Oliver hörte das Besteck klappern und sah zu seiner Familie hinüber. Chris war gerade dabei, Olivers Abendessen in sich zu schaufeln.
Oliver schüttelte den Kopf über die Ungerechtigkeit und nahm heimlich die Bestandteile seiner Falle aus dem Koffer. Vorsichtig breitete er sie vor sich auf dem Boden aus. Er war beinahe fertig.
Die Falle bestand aus einer Art Steinschleudermechanismus, der von einem Hebel ausgelöst wurde. Wenn der Eindringling mit dem Fuß dagegen stieß, wurde ihm eine Eichel an den Kopf geschleudert. Natürlich musste Oliver die Waschbär-Variante von Armando entsprechend an die Größe seines Bruders anpassen. Anstatt der Eicheln benutzte er einen kleinen Soldaten aus Plastik mit einem spitzen kleinen Gewehr. Er hatte sowohl den Mechanismus, als auch den Auslöser verblüffend gut hinbekommen, aber aus irgendeinem Grund funktionierte die Falle noch nicht zuverlässig. Anstatt durch die Luft zu fliegen, stand der kleine Soldat mit seinem Gewehr im Anschlag in der Schleuder und rührte sich nicht.
Da seine Familie gerade abgelenkt war, konnte er weiter daran arbeiten. Er setzte alle Teile zusammen und versuchte die Falle auszulösen. Oliver konnte einfach nicht begreifen, wo der Fehler lag. Er seufzte enttäuscht. Armando Illstrom musste das gleiche Problem gehabt haben. Vielleicht hatte man ihn deswegen für verrückt erklärt. In dem Buch stand, dass keine seiner Erfindungen den großen Durchbruch gebracht hatte.
Im Hintergrund hörte Oliver, wie seine Familie zu streiten begann. Er presste die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, um ihre Stimmen auszublenden und sich in seine geheime Welt zu wünschen.
Schon war er wieder in der Fabrik. Er sah Armandos Falle direkt vor sich. Sie funktionierte perfekt. Die Eicheln flogen nach rechts, nach links und geradeaus, wie man sie gerade ausrichtete. Aber Oliver verstand nicht, was an seiner Falle anders war.
„Magie“, flüsterte eine Stimme hinter ihm.
Oliver sprang vor Schreck in die Luft. Noch nie waren andere Menschen in seiner Traumwelt erschienen!
Doch als er sich umsah, war keiner da.
Schließlich öffnete er die Augen, um sich wieder in die echte Welt zu holen. Nach wie vor saß er in der kleinen Nische des düsteren Raumes. Warum hatte seine Phantasie ausgerechnet das Wort Magie als Lösung zu seinem Problem heraufbeschworen? Eigentlich interessierte er sich nicht besonders dafür, sonst hätte er sich ein Buch über Zaubertricks besorgt. Er bevorzugte praktische, handfeste Dinge, die einen Zweck erfüllten. Er liebte Wissenschaft und Physik, nicht unbedingt unerklärliche Phänomene.
Der Duft des Abendessens lag immer noch in der Luft. Von seinem Platz aus blieb ihm nichts anderes übrig, als zum Esstisch hinüber zu schauen. Chris sah ihn an und steckte sich eine große Kartoffel in seinen großen Mund. Er grinste breit, während ihm das Öl am Kinn herunterlief.
Oliver wurde wütend. Das war seine Kartoffel! Am liebsten wäre zum Tisch hinübergegangen und hätte mit einer großen Armbewegung alles auf den Boden geworfen. Er sah es richtig vor sich. Es würde sich so gut anfühlen!
Plötzlich verwandelte sich seine Wut in etwas anderes, etwas, das Oliver noch nie zuvor gespürt hatte. Er wurde ruhig. Er wusste genau, was er tun würde. Schon ertönte ein lautes Knacken, das vom Esstisch kam. Eines der Tischbeine war durchgebrochen, genau in der Mitte. Die Tischplatte sackte weg und alles, was sich darauf befand, kam ins Rutschen. Mit lautem Scheppern landeten Teller, Gläser und Topf auf dem Boden.
