KAPITEL VIER
Als Riley den Anruf annahm, hörte sie Merediths vertraut grimmige Stimme.
„Wie verläuft Ihr Urlaub, Agentin Paige?“
Riley musste sich zusammenreißen, um nicht zu sagen:
„Bis gerade eben sehr gut.“
Stattdessen antwortete sie: „Es ist alles wunderbar. Danke der Nachfrage.“
Sie erhob sich aus ihrem Sessel und begann auf der Terrasse auf und abzugehen.
Meredith grummelte zögerlich und sagte dann…
„Hören Sie zu, wir haben einige merkwürdige Anrufe von einer Polizistin in Mississippi erhalten –– aus einem kleinen Strandstädtchen Namens Rushville. Sie arbeitet dort an einem Mordfall. Einem Bürger der Stadt wurde der Schädel mit dem Hammer eingeschlagen und…“
Meredith hielt erneut inne und sagte dann…
„Sie hat die Vermutung, dass sie es mit einem Serienmörder zu tun haben.“
„Wieso?“, wollte Riley wissen.
„Weil etwas ähnliches schon einmal in Rushville passiert ist –– vor ungefähr zehn Jahren.“
Riley runzelte überrascht die Stirn.
Sie sagte: „Das ist eine lange Zeit zwischen den Morden.“
„Ja, ich weiß“, erwiderte Meredith. „Ich habe mit ihrem Chief gesprochen, und er hat gesagt, dass an der Sache nichts nichts dran wäre. Er meinte, sie sei einfach eine Kleinstadtpolizistin, die das Abenteuer sucht. Die Sache ist aber, dass sie immer wieder anruft, und sie macht nicht gerade den Eindruck, verrückt zu sein. Vielleicht handelt es sich also doch um…“
Erneut wurde Meredith still. Riley blickte ins Innere des Hauses und sah, dass Blaine den Mädchen in der Küche eine Kleinigkeit zu Essen zubereitete. Sie sahen alle so glücklich aus.
Riley wurde beim Gedanken, den Urlaub vorzeitig beenden zu müssen, ganz elendig zumute.
Dann sagte Meredith: „Schauen Sie, ich dachte nur, falls Sie vielleicht schon zu viel vom Urlaub haben und Ihnen die Arbeit bereits fehlt, könnten Sie vielleicht runter nach Mississippi fahren und –– “
Von sich selbst ein wenig überrascht hörte Riley, wie ihre Stimme ihn scharf unterbrach.
„Nein“, sagte sie.
Es wurde wieder still in der Leitung, und Riley spürte, wie ihr Herz zu rasen begann.
Grundgütiger, dachte sie.
Ich habe Brent Meredith gerade eine Absage erteilt.
Sie konnte sich nicht daran erinnern, das jemals zuvor getan zu haben –– aus sehr gutem Grund. Meredith war bekannt dafür, eine starke Abneigung gegen das Wort ‚nein’ zu haben, insbesondere wenn es viel zu tun gab.
Riley machte sich auf eine saftige Standpauke gefasst. Stattdessen vernahm sie ein ächzendes Seufzen.
Meredith sagte: „Ja, ich hätte es eigentlich besser wissen sollen. Wahrscheinlich ist an der Sache eh nichts dran. Es tut mir leid, sollte ich Sie gestört haben. Genießen Sie den Rest Ihres Urlaubs.“
Dann hatte Meredith aufgelegt. Riley blieb auf der Terrasse stehen und starrte auf ihr Handy.
Merediths letzter Satz ging ihr nicht aus dem Kopf...
„Es tut mir leid, sollte ich Sie gestört haben.“
Das klang überhaupt nicht nach dem Chief.
Entschuldigungen jeglicher Art waren einfach nicht sein Stil.
Was war da also wirklich los?
Riley hatte das Gefühl, dass Meredith auch nicht an das glaubte, was er da eben von sich gegeben hatte...
