»Wahrhaftig«, sprach Gregory da hochnäsig, »die Beispiele, so Sie zu wählen belieb –«
»Bitt um Verzeihung«, tat Syme grimmig, »aber ich vergaß ganz, daß wir alle und jede Konvention perhorresziert hatten.«
Und da wardst du einen brennroten Fleck gewahr auf Gregorys Stirn . . .
»Sie scheinen mir demnach nicht zu glauben«, sagte er, »daß ich, diesem Gesetz zufolge, die bürgerliche Gesellschaft umwälze?«
Syme schaute ihm dreist ins Gesicht und lächelte süß:
»Nein«, sagte er, »absolut nicht«, sagte er, »außer . . . ich meine . . . außer es wäre Ihnen ernst um Ihren Anarchismus: dann ja . . . dann . . .«
Gregorys ungeheure Glotzaugen leuchteten plötzlich wie bei einem zornigen Löwen auf – und dir mochte beinah scheinen, als ob seine rote Mähne sich sträubte.
»Sie glauben also nicht«, fuhr ein Drohen und Dräuen in seine Stimme, »daß es mir ernst um meinen Anarchismus ist?«
»Bitte?« sagte Syme.
»Mir nicht ernst um meinen Anarchismus?« schrie Gregory und ballte seine knotigen Fäuste.
»Lieber, verehrter Kollege!« sagte Syme – und verließ ihn.
Ueberrascht, aber auch voller Neugierde und Vergnügen bemerkte er da, daß Rosamond Gregory mit ihm ging.
»Mr. Syme«, sprach sie, »meinen die Leute, die so wie Sie und mein Bruder reden, meinen die oft auch wirklich, was sie sagen? Meinen Sie denn, was Sie jetzt sagen?«
Syme lächelte: »Wie meinen Sie?«
»Was meinen Sie?« fragte das Mädchen . . . und Ihre Augen waren tief . . .
»Meine teuere Miß Gregory«, sagte Syme verbindlich, »es gibt Aufrichtigkeit und es gibt Unaufrichtigkeit. Es gibt aber auch solche Aufrichtigkeit und solche – und solche Unaufrichtigkeit und andere. Wenn Sie für das Salzfaß etwa ›danke‹ sagen: meinen Sie da auch, was Sie sagen? Nein. Wenn Sie sagen: ›die Welt ist rund‹: meinen Sie da auch, was Sie sagen? Nein. Es ist allemal etwas Wahres; – aber Sie meinen es nicht. Nun denn: ein Mann wie Ihr Bruder findet zuweilen in der Tat ein Ding, das er meint. Es braucht nur ein halbwahr, viertelwahr, zehntelwahr Ding zu sein; aber dann sagt er mehr als er meint – vor lauter Meinen-müssen.«
Sie sah ihn, unter wagrecht eingestellten Brauen hervor, an. Tief und offen lag ihr Antlitz da, überschattet von dem Schatten jenes vernunftlosen Verantwortlichkeitsgefühls, das die Seele selbst des leichtfertigsten Frauenzimmers noch ausmacht: jenes Bemuttern-müssen um jeden Preis, das so alt ist wie die Welt selber.
»Ist er also wahrhaftig ein Anarchist?« fragte sie.
»Nur in jenem Sinn, von dem ich Ihnen sprach«, antwortete Syme, »oder wenn Sie lieber wollen – in jenem Unsinn.«
Sie zog die breiten Augenbrauen zusammen und sagte abrupt:
»Er würde nie wirklich Bomben schmeißen oder so was –«
Brach Syme in ein groß Lachen aus, das viel zu groß war für sein kleines einigermaßen stutzerhaftes Gesicht.
»Herr Jesus, nein!« sagte er, »es müßten denn Fruchtbonbons sein.«
Danach formte sich in den Winkeln ihres Mundes gleichfalls ein Lächeln . . . und sie erinnerte sich mit einem zwiefachen Vergnügen teils an Gregorys Ungereimtheiten, teils an sein Wohlergehen . . .
Und dann steuerte Syme mit ihr auf eine Sitzgelegenheit los, in einer Ecke des Gartens, und hub neu an, von seinen Meinungen zu verbreiten. Denn er war ein aufrichtiger Bursche, und ohngeachtet seines oberflächlichen Gebarens und Kokettierens im Grunde ein bescheidener Junge.
Und es ist immer der Bescheidene, der zuviel redet; der Hoffärtige, der überwacht sich selber viel zu sehr. Also verteidigte er die Respektabilität mit Ungestüm und manniger Uebertreibung. Und wurde hitzig im Rühmen von Nettigkeit und Anstand. Und all die Zeit schwamm Fliederduft um ihn . . . Mit einmal hörte er sehr schwach von fernher aus einer Straße, daß eine Drehorgel zu singen anhub, und es war ihm, als ob seine heroische Rede eine liebliche Weise gebar von unter oder außer der Welt her . . .
