, sie geht, ohne einen Blick auf das eigensinnige Ding zu werfen. – Täte sie’s – wer weiß, was noch geschähe? Sie tut es nicht! sie will nicht! … Und indem sie sagt: Ich will nicht – ist es geschehen.
Du grundgütiger Gott! Da steht das Kind vor ihr im Nachthemdchen mit ganz zerzausten Haaren, in denen noch ein Flaum aus dem Kissen wie eine Schneeflocke liegt, und sieht dem Bilde des Christkindleins so ähnlich, das Bozena auf dem letzten Jahrmarkte gekauft hat. – Aus dem Bette ist die Kleine gesprungen, um ihr nachzueilen, und stampft jetzt völlig ungeduldig den Boden mit ihren kleinen nackten Füßen und fragt zugleich schmollend und schmeichelnd: »Wer gibt mir heut mein Frühstück? Wer kleidet mich heut an?«
Nun war’s vorbei mit Bozenas Herrlichkeit.
»Wer heut? wer morgen? wer je?« ruft sie mit einem Ausbruch leidenschaftlicher Klage – ihr Zorn, ihr Trotz, ihre Stärke: alles dahin! Sie hebt den Schützling empor und preßt ihn mit inbrünstiger Liebe an ihre Brust. Ein letzter Kampf, und die Gewaltige beugt sich, das Kind immer in den Armen, vor der Herrin, die sie verabscheute, beinahe bis zur Erde. Zum erstenmal im Leben kam ein Wort der Versöhnung aus ihrem Munde: »Verzeihen Sie mir, Frau, verzeihen Sie mir, Herr! – Behalten Sie mich!« bettelte demütig, die sich unentbehrlich und unersetzlich wußte.
Und man behielt sie. Aber Bozena mußte das Eingeständnis, daß sie sich vom Hause Heißenstein nicht trennen konnte, teuer bezahlen. »Macht besitzen und nicht mißbrauchen ist Tugend« – Frau Nannette besaß diese Tugend nicht. Sie ersparte der überwundenen Löwin keinen Fußtritt und keinen Nadelstich. Ihre kleinlichen Nörgeleien wurden von Bozena mit Größe ertragen. Einmal zum Bewußtsein gekommen, daß sie in unzerreißbaren Fesseln lag, nahm sie die Konsequenzen ihrer Schwäche mit hochherziger Ergebung hin. Nur sehr scharfsichtige Augen merkten, daß sie leide. Ein alter Kommis des Kaufherrn, der Bozena immer mit Auszeichnung behandelte und zum Lohne dafür ein Wohlwollen genoß, welches die Schöne sonst nicht an das Männervolk verschwendete, fragte sie um diese Zeit: »Wie leben Sie?« Und sie antwortete ohne Anmut, aber mit Kraft: »Wie soll ich leben? Ich fresse Galle und saufe Tränen.«
Es kam der Tag, an dem Herr Heißenstein der Magd befahl, die Wiege vom Bodenraum herabzuholen. Bozena gehorchte schweigend, aber nachts stand sie auf, trat an das Bettchen, in dem ihr Liebling schlief und jammerte: »O du armer Wurm! Du armer Wurm, du!«
Und ein andrer Tag kam, an dem Herr Heißenstein, steif wie eine Bildsäule, im Fenster des dunkel getäfelten Speisezimmers lehnte und mit rotunterlaufenen Augen auf den großen Platz hinausstarrte. Trotz der äußeren Bewegungslosigkeit war sein ganzes Wesen in Aufruhr, er murmelte unverständliche Worte vor sich hin, und sein fahles Angesicht trug den Ausdruck der größten Spannung. Zusammengekauert auf einem der hochlehnigen Holzstühle saß Rosa. Sie hatte mehrmals versucht, sich leise aus dem Zimmer zu schleichen, und war daran ebensooft durch ein gebieterisches »Du bleibst!« das ihr der Vater zurief, verhindert worden. Sie begann sich zu fürchten vor ihm, vor der Stille, vor der hereinbrechenden Dunkelheit; sie regte sich nicht mehr, sie zählte, um sich die Angst zu vertreiben, die Gläser und Tassen auf dem altertümlichen Kredenzkasten, erst stumm, dann halbflüsternd, endlich halblaut singend nach einer selbsterfundenen Melodie.
Da wurde ein Geräusch vernehmbar, die Tür öffnete sich, und auf der Schwelle stand Bozena, ein Licht in der Hand, das ihre Züge grell beleuchtete. Ein sonderbares Gemisch von Empfindungen, von Freude und Sorge drückte sich in ihnen aus. Heißenstein war aus der Fenstervertiefung hervorgetreten an den großen Speisetisch, auf den er seine beiden flachen Hände legte. Die Knie zitterten ihm, und pfeifend entrang der Atem sich seiner Brust.
Bozena rief: »Kommen Sie, Herr! Kommen Sie!«
Er sah die Botin unverwandt und mit fragenden, erwartungsvollen Blicken an und keuchte endlich, ohne seine Stellung zu verändern: »Es ist ein Sohn – rede! – es ist ein Sohn!«
»Was – Sohn!« erwiderte Bozena – »Sie sollen kommen, der Frau geht es schlecht.«
Heißenstein richtete sich mit Gewalt empor und ging mit heftigen und doch müden Schritten auf die Magd zu.
»Aber das Kind …« rief er, »das Kind ist da – lebt?«
»Ist da – – lebt«, wiederholte sie.
»Ist ein Knabe!?« setzte er hinzu, fast schreiend in bangender Qual.
»Ist ein Mädchen«, sagte Bozena. Sie sagte es ruhig und beschwichtigend. Er jedoch, außer sich, sinnverwirrt, meinte Hohn und Schadenfreude aus ihrer Stimme klingen zu hören. Mit einer Verwünschung stürzte er auf die Verkünderin der unwillkommenen Botschaft los, stieß sie vor die Brust, daß sie taumelte, und ging – nicht zu seiner schwerkranken Frau, nicht zu dem neugeborenen Kinde, sondern zurück in sein Gemach, dessen Tür er hinter sich zuwarf und verriegelte.
Bozena war von dem unerwartet erhaltenen Schlage einen Augenblick wie betäubt; der Leuchter entsank ihr. Aber schon in der nächsten Minute hatte sie sich aufgerafft. Sie sandte ihrem Herrn ein boshaftes Gelächter nach und streckte ihrer kleinen Rosa, die auf sie zuflog, die Arme entgegen. Sie hob ihren Liebling hoch empor auf ihren mächtigen Händen und rief jauchzend: »Er hat keinen Sohn – er wird keine Tochter haben als dich – du bleibst die einzige … Die dort – sterben!« flüsterte sie liebkosend in des Kindes Ohr, »du lebst, du wirst leben – und schön und reich und glücklich sein!«