Mom und Dad sprangen erschrocken auf. Erbsen und Kartoffeln rollten über den alten Teppich. Auch Oliver war aufgesprungen. Hatte er das getan? Hatte er den Tisch mit purer Willenskraft kaputt gemacht? Das konnte nur Zufall sein!
Während Mom in der Küche verschwand und ein paar Tücher holte, um die Sauerei aufzuwischen, inspizierte Dad auf Knien das gebrochene Tischbein.
„Billiges Ding“, knurrte er, „… ist glatt auseinander gebrochen!“
Chris hingegen starrte Oliver finster an. Ob er es getan hatte oder nicht, Chris machte ihn ganz offensichtlich dafür verantwortlich.
Langsam stand er auf. Erbsen rollten von seinem Schoß auf den Boden. Sein Gesicht wurde rot, wütend ballte er die Fäuste. Dann stürzte er wie eine explodierte Rakete auf Oliver zu.
Oliver sprang hinter seine Falle und zog den Auslöser.
Schieß! Bitte schieß! flehte er in Gedanken.
Alles geschah wie in Zeitlupe. Chris kam näher, Oliver hielt die Falle vor sich und stellte sich fest vor, wie der Soldat durch die Luft flog, genau wie er sich vor wenigen Augenblicken vorgestellt hatte, wie die Teller vom Tisch fielen.
Da geschah es. Der Soldat hob ab, schoss in hohem Bogen auf Chris zu und knallte mit der Gewehrspitze voran direkt gegen seine Stirn.
Oliver schnappte nach Luft. Er konnte kaum glauben, dass es funktioniert hatte.
Chris stand wie erstarrt vor ihm, der kleine Soldat fiel auf den Boden. Auf Chris‘ Stirn war ein kleiner, roter Abdruck.
„Du Dummkopf!“ schrie Chris und rieb fassungslos seinen Kopf. „Dafür mach‘ ich dich fertig!“
Aber zum ersten Mal zögerte er. Er ging nicht sofort auf Oliver los, um ihn am Ohr zu ziehen oder mit seinen Fingerknöcheln über den Kopf zu reiben. Stattdessen ging er einen Schritt zurück, fast als hätte er Angst.
Dann rannte er aus dem Wohnzimmer, die Treppen hinauf. Als er die Tür ins Schloss krachen ließ, vibrierte das ganze Haus.
Oliver starrte ihm mit offenem Mund hinterher. Er konnte kaum fassen, dass es wirklich funktioniert hatte! Nicht nur, dass sein Gerät in letzter Sekunde geschossen hatte – er hatte Chris‘ buchstäblich das Abendessen vom Tisch gefegt.
Er blickte auf seine Hände. Hatte er vielleicht geheime Kräfte? Gab es doch so etwas wie Magie? Oder war es am Ende wirklich nur Zufall? Tief in sich ahnte er, dass mehr dahinter steckte. Er fühlte sich auf einmal stark.
Aufgeregt setzte er sich wieder mit seinem Buch in die Ecke und las noch einmal das Kapitel über Armando Illstrom. Dank seiner Erfindung hatte Oliver sich zum ersten Mal gegen seinen Bruder schützen können. Der Wunsch, diesem Mann persönlich zu danken, wurde stärker als je zuvor. Die Fabrik war nicht weit von Olivers Schule entfernt. Vielleicht sollte er morgen nach dem Unterricht einen kleinen Ausflug machen.
Armando musste inzwischen ein sehr alter Mann sein. Vielleicht lebte er gar nicht mehr. Dieser Gedanke versetzte Oliver einen Stich. Es wäre furchtbar, wenn er sein Held gestorben wäre, bevor er ihn kennenlernen konnte!
Er las die Liste von Armandos fehlgeschlagenen Erfindungen. Oliver bemerkte, dass sie nicht gerade positiv beschrieben wurden.
Armando Illstrom hatte an einer Zeitmaschine gearbeitet, als der Zweite Weltkrieg ausgebrochen war. Die Arbeit in seiner Fabrik war nach und nach zum Stillstand gekommen. Als der Krieg endete, hatte Armando seine Arbeit jedoch nicht zu Ende gebracht. Die meisten Zeitgenossen hatten ihn für seine fantastischen Ideen ausgelacht. Von einigen wurde er sogar ‚verkappter Edison‘ genannt. Oliver fragte sich, warum Armando nicht weitergemacht hatte. Ob es daran lag, dass niemand an ihn geglaubt hat?