„Wahrscheinlich ist an der Sache eh nichts dran.“
Riley hatte den Verdacht, dass irgendetwas an dem Bericht der Polizistin Merediths Interesse geweckt hatte und dass sich in ihm das nagende Gefühl, dass es da tatsächlich einen Serienmörder in Mississippi gab, festgesetzt hatte. Doch da es keine wirklichen Beweise gab, wäre es übertrieben gewesen, von Riley zu verlangen, ihren Urlaub zu unterbrechen, um den Fall zu übernehmen.
Riley starrte weiterhin auf ihr Handy und begann zu überlegen...
Sollte ich ihn vielleicht zurückrufen?
Sollte ich nach Mississippi fahren und wenigstens kurz nachsehen, was da los ist?
Sie wurde von Aprils Stimme aus ihren Gedanken gerissen.
„Und, was ist los? Ist der Urlaub vorbei?“
Riley drehte sich um und sah, dass ihre Tochter auf die Terrasse gekommen war und sie mit beleidigter Miene ansah.
„Was? Wie kommst du darauf?“, fragte Riley.
April seufzte und sagte: „Komm schon, Mom. Ich hab’ gesehen, von wem der Anruf kam. Du hast einen neuen Fall, stimmt’s?“
Riley blickte wieder zur Küche, wo Blaine und die anderen beiden Mädchen noch immer dabei waren, Snacks vorbereiteten. Doch auch Jilly warf Riley kurz einen besorgten Blick zu.
Plötzlich fragte Riley sich...
Was zur Hölle habe ich da gerade gedacht?
Sie lächelte April an und sagte...
„Nein, ich muss nirgends hin. Stell dir vor...“
Sie lächelte stolz und fuhr fort...
„Ich habe ‚nein‘ gesagt.“
Aprils Augen weiteten sich. Dann lief sie zurück in die Küche und rief den anderen laut zu...
„Hey Leute! Mom hat nein zu einem Fall gesagt!“
Die beiden anderen Mädchen begannen „Yay!“ und „Gut gemacht!“ zu schreien, und Blaine schenkte Riley einen freudigen Blick.
Die Mädchen begannen sich untereinander scherzhaft zu necken, und Jilly sagte zu ihrer Schwester...
„Ich habe es dir gesagt. Ich hab’ gesagt, dass sie ‚nein‘ sagen wird.“
April entgegnete: „Nein, hast du nicht. Du warst noch pessimistischer als ich.“
„Stimmt ja gar nicht“, behauptete Jilly. „Du schuldest mir zehn Dollar.“
„Wir haben nie darauf gewettet!“
„Doch haben wir!“
Die zwei Mädchen schubsten einander spielend und kicherten, während sie sich weiter scherzhaft zankten.
Riley lachte ebenfalls und sagte: „Ok, Kinder. Jetzt ist gut mit der Streiterei. Verderbt uns nicht den perfekten Urlaub. Lasst uns lieber etwas essen.“
Dann gesellte auch Riley sich zu der plappernden, lachenden Truppe und den zubereiteten Abendsnacks.
Während sie aßen, warfen sie und Blaine sich immer wieder liebevolle Blicke zu.
Sie waren tatsächlich ein Paar mit drei Teenagern.
Riley fragte sich...
Wann hatte ich nur das letzte Mal einen so wundervollen Abend?
*
Riley lief barfuß über den Strand. Das Morgenlicht spiegelte sich in den Wellen. Die Möwen schrien, und es wehte eine kühle, sanfte Brise.
Das wird ein schöner Tag, dachte sie.
Doch etwas stimmte nicht.
Sie brauchte einen Moment, um zu verstehen, was es war...
Ich bin ganz alleine.
Sie suchte den Strand mit Blicken ab, doch konnte weit und breit niemanden entdecken.
Wo sind sie alle hin? fragte sie sich.
Wo waren April und Jilly und Crystal?
Und wo war Blaine?
Eine merkwürdige Panik begann in ihr aufzusteigen. Gleichzeitig kam ihr ein schrecklicher Gedanke...
