Kapitel 3-1

2037 Words
Kapitel 33 Jeden Samstag von vier bis sechs Uhr hielt Frau Desforges für ihre nächsten Bekannten eine Tasse Tee und etwas Gebäck bereit. Ihre Wohnung lag im dritten Stock an der Ecke Rue de Rivoli und Rue d'Alger; die Fenster der beiden Salons gingen auf die Tuilerien hinaus. Diesen Samstag war auch Mouret gekommen; als der Diener ihn in den großen Salon führen wollte, sah er durch eine offene Tür Frau Desforges gerade in den kleinen Salon gehen. Sie blieb stehen, als sie ihn bemerkte, er trat bei ihr ein und begrüßte sie sehr förmlich. Als der Diener aber die Tür geschlossen hatte, ergriff er lebhaft die Hand der jungen Frau und küßte sie zärtlich. »Gib acht, es ist schon jemand da!« flüsterte sie und deutete auf die Tür des großen Salons. »Ich wollte nur diesen Fächer holen, um ihn den Damen zu zeigen.« Allein er behielt ihre Hand in der seinen und fragte: »Wird er kommen?« »Sicher«, erwiderte sie; »er hat es mir versprochen.« Sie sprachen von Baron Hartmann, dem Direktor der Immobilienbank. Frau Desforges, Tochter eines Staatsrates, war die Witwe eines Börsenspekulanten, der ihr ein Vermögen hinterlassen hatte, das von den einen überschätzt, von anderen ganz geleugnet wurde. Man erzählte sich, daß sie noch bei Lebzeiten ihres Gatten sich Baron Hartmann gegenüber recht erkenntlich gezeigt habe, da seine finanziellen Ratschläge dem Ehepaar Desforges vielfach nützlich gewesen seien. Später, nach dem Tode des Gatten, hatte das Verhältnis weiterbestanden, aber immer ganz im verschwiegenen, ohne jede Unklugheit, ohne Aufsehen. Frau Desforges vermied es, Gegenstand irgendwelchen Geredes zu werden, und war darum auch in den besseren Bürgerkreisen, denen sie entstammte, gern gesehen. Selbst heute noch, da die Leidenschaft des Bankiers, eines feinfühligen Mannes, sich in väterliches Wohlwollen gewandelt hatte – selbst heute noch bewies sie, wenn sie sich Liebhaber hielt, was er stillschweigend duldete, bei ihren Herzensromanen einen so feinen Sinn für gesellschaftliches Maß, daß der Schein stets gewahrt blieb und niemand es gewagt hätte, laut an ihrer Ehrbarkeit zu zweifeln. Sie war Mouret bei gemeinsamen Bekannten begegnet und hatte ihn anfangs kaum beachtet; später hatte sie, von seinen heftigen Liebeswerbungen überwunden, sich ihm hingegeben; und während es ihm offenbar immer mehr darum zu tun war, durch sie den Baron auf seine Seite zu bringen, faßte sie allmählich eine wahre und tiefe Leidenschaft für ihn. Sie liebte ihn mit der Glut der fünfunddreißigjährigen Frau, die nur neunundzwanzig Jahre eingesteht und in fortwährender Angst lebt, den weit jüngeren Geliebten zu verlieren. »Ist er bereits informiert?« fragte Mouret wieder. »Nein, Sie müssen ihm die Sache selbst erklären«, sagte Frau Desforges, ihn diesmal nicht duzend. Sie schaute ihn an und dachte, er müsse doch recht ahnungslos sein, da er ihr eine solche Rolle dem Baron gegenüber zuwies, in dem er offenbar nur einen alten Freund seiner Geliebten sah. Mouret hielt noch immer ihre Hand, nannte sie seine gute Henriette, und sie fühlte ihr Herz weich werden. Sie bot ihm stumm die Lippen; dann flüsterte sie: »Still! Sie warten auf mich … Lassen Sie mich vorausgehen.