KAPITEL VIER
Als Riley ihr Haus betrat, erschien ihr die Leere, die dort herrschte, unheimlich.
„Ich bin zuhause”, rief sie.
Niemand antwortete.
Wo sind denn alle? Ihre Sorge schlug in Panik um.
War es möglich, dass Shane Hatcher sich an den Sicherheitsvorkehrungen vorbeigeschlichen hatte?
Riley fiel es schwer, nicht daran zu denken, was passiert sein könnte, wenn dem so wäre. Ihr Puls und ihr Atem beschleunigen sich als sie zum Familienzimmer eilte.
Alle drei Kinder—April, Liam, und Jilly—waren dort. April und Liam spielten Schach und Jilly ein Videospiel.
„Habt ihr mich gar nicht gehört?” fragte sie.
Alle drei schauten sie mit leerem Blick an. Offensichtlich hatten sie sich alle sehr auf ihre Tätigkeiten konzentriert.
Sie wollte gerade fragen, wo Gabriela war, als sie die Stimme ihrer Haushaltshilfe hinter sich hörte
„Sind Sie zuhause, Señora Riley? Ich war unten und dachte, ich hörte Sie nach hause kommen.”
Riley lächelte die kräftige Frau aus Guatemala an.
„Ja, ich bin gerade erst zur Tür reingekommen”, sagte sie, und das Atmen schien ihr schon leichter.
Mit einem begrüßenden Nicken und einem Lächeln drehte sich Gabriela auf dem Absatz um und lief in Richtung Küche.
April blickte von ihrem Spiel mit Liam auf.
„Ist alles okay, Mama? Du siehst irgendwie beunruhigt aus.”
„Mir geht es gut”, sagte Riley.
April widmete ihre Aufmerksamkeit wieder dem Spiel.
Riley staunte für einen Moment, wie erwachsen ihre fünfzehnjährige Tochter wirkte. April war schmal, groß und dunkelhaarig, und sie hatte Rileys nußbraune Augen. In den letzten Monaten hatte April mehr lebensbedrohliche Gefahren überstanden, als es andere Menschen in ihrem ganzen Leben mussten. Dennoch schien es ihr momentan sehr gut zu gehen.
Riley schaute zu Jilly hinüber, einem kleineren Mädchen mit olivfarbener Haut und großen dunklen Augen. Riley war dabei, sie zu adoptieren. In diesem Moment saß Jilly vor einem großen Bildschirm und jagte Bösewichte in die Luft. Riley runzelte ein wenig die Stirn. Sie mochte keine gewalttätigen Videospiele. Ihrem Verständnis nach stellen sie Gewalt, insbesondere Schießereien, sowohl zu attraktiv, als auch zu sauber dar. Sie glaubte, dass sie insbesondere auf Jungs einen schlechten Einfluss ausübten.
Dennoch vermutete Riley, dass diese Spiele im Vergleich zu Jillys persönlichen Erfahrungen eher harmlos waren. Immerhin hatte diese Dreizehnjährige sehr reale Schrecken überlebt. Als Riley Jilly fand, hatte sie aus lauter Verzweiflung versucht, ihren Körper zu verkaufen. Dank Riley hatte Jilly jetzt die Chance auf ein besseres Leben.
Liam schaute vom Schachbrett auf.
„Hey, Riley. ich habe mich gefragt …”
Er zögerte bevor er die Frage stellte.
Liam war der Neuzugang im Haus. Riley plante nicht, den großen schlaksigen Jungen mit den roten Haaren und blauen Augen zu adoptieren. Sie hatten ihn allerdings vor seinem betrunkenen Vater gerettet, der ihr verprügelt hatte. Er brauchte einen Platz zum Wohnen.
„Was ist los, Liam?” fragte Riley.
„Wäre es in Ordnung, wenn ich morgen zu einem Schachturnier ginge?”
„Darf ich auch gehen?” fragte April.
Riley musste erneut lächeln. Liam und April waren miteinander ausgegangen als Liam hier unten in das Familienzimmer gezogen waren, doch sie hatten ihr versprochen, die Beziehung bis auf weiteres auszusetzen. Sie sollten hermanos solamente sein, wie Gabriela es ausdrückte—Bruder und Schwester, sonst nichts.
Riley mochte Liam, auch wegen des positiven Einflusses, den dieser kluge Junge auf April hatte. Er hatte Aprils Interesse an Schach, Fremdsprachen und Schularbeiten im allgemeinen geweckt.
„Natürlich, ihr dürft beide gehen.” sagte sie.
Doch schon fühlte sie, wie die Sorge sie wieder einholte. Sie kramte ihr Handy hervor, fand einige Fotos von Shane Hatcher und zeigte sie allen drei Kindern.
„Doch ihr müsst mir versprechen, euch vor Shane Hatcher in Acht zunehmen”, sagte sie. “Ihr habt die Fotos auf euren eigenen Telefonen. Erinnert euch immer genau daran, wie er aussieht. Kontaktiert mich sofort, falls ihr jemanden seht, der ihm auch nur im Entferntesten ähnlich sieht.”