Und er sah sie an und er sang zu ihr: zu ihrem roten Haar und zu ihrem amüsierten Gesicht – minutenlang wohl. Aber dann, wie ihm einfiel, daß es doch nicht schicklich wäre an einem solchen Ort, ein Plaudergrüppchen auf so lange auszudehnen – da sprang er auf. Und ersah zu seinem Erstaunen: der ganze Garten leer. Ein jeder war längst schon gegangen, und so ging er nun selber auch – mit einer ziemlich übereilten Entschuldigung. Ging . . . als wie mit Champagnerwein im Kopf, ein Gefühl, für das er nie eine Erklärung fand . . . An all den wilden Geschehnissen, die jetzund folgen werden, hatte das Mädchen nicht den geringsten Anteil. Er sah sie auch nimmermehr wieder, ganz bis zu allem Ende all dieser seiner Erlebnisse. Und dennoch, dennoch: – auf irgendeine unbeschreibliche Weise kehrte sie ihm immer wieder, tauchte sie ihm immer und immer wieder auf, wie ein musikalisches Leitmotiv durch all die folgenden wahnsinnigen Aventüren, und die Glorie ihres seltsamlichen Haares spann sich leuchtend so wie ein roter Faden durch all den geheimnisvollen und unheimlichen Gobelin dieser Nacht. Alles was von nun an geschah, oh das war all so unwahrscheinlich, daß es gar wohl nur ein Traum hätte sein können . . .
Als Syme auf die sternhelle Straße heraustrat, fand er sie erst leer. Dann vergegenwärtigte er sich (auf eine gewisse absonderliche Manier), daß die Stille weit eher eine lebendige Stille war denn eine tote. Unmittelbar vor dem Tor, da stand eine Straßenlaterne, und ihr Strahl vergoldete das Blattwerk des Baumes, der über den Zaun hinter ihm sich herüberneigte und herausverbeugte. Und einen Schritt weit von dem Laternenpfahl, da hielt eine Gestalt, so steif und starr wie der Laternenpfahl selber. Der kühne Hut und der zweireihige Gehrock mit Schößen, die waren schwarz. Das Gesicht, steil überschattet, nicht minder dunkel. Nur eine Franse brennroten Haars in der Helle und etwas Aggressives in der Haltung, das verriet; es war der Dichter Gregory. Und hatte etwas von einem Bravo mit einer Maske über dem Gesicht, wie er mit einem Mordstahl in der Hand auf seinen Feind wartet.
Und grüßte einen immerhin bedenklichen Gruß. Worauf Syme um ein etzliches förmlicher zurückgrüßte.
»Ich hab auf Sie gewartet«, sagte Gregory, »könnte ich Sie in einer Angelegenheit sprechen?«
»Gewiß . . . In welcher?« fragte Syme ein wenig erstaunt.
Gregory schlug mit seinem Spazierstock erst gegen den Laternenpfosten und dann gegen den Baum.
»In dieser und in dieser da«, schrie er; »über Gesellschaftsordnung und über Anarchismus. Das da, das ist Ihre unschätzbare Ordnung: diese schiefe eiserne Funsel, diese ekelhafte blöde Latichte. Und das da, das ist die Anarchie: reich, strotzend von Leben, die sich selbst erzeugt – das ist die Anarchie, strahlend in Grün und Gold.«
»Genau so ist es«, antwortete Syme geruhig, »genau wie jetzt –: Sie sehen den Baum nur durch das Licht der Laterne. Und ich müßte mich sehr wundern, wenn Sie jemals die Laterne durch das Licht des Baumes sehen würden.« Und dann nach einer Pause sagte er noch: »Aber darf ich fragen, ob Sie hier heraußen im Dunkeln einzig gestanden haben, um unsere kleine Auseinandersetzung wieder aufzunehmen?«
»Nein!« rief Gregory aus – und seine Stimme läutete die halbe Straße hinab, »ich hab weiß Gott nicht hier gestanden, nur um unsere Auseinandersetzung wieder aufzunehmen – sondern um sie für alle Zeit und in Ewigkeit zu enden!« Stille fiel wieder ein. Und obschon Syme nichts von allem begreifen konnte, witterte er doch instinktiv etwas Ernsthaftes. Gregory hub nun an in sanftmütigen Tönen und mit einem beinahe verführerischen Lächeln.