Vielleicht habe ich das alles nur geträumt.
Ja, vielleicht hatte es die letzte Nacht nie so gegeben.
Vielleicht war nichts von alledem passiert.
Die liebevollen Momente mit Blaine, in denen sie ihre gemeinsame Zukunft geplant hatten.
Das Lachen ihrer zwei Töchter –– und auch Crystals Lachen, die bald ihre dritte Tochter sein würde.
Das warme Gefühl der Geborgenheit und der Zugehörigkeit –– ein Gefühl, das sie ihr gesamtes Leben lang gesucht hatte, nach dem sie sich immer gesehnt hatte.
Alles nur ein Traum.
Und nun war sie allein –– genauso allein wie sie es immer in ihrem Leben gewesen war.
In diesem Moment drangen Worte und Gelächter an ihr Ohr.
Sie drehte sich um, und da waren sie...
Blaine, Crystal, April und Jilly rannten über den Sand und warfen einander einen Strandball zu.
Riley atmete auf.
Natürlich war es echt, dachte sie.
Natürlich habe ich es mir nicht nur eingebildet.
Riley lachte glücklich und begann ihnen entgegenzurennen.
Doch dann hielt sie etwas Hartes und Unsichtbares zurück.
Wie eine unsichtbare Wand schob sich dieses etwas zwischen sie und die Menschen, die sie am meisten liebte.
Riley lief die Wand ab, fuhr mit den Händen tastend über sie und dachte...
Vielleicht kann man sie irgendwie umgehen.
Dann hörte sie ein bekanntes heiseres Lachen.
„Gib’s auf, Kindchen“, sagte eine Stimme. „Dieses Leben ist nichts für dich.“
Riley drehte sich um und sah jemanden in nur wenigen Metern Entfernung vor ihr stehen.
Es war ein Mann in der Uniform eines Marine Colonels. Er war groß und schlank, sein Gesicht verbraucht und faltig von jahrelanger Wut und vom Alkoholkonsum.
Er war der allerletzte Mensch auf dieser Welt, den Riley sehen wollte.
„Daddy“, murmelte sie ernüchtert.
Er kicherte düster und sagte: „Hey, du brauchst nicht so schrecklich verbittert zu klingen. Ich dachte, du würdest dich freuen, mit deinem eigenen Fleisch und Blut endlich wiedervereint zu werden.“
„Du bist tot“, sagte Riley.
Er zuckte mit den Schultern und sagte: „Nun ja, wie du weißt, hält mich das nicht davon ab, mich ab und zu bei dir zu melden.“
Riley musste sich eingestehen, dass das der Wahrheit entsprach.
Es war nicht das erste Mal, dass sie ihren Vater seit seinem Tod letztes Jahr traf.
Und es war auch nicht das erste Mal, dass seine Anwesenheit sie verwirrte. Sie begriff nicht, wie sie mit einem Toten sprechen konnte.
Doch einer Sache war sie sich sicher.
Sie wollte nichts mit ihm zu tun haben.
Sie wollte von Menschen umgeben sein, die sie nicht in den Selbsthass trieben.
Sie drehte sich um und wollte schon weiter in Richtung von Blaine und den Mädchen laufen, die weiterhin mit dem Strandball spielten.
Doch erneut wurde sie von der unsichtbaren Wand aufgehalten.
Ihr Vater lachte. „Wie oft muss ich es dir eigentlich noch sagen? Du gehörst nicht zu ihnen.“
Riley schüttelte es am ganzen Körper –– ob vor Wut oder Trauer konnte sie nicht genau sagen.
Sie drehte sich zu ihrem Vater um und schrie...
„Lass mich in Ruhe!“
„Bist du dir sicher?“, fragte er. „Ich bin alles, was du hast. Ich bin alles, was du bist.“
Riley brummte: „Ich bin überhaupt nicht wie du. Ich weiß, was es bedeutet zu lieben und geliebt zu werden.“
Ihr Vater schüttelte den Kopf und scharrte mit den Füßen im Sand.