« Aus dem großen Salon drangen leise Stimmen, noch gedämpft durch die Vorhänge und Teppiche. Sie öffnete die Tür, ließ beide Flügel offen und reichte den Fächer einer der vier Damen, die in der Mitte des Salons saßen. »Da haben Sie ihn; ich konnte ihn erst nicht finden.« Dann wandte sie sich um und fügte mit heiterer Miene hinzu: »Kommen Sie, Herr Mouret, gehen Sie durch den kleinen Salon; das ist weniger feierlich.« Mouret begrüßte die Damen, die er sämtlich kannte. »Gar nicht übel, diese Chantillyspitze!« rief Frau Bourdelais, die den Fächer in der Hand hatte. Sie war eine kleine, blonde Frau von dreißig Jahren, mit einer schmalen Nase und lebhaften Augen, eine Schulfreundin Henriettes; ihr Mann war Abteilungsleiter im Finanzministerium. Sie entstammte einer alten bürgerlichen Familie, versah ihr Hauswesen selbst und erzog ihre drei Kinder mit Rührigkeit und Anmut, zugleich mit einem ungewöhnlichen Sinn für alles Praktische. »Fünfundzwanzig Franken hast du für die Spitzen gezahlt?« fragte sie weiter, während sie jede Masche sorgfältig prüfte. »Und du sagst, du hast sie in Luc gekauft, von einer Arbeiterin aus der Gegend? … Das ist nicht teuer. Aber du hast doch auch den Fächer dazu arbeiten lassen?!« »Gewiß«, erwiderte Frau Desforges. »Das kostete zweihundert Franken.« Frau Bourdelais lachte. Das nannte Henriette einen günstigen Kauf! Zweihundert Franken für eine einfache Elfenbeinarbeit mit Namenszug! Für hundertzwanzig Franken konnte man so etwas fix und fertig kaufen! Inzwischen ging der Fächer von Hand zu Hand. Frau Guibal würdigte ihn kaum eines Blickes. Sie war eine große, hagere Frau mit rötlichen Haaren; in ihrem gleichgültigen Gesicht saßen zwei graue Augen, aus denen die krasse Selbstsucht funkelte. Man sah sie niemals in der Gesellschaft ihres Mannes, eines bekannten Rechtsanwaltes, der, wie man sich erzählte, auch seinerseits ein freies Leben voller Vergnügungen führte. »Oh«, flüsterte sie und gab den Fächer an Frau von Boves weiter, »ich habe in meinem Leben keine zwei Fächer gekauft; man bekommt ohnedies mehr als genug geschenkt.« Die Gräfin erwiderte mit feinem Sport: »Sie können sich glücklich schätzen, meine Teure, daß Sie einen so galanten Gatten haben.« Frau von Boves, in Begleitung ihrer erwachsenen Tochter Blanche erschienen, hatte die Vierzig hinter sich. Sie war eine gute Erscheinung mit einem vollen, regelmäßigen Gesicht und großen, schmachtenden Augen. Unvermittelt wandte sie sich an Mouret: »Sagen Sie uns doch Ihre Meinung: Ist das zu teuer, zweihundert Franken für das Gestell?« Mouret stand unter den fünf Frauen und lächelte beifällig zu allem, was sie interessierte. Er nahm den Fächer in die Hand, besichtigte ihn eine Weile und war eben im Begriff zu antworten, als der Diener die Tür öffnete und meldete: »Frau Marty!« Eine magere, häßliche, blatternarbige, mit auffallend gesuchter Eleganz gekleidete Frau trat ein. Ihr Alter war schwer zu bestimmen; ihre fünfunddreißig Jahre konnten ebensogut für dreißig wie für vierzig gelten, je nachdem wie sie sich gerade gab. An ihrer rechten Hand hing eine rote Ledertasche, die sie nicht ablegen wollte. »Verzeihen Sie, teuerste gnädige Frau, daß ich mit meiner Tasche eintrete«, sagte sie zu Frau Desforges. »Denken Sie sich: auf dem Weg zu Ihnen bin ich einen Augenblick ins ›Paradies der Damen‹ hineingegangen, und wieder einmal habe ich mich zu allerlei Torheiten verleiten lassen.