Liam und April schauten Riley überrascht an.
„Das hast du uns alles schon einmal gesagt”, sagte Jilly. „Und diese Bilder haben wir uns auch schon tausend Mal angesehen. Ist irgendetwas passiert?”
Riley zögerte einen Moment. Sie wollte den Kindern keine Angst machen. Doch sie dachte, es sei besser, sei zu warnen.
„Vor einer Weile bekam ich eine Nachricht von Hatcher”, sagte sie. „Es war …”
Sie zögerte erneut.
„Es war eine Drohung. Deswegen möchte ich, dass ihr besonders vorsichtig seid.”
Zu Rileys Überraschung grinste Jilly sie an.
„Bedeute das etwas, dass wir nach den Frühjahrsferien nicht in die Schule müssen?” fragte sie
Riley war verblüfft über Jillys Unbekümmertheit. Für einen kurzen Moment fragte sie sich, ob Jilly vielleicht recht hatte. Sollte sie die Kindern von der Schule fern halten? Und sollten Liam und April morgen nicht zu dem Schachturnier gehen?
Bevor sie zu einem Entschluss kommen konnte, sagte April: “Sei nicht dumm, Jilly. Natürlich werden wir weiterhin in die Schule gehen. Wir können doch nicht einfach aufhören, unser Leben weiterzuleben.”
Und während sie sich zu Riley umdrehte, fügte April hinzu, „Es ist keine wirkliche Bedrohung. Selbst ich weiß das. Erinnert ihr euch daran, was im Januar passiert ist?”
Riley erinnerte sich nur zu gut. Hatcher hatte April und Rileys Ex-Mann Ryan vor einem Mörder gerettet, der sich an Riley hatte rächen wollen. Sie erinnerte sich auch daran, wie Shane Hatcher ihr den Mörder gefesselt und geknebelt ausgeliefert hatte, so dass sie nach ihrem Belieben mit ihm verfahren konnte.
April fuhr fort, „Hatcher würde uns nichts tun. Er hat viel auf sich genommen, um mich zu retten.”
Vielleicht lag April gar nicht so falsch, dachte Riley. Zumindest was sie und die anderen beiden Kinder betraf. Dennoch war sie froh, dass die FBI Agenten vor dem Haus stationiert waren.
April zuckte mit den Schultern und sagte, „Das Leben geht weiter. Wir müssen alle dort weitermachen, wo wir aufgehört haben.”
Jilly sagte, „Das gilt auch für dich, Mama. Es ist gut, dass du früher nach hause gekommen bist. So hast du reichlich Zeit, dich für heute Abend fertig zu machen.”
Für eine Sekunde konnte sich Riley nicht erinnern, was Jilly meinte.
Dann kehrte die Erinnerung zurück—heute Abend hatte sie eine Verabredung mit ihrem attraktiven ehemaligen Nachbarn, Blaine Hildreth. Blaine gehörte eines der schönsten ungezwungenen Restaurants von Fredericksburg. Der Plan war, dass er vorbeikäme, Riley abholte und sie zu einem wunderbaren Abendessen einlud.
April sprang auf die Füße.
„Hey, das stimmt!” sagte sie. „Komm schon, Mama. Lass uns hoch gehen, dann helfe ich dir, etwas zum Anziehen auszusuchen.”
*
Später am Abend saß Riley auf der kerzenerleuchteten Veranda von Blaines Restaurant, genoß das wundervolle Wetter, exzellente Essen und die charmante Begleitung. Ihr gegenüber am Tisch sitzend machte Blaine wie immer eine gute Figur. Er war nur wenig jünger als Riley, schlank und fit, mit einem leicht rückläufigen Haaransatz über den er sich keine Gedanken zu machen schien
Riley fand zudem, dass man sich sehr gut mit ihm unterhalten konnte. Während die eine vorzügliche Hühnchen-Rosmarin Pasta zum Abendessen aßen, unterhielten sie sich über die neusten Vorkommnisse, Erinnerungen an längst vergangene Zeiten, Reisen und alles, was in Fredericksburg sonst noch so los war.
Riley war erfreut, dass das Thema nicht einmal auf ihre Arbeit am BAU kam. Sie war nicht in der Stimmung, auch nur daran zu denken. Blaine schien dies zu spüren, und das Thema zu vermeiden. Was Riley besonders an ihm mochte, war wie sensibel er auf ihre Stimmung einging.
Tatsächlich gab es wenig, das Riley an Blaine nicht gefiel. Es stimmte, vor einiger Zeit hatten sie eine kleine Auseinandersetzung gehabt. Blaine hatte versucht, Riley mit einer Freundin eifersüchtig zu machen, und es war ihm ein bisschen zu gut gelungen. Jetzt konnten sie beide darüber lachen, wie kindisch sie sich verhalten hatten.