Sein Interesse war geweckt. Morgen nach der Schule wollte er zu dieser Fabrik gehen und wenn Armando Illstrom noch am Leben war, würde er ihn nach seiner Zeitmaschine fragen.
Seine Eltern kamen aus der Küche.
„Wir gehen ins Bett“, sagte Mom.
„Was ist mit meinem Bett?“, fragte Oliver und blickte auf die leere Nische.
Dad seufzte. „Ich nehme an, ich soll dir dein Bettzeug aus dem Auto holen?“
„Das wäre sehr nett“, sagte Oliver leise. „Ich möchte morgen früh fit sein.“
Das unangenehme Gefühl, das der kommende Schultag in ihm hervorrief, wuchs mit jeder Minute, genau wie der Sturm, der sich draußen zusammenbraute. Er fürchtete, dass es der schlimmste Schultag seines Lebens werden könnte. Dabei hatte er schon eine ganze Menge richtig mieser Tage erlebt. Das Mindeste, was er jetzt noch tun konnte, war sich ausreichend auszuruhen.
Dad trotte abgeschlagen aus dem Haus. Durch die offene Haustür wehte ein Windstoß bis in alle Ritzen. Kurz darauf brachte er Olivers Kissen und Decke.
„In ein paar Tagen besorgen wir dir ein Bett“, sagte sein Vater, als er alles in der Nische ablegte. Von dem langen Tag im kalten Auto fühlte sich das Bettzeug eisig an.
„Danke“, sagte Oliver, der selbst für das kleinste bisschen Komfort dankbar war.
Seine Eltern löschten die Lichter und gingen die Treppe hinauf. Oliver blieb alleine in der Dunkelheit zurück. Das einzige Licht fiel von der matt erleuchteten Straßenlaterne durch Olivers Fenster.
Der Wind rüttelte an den Fenstern. Oliver spürte förmlich, wie der Sturm draußen an Kraft gewann. Etwas Merkwürdiges lag in der Luft. Er dachte an die Sturmwarnung im Radio. Es hatte ernst geklungen. Die meisten Kinder würden sich davor vielleicht fürchten, aber Oliver fürchtete nur den nächsten Tag in der neuen Schule.
Er setzte sich ans Fenster, legte die Ellbogen auf das Fensterbrett und blickte in den düsteren Himmel. Ein dürrer Baum neigte sich im Wind. Oliver fürchtete, dass er jeden Moment abbrechen könnte. Er konnte beinahe sehen, wie die dünne Barke brach und die schmale Krone vom Wind davongetragen wurde.
Da bemerkte er sie. Gerade als seine Gedanken ihn in seine Traumwelt entführen wollten, entdeckte er die zwei Gestalten, die neben dem Baum standen. Es waren ein Mann und eine Frau, die Oliver so ähnlich sahen, dass man sie für seine Eltern halten konnte. Hand in Hand standen sie da und lächelten ihn freundlich an.
Erschrocken machte Oliver einen Satz zurück. Zum ersten Mal fiel ihm auf, dass seine Eltern ihm kein bisschen ähnlich sahen. Beide hatten dunkles Haar und blaue Augen, genau wie Chris. Oliver hatte hingegen blondes Haar und dunkle Augen.
Plötzlich bezweifelte er, dass seine Eltern wirklich seine Eltern waren. Vielleicht liebten sie ihn deswegen nicht auf die gleiche Art, wie sie Chris liebten. Oliver blickte wieder aus dem Fenster, aber die beiden Gestalten waren verschwunden. Wahrscheinlich hatte er sie sich nur eingebildet.
Aber sie hatten so echt gewirkt!
Und so vertraut.
Wunschdenken, sagte Oliver sich.
Oliver setzte sich auf den Boden und lehnte sich an die kalte Wand in seinem improvisierten Schlafzimmer. Dann zog er die Knie bis an die Brust und deckte sich zu. Er schloss die Augen.
Kurz vor dem Einschlafen überkam ihn ein Gefühl, nein, die Sicherheit, dass sein Leben sich sehr bald ändern würde.