„Es ist nicht so, dass ich kein Mitleid hätte“, sagte er. „Es ist ein verdammt sinnloses Leben, das du da führst –– Gerechtigkeit für Menschen einzufordern, die bereits tot sind, für genau die Menschen, die keine Gerechtigkeit mehr brauchen. So wie ich in Vietnam, in einem dummen Krieg, den man nicht gewinnen konnte. Doch du hast keine Wahl, und es ist an der Zeit, dass du damit Frieden schließt. Du bist ein Jäger, genau wie ich. Ich habe dich so erzogen. Wir kennen nichts anderes –– keiner von uns beiden.“
Riley schaute ihm jetzt direkt in die Augen, so als könnte sie ihm so ihren Willen aufzwingen.
Manchmal gewann sie, wenn sie ihn zum Blinzeln brachte.
Doch heute war keiner dieser Tage.
Sie blinzelte selbst und musste den Blick abwenden.
Ihr Vater lachte höhnisch und sagte: „Ach, wenn du alleine sein willst, so sei es. Auch ich kann auf deine Gesellschaft gut und gerne verzichten.“
Er drehte sich um und lief in die andere Richtung, den Strand hinab.
Riley drehte sich um und musste mitansehen, wie auch ihre Lieben sich aufmachten, zu gehen –– April und Jilly hielten sich an der Hand, Blaine und Crystal machten sich auf ihren eigenen Weg.
Als sie begannen im morgendlichen Nebel zu verschwinden, begann Riley auf die unsichtbare Wand einzuschlagen und zu schreien...
„Kommt zurück! Bitte, kommt zurück! Ich liebe euch alle!“
Ihre Lippen bewegten sich zwar, doch kein Laut kam über sie.
*
Riley riss die Augen auf und fand sich im Bett liegend wieder.
Ein Traum, dachte sie. Ich hätte wissen müssen, dass es nur ein Traum war.
In ihren Träumen begegnete sie ihrem Vater gelegentlich.
Wie hätte sie ihn sonst sehen können, jetzt wo er tot war?
Sie brauchte einen weiteren Augenblick um zu bemerken, dass Tränen ihr über die Wangen liefen.
Die überwältigende Einsamkeit, die Isolation von den Menschen, die sie am meisten auf der Welt liebte, die warnenden Worte ihres Vaters...
„Du bist ein Jäger, genau wie ich.“
Kein Wunder, dass sie in solch einem Zustand aufgewacht war.
Sie griff nach einem Taschentuch und versuchte, ihr Schluchzen zu beruhigen. Doch auch nachdem ihr das gelungen war, wollte das Gefühl der Einsamkeit nicht weichen. Sie machte sich bewusst, dass die Kinder gleich im Zimmer nebenan waren und sie und Blaine entschieden hatten, in getrennten Zimmern zu schlafen.
Doch das half ihr jetzt auch nicht.
So ganz allein in der Dunkelheit hatte sie das Gefühl, dass alle anderen Menschen irgendwo sehr weit weg sein mussten, auf der anderen Seite der Welt.
Sie überlegte kurz, ob sie aufstehen und sich zu Blaine ins Bett schleichen sollte, aber...
Die Kinder.
Sie übernachteten in separaten Zimmern wegen der Kinder.
Sie schüttelte die Kissen neben ihrem Kopf auf und versuchte wieder einzuschlafen, doch die Gedanken konnte sie so leicht nicht abschütteln...
Ein Hammer.
Irgendjemand wurde in Mississippi mit einem Hammer ermordet.
Sie sagte sich, dass es nicht ihr Fall war, und dass sie Brent Meredith eine Absage erteilt hatte.
Doch selbst als der Schlaf sie langsam wieder überkam, ließ ein Gedanken sie noch immer nicht los...
Ein Mörder ist auf freiem Fuß.
Es gibt einen Fall, der gelöst werden muss.