Vielleicht lag es auch am Wein, doch Riley fühlte sich warm und entspannt. Blaine war angenehme Begleitung—frisch geschieden, wie Riley, und drauf bedacht, sein Leben weiterzuleben, auch wenn er nicht ganz wusste, wie.
Endlich kam der Nachtisch—Rileys Lieblingssüßspeise, Himbeer-Cheesecake. Sie musste lächeln, als sie sich daran erinnerte, wie April Blaine vor einer früheren Verabredung heimlich angerufen hatte, um ihn auf Dinge hinzuweisen, die sie mochte, wie Himbeer-Cheesecake und ihr Lieblingslied—„One More Night” von Phil Collins.
Während sie den Cheesecake genoß, sprach Riley von ihren Kindern, vor allem darüber, wie Liam sich eingewöhnte.
„Zuerst habe ich mir etwas Sorgen gemacht”, gab sie zu. “Doch er ist ein furchtbar guter Junge, und wir alle lieben es, wenn er zuhause ist.”
Riley hielt einen Moment inne. Es war ein angenehmer Luxus, mit jemandem über ihre häuslichen Zweifel und Sorgen reden zu können. „Blaine, ich weiß nicht, was ich auf Dauer mit Liam anfangen soll. Ich kann ihn einfach nicht zu diesem versoffenen Kerl von einem Vater zurückschicken und nur Gott weiß, was aus seiner Mutter geworden ist. Doch ich wüsste nicht, wie ich ihn offiziell adoptieren könnte. Jilly aufzunehmen war bisher sehr kompliziert, und es ist nicht nichts in trockenen Tüchern. Ich weiß nicht, ob ich das noch einmal durchstehe.”
Blaine lächelte sie voller Zuneigung an.
„Lass die Dinge auf dich zukommen, würde ich sagen,” schlug er vor. „Und was auch immer du tust, für ihn wird es das Beste sein.”
Riley schüttelte traurig ihren Kopf.
„Ich wünschte, ich wäre mir da so sicher”, sagte sie.
Blaine griff über den Tisch nach ihrer Hand.
„Also, ich gebe dir mein Wort”, sagte er. „Was du bisher für Liam und Jilly getan hast, war wunderbar und großzügig. Dafür bewundere ich dich sehr.”
Riley fühlte einen Klos in ihrer Kehle. Wie oft sagte ihr schon jemand so etwas? Sie war schon oft für ihre Arbeit am BAU gelobt worden und hatte kürzlich eine Auszeichnung für ihre Ausdauer gewonnen. Doch war sie es nicht gewohnt, für ihre Menschlichkeit gelobt zu werden. Sie wusste kaum, wie sie damit umgehen sollte.
Dann sagte Blaine, „Du bist eine tolle Frau, Riley Paige.”
Riley fühlte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Sie lachte nervös und wischte sie weg.
„Oh, schau, was du angerichtet hast”, sagte sie. „Wegen dir weine ich.”
Blaine zuckte mit den Schultern und sein Lächeln wurde noch breiter.
„Verzeih mir. Ich versuche bloß, brutal ehrlich zu sein. Die Wahrheit tut manchmal weh, denke ich.”
Für ein paar Minuten lachten sie gemeinsam.
Schließlich sagte Riley, „Ich habe mich noch gar nicht nach deiner Tochter erkundigt. Wie geht es Crystal?”
Blaine schaute mit einem wehmütigen Lächeln zur Seite.
„Crystal geht es sehr gut—gute Noten, zufrieden und fröhlich. Sie ist über die Frühjahrsferien mit ihren Cousinen und meiner Schwester an den Strand gefahren.”
Blaine seufzte ein wenig. „Sie ist erst ein paar Tage weg, es ist unglaublich, wie schnell ich sie vermisse.”
Es war alles, was Riley tun konnte, um nicht erneut zu weinen. Sie hatte immer gewusst, dass Blaine ein wundervoller Vater war. Wie es wohl wäre, in einer festen Beziehung mit ihm zu leben?
Vorsicht, beschwichtigte sie sich. Lass es uns langsam angehen.
In der Zwischenzeit hatte sie ihren Himbeer-Cheesecake fast aufgegessen.
„Danke, Blaine”, sagte sie. „Ich hatte so einen schönen Abend.”
Sie schaute ihm in die Augen und fügte hinzu, „Es ist schade, dass er vorbeigeht.”
Blaine drückte ihre Hand und schaute ihr ebenfalls tief in die Augen.
„Wer sagt denn, dass er enden muss?” fragte er.
Riley lächelte. Sie wusste, ihr Lächeln genügte, seine Frage zu beantworten.
Warum hätte der Abend hier auch enden sollen? Das FBI bewachte ihre Familie und kein neuer Mörder beanspruchte ihre Aufmerksamkeit.
Vielleicht war es an der Zeit, dass sie sich amüsierte.