« Als sie Mourets Anwesenheit bemerkte, fuhr sie lachend fort: »Ich sagte das nicht, um für Sie Reklame zu machen, denn ich wußte nicht, daß Sie hier sind… . Sie haben jetzt wirklich ganz außerordentlich schöne Spitzen.« Man kannte Frau Marty und ihren Hang zum Geldausgeben; man wußte, daß sie keiner Versuchung widerstehen konnte. Sie war von strengster Ehrbarkeit, unnahbar für jeden fremden Mann, dagegen weich und haltlos vor dem winzigsten Endchen Stoff. Sie war die Tochter eines kleinen Beamten und ruinierte jetzt ihren Gatten, einen Lehrer am Bonaparte-Gymnasium, der sein Gehalt von sechstausend Franken durch Privatstunden verdoppeln mußte, um den fortwährend wachsenden Anforderungen seines Haushalts genügen zu können. Ohne ihre Tasche zu öffnen, begann sie von ihrer vierzehnjährigen Tochter Valentine zu sprechen, der kostspieligsten Ausgeburt ihrer eigenen Gefallsucht. Sie kleidete sie wie sich selbst in allen Einzelheiten nach der neuesten Mode. »Sie wissen doch, im Augenblick werden die Kleider der jungen Mädchen mit Spitzen garniert«, sagte sie. »Und als ich da eine recht hübsche Valenciennesspitze sah … « Angesichts der allgemeinen Neugierde entschloß sie sich endlich, die Tasche zu öffnen. Die Damen reckten die Hälse, um besser zu sehen. Da vernahm man inmitten erwartungsvollen Schweigens die Klingel im Vorzimmer. »Das ist mein Mann«, sagte Frau Marty sehr verlegen. »Er sollte mich nach der Schule hier abholen.« Sie hatte ihre Tasche rasch wieder geschlossen und mit einer unwillkürlichen Bewegung unter den Sessel geschoben. Die Damen lachten. Sie errötete über ihre Hast, nahm die Tasche wieder auf ihre Knie und meinte, die Männer verstünden so manches nicht und brauchten auch nicht alles zu wissen. »Herr von Boves, Herr von Vallagnosc«, meldete der Diener. Das gab eine allgemeine Überraschung. Frau von Boves hatte nicht damit gerechnet, ihren Gatten hier zu treffen. Herr von Boves, ein gutaussehender Mann mit Schnurr- und Knebelbart und vornehmer, militärischer Haltung, in den Tuilerien sehr beliebt, küßte Frau Desforges die Hand. Dann trat er beiseite, damit sein Begleiter, ein großer, etwas verlebter junger Mann von vornehmem Auftreten, die Dame des Hauses begrüßen könne. Aber kaum war das Gespräch wieder etwas in Fluß geraten, als zwei Ausrufe ertönten: »Wie, du bist's, Paul!« »Schau an, Octave!« Mouret und Vallagnosc drückten einander die Hände. Frau Desforges ihrerseits war sehr überrascht. Wie, die Herren kannten sich? Aber gewiß, sie waren ja zusammen in Plassans zur Schule gegangen, und es war offenbar nur ein Zufall, daß sie einander bei Frau Desforges noch nicht begegnet waren. Während der Diener den Tee brachte und die Damen enger zusammenrückten, gingen die beiden nach nebenan in den kleinen Salon. Ihre ganze Jugend erwachte wieder, die alte Schule in Plassans mit ihren beiden Höfen, den feuchten Klassenräumen, dem Speisesaal, wo es so viel Kabeljau gegeben hatte, und dem Schlafsaal, wo die Kissen von Bett zu Bett geflogen waren, sobald der Aufseher schnarchte. Paul, der aus einer alten Juristenfamilie stammte, war stets einer der besten Schüler gewesen, vom Klassenlehrer, der ihm eine große Zukunft prophezeite, allen als Vorbild hingestellt, während Octave, immer einer der Letzten, außerhalb der Schule den wildesten Vergnügungen nachging. Trotz der Verschiedenheit ihrer Naturen hatte sich eine sehr enge Kameradschaft zwischen beiden herausgebildet, die bis zu ihrer Prüfung dauerte, die der eine ruhmvoll, der andere schlecht und recht erst nach zwei mißlungenen Versuchen bestand. Dann hatte das Leben sie auseinandergebracht, und jetzt fanden sie sich nach einem Zeitraum von zehn Jahren verändert und älter geworden wieder. »Und was hast du aus dir gemacht?