»Mr. Syme«, sagte er, »Ihnen glückte heute abend bei mir etwas ziemlich . . . Merkwürdiges. Etwas . . . das bislang noch keinem aus einem Weibe Geborenen mit mir glückte.«
»Wahrhaftig!«
»Doch! Nun erinnere ich mich«, resümierte Gregory nachdenklich, »einem vor Ihnen, dem glückte es gleichfalls schon. Und das war . . . und das war der Kapitän eines Sechserfährbootes (wenn ich mich recht erinnere) in Südend. Sie haben mich, Sie haben mich . . . gereizt.«
»Tut mir ungemein leid«, erwiderte Syme würdig. »Und ich fürchte und ich muß sehr fürchten, daß ich viel zu schwer beleidigt bin, als daß eine bloße Entschuldigung die Sache abzuwaschen vermöchte«, sprach Gregory geruhig. »Und auch kein Zweikampf wäre da Genugtuung genug. Es ist nur ein Weg, den Insult auszutilgen, und diesen Weg wähle ich. Ich werde . . . und werde dabei womöglich mein Leben und meine Ehre zu Opfern bringen müssen . . . ich werde Ihnen beweisen, daß Sie unrecht hatten mit dem, was Sie sagten!«
»Was sagte ich?«
»Sie sagten, daß es mir nicht ernst um meinen Anarchismus wäre.«
»Es kann einem so und so ernst um etwas sein. Es gibt verschiedene Grade. Es gibt Nüancen«, erwiderte Syme. »Ich habe niemals gezweifelt, daß Sie es restlos ehrlich meinten, insofern als Sie dachten: was Sie sagten, das sei wohl wert, daß Sie es sagten . . . daß Sie dachten: ein Paradoxon vermag einen Menschen aufzurütteln zu neuer Erkenntnis einer längst geringgeschätzten, verachteten Wahrheit.«
Gregory blickte ihn fest und schmerzlich an.
»Und aber anders als so«, fragte er, »halten Sie mich nicht für ernst? Sie glauben also, ich wäre der flâneur, der gelegentliche Wahrheiten fallen läßt? Sie glauben absolut nicht, daß ich es in einem tieferen, in einem tödlicheren Sinn ernst meinen könnte?«
Syme stieß hart mit dem Spazierstock auf die Pflastersteine.
»Ernst – ernst!« schrie er. »Herr Jesus, Herr Jesus! Ist am Ende diese Straße ernst? Sind am Ende diese verdammten chinesischen Papierlaternen ernst? Ja, ist denn der ganze Klimbim ernst? Da kommt man hierher und redet seinen Stiefel zusammen – und das so gut, als man es eben vermag . . . aber das muß ich denn doch sagen, daß ich verflucht wenig von einem Menschen halten würde, der als Bodensatz seiner Seele nicht etwas Ernsteres zurückbehielte als all den Quatsch – etwas Ernsteres, sei es nun Religion oder ein guter Tropfen.«
»Ausgezeichnet«, sagte Gregory, und sein Antlitz verfinsterte sich, »so sollen Sie denn etwas Ernsteres erleben, Ernsteres als ein guter Tropfen oder Religion!«
Und Syme stand wartend – mild dreinschauend wie gewöhnlich – bis daß Gregory neu den Mund auftat.
»Sie sprachen gradeben von Religion. Ist es tatsächlich wahr, daß Sie Religion haben?«
»Oh«, sagte Syme und lächelte strahlend, »wir sind heutzutage alle gute Katholiken.«
»Dann frage ich, ob Sie mir bei was immer für Göttern oder Heiligenmännern Ihrer Religion schwören wollen: daß Sie das, was ich Ihnen nun anvertrauen werde, keiner Menschenseele und insonders nicht der Polizei verraten? Wollen Sie mir schwören? Wenn Sie zu solcher entsetzlicher Selbstverleugnung imstande sind, wenn Sie bereit sind, Ihre Seele mit einem Schwur zu belasten, den Sie nimmer schwören sollten, und mit einem Wissen, das Sie sich nicht hätten träumen lassen: dann versprech ich Ihnen meinerseits . . .«
»Sie mir Ihrerseits?« forschte Syme, als der andere innehielt.
»– – dann versprech ich Ihnen meinerseits einen ungemein unterhaltlichen Abend.«
Da zog Syme eilends seinen Hut.
»Ihre Einladung«, sagte er, »ist viel zu wahnsinnig, als daß man sie ablehnen könnte. Sie sagen, ein Dichter sei alleweil ein Anarchist. Ich widerspreche dem; aber ich hoffe zumindest, daß er ein sportsman ist. Gestatten Sie also, hier und jetzund, daß ich Ihnen als Christ zuschwöre und als guter Kamerad und als Dichterkollege feierlich verspreche: von all diesem, was es auch sein möge, niemals etwas . . . nie, nie irgendetwas der Polizei zu verraten. Und nun, sagen Sie mir in drei Teufels Namen, was ist es?«
»Ich denke«, sagte Gregory mit liebenswürdiger Selbstverständlichkeit, »daß wir einen Fiaker rufen werden.«
Er pfiff zwei lange Pfiffe, und ein Kabriolett kam ratternd den Weg daher. Die zwei stiegen stillschweigend ein. Gregory gab durch die Wagenklappe die Adresse an: einer obskuren Kneipe am Chiswickdammufer. Das Kabriolett rollte eilends dahin . . . und somit verließen zwei Phantasten ihre phantastische Vorstadt.