« fragte Mouret. »Ach, gar nichts.« Trotz der Freude des Wiedersehens hatte Vallagnosc seine Blasiertheit beibehalten. Ein wenig erstaunt über diese Antwort, fragte sein Freund noch einmal: »Aber du tust doch irgend etwas – was tust du denn?« »Nichts«, erwiderte der andere trocken. Octave lachte; nichts sei nicht genug, meinte er. Satz für Satz erfuhr er nun die Geschichte Pauls; es war die Geschichte aller mittellosen jungen Leute, die glauben, daß sie es ihrer Geburt schuldig seien, eine sogenannte Bildungslaufbahn einzuschlagen, und sich in einer eitlen Mittelmäßigkeit begraben, vollkommen zufrieden, wenn sie mit ihren guten Zeugnissen nicht Hungers sterben. Er hatte Jura studiert, weil das so Familientradition war; dann hatte er eine Zeitlang seiner verwitweten Mutter auf der Tasche gelegen, die ohnehin nicht wußte, wie sie ihre beiden Töchter versorgen sollte. Endlich hatte er sich dieses Zustandes geschämt, den Frauen die Reste ihres Vermögens, von denen sie nur knapp existieren konnten, überlassen und eine kleine Stelle im Innenministerium angenommen, wo er verborgen saß wie ein Maulwurf in seinem Loch. »Und wieviel verdienst du?« fragte Mouret. »Dreitausend Franken.« »Das ist ja der reinste Hungerlohn! Mein lieber Alter, du tust mir leid! … Ein so begabter Bursche, der uns alle in den Schatten stellte! Und dir zahlen sie nicht mehr als dreitausend Franken, nachdem man dich fünf Jahre lang mit allen möglichen Kenntnissen vollgestopft hat! Nein, das ist aber wirklich ungerecht… Du weißt doch, was aus mir geworden ist?« »Ja«, sagte Vallagnosc, »man hat mir erzählt, daß du Kaufmann geworden bist. Du hast das große Modewarenhaus an der Place Gaillon, nicht wahr?« »So ist es; Kaufmann bin ich geworden, mein Lieber.« Mit der Heiterkeit des Mannes, der sich des ihn ernährenden Berufs nicht schämt, wiederholte er: »Ja, Kaufmann – und wie! Du erinnerst dich sicher: ich konnte mit all den Büchern nie viel anfangen, obgleich ich mich im Innern nicht für dümmer hielt als die übrigen. Nach der Schule hätte ich, um meiner Familie ihren Wunsch zu erfüllen, genauso gut Rechtsanwalt oder Arzt werden können wie die andern aus der Klasse. Aber diese Berufe sind mir unbehaglich; man sieht dabei gar so viele Leute hungern! Na, und da bin ich Geschäftsmann geworden – und ich bereue es nicht, das versichere ich dir.« Vallagnosc lächelte verlegen und murmelte dann: »Zum Leinwandverkaufen allerdings nützt dir dein Zeugnis nicht viel.« »Meiner Treu«, erwiderte Mouret vergnügt, »was ich von ihm verlange, ist, daß es mir nicht im Weg steht. Du weißt, wenn man sich so etwas einmal auf den Hals geladen hat, wird man es nicht leicht wieder los. Man kommt nur langsam vorwärts im Leben, während andere, die keinen solchen Klotz am Bein haben, einem ungebunden davonlaufen.«
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