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INDIGO
Neun Jahre später
Der Absatz meines Wanderstiefels schlitterte drei Meter das glitschige Ufer hinab, bis es mir gelang, Halt zu finden. Wenigstens blieb ich auf den Füßen – uff. Ich rutschte ein zweites Mal aus und glitt zwei Meter auf dem Hintern weiter, der jetzt matschig und klatschnass war.
Großartig. Einfach klasse.
Ich rappelte mich auf die Füße. Ein Blitz, dem sofort ein Donnergrollen folgte, bedeutete, dass das Gewitter viel zu nahe war. Kalter Regen prasselte auf meinen Kopf und Schultern und ich spürte jeden Tropfen durch meine wasserdichte Regenjacke und Kapuze. Der plötzliche Sommer-Wolkenbruch sorgte dafür, dass die bereits matschige Erde des Berges die Konsistenz eines nassen Seifenstücks annahm. Die Sorte, die einem aus der Hand flutschte und in der Badewanne gejagt werden musste, wobei sie überall schmierige Ablagerungen zurückließ.
Ich musste einen Platz finden, wo ich Schutz suchen konnte, bis das Gewitter weiterzog. Es gab Bäume, die größer waren als ich und daher vom Blitz getroffen werden würden, aber ich war nicht dumm. Ich brauchte einen Unterschlupf, und zwar jetzt. Das Problem war, dass das nahegelegenste Anwesen Ford Ledger gehörte.
Gott, Ford. Der Kerl, für den ich geschwärmt hatte, als ich achtzehn Jahre alt gewesen war. Der mich gedemütigt hatte. Nein, das hatte ich selbst wirklich beeindruckend hingekriegt. Mein angeschlagener Stolz war der Grund, aus dem ich sogar in einem Gewitter mit mir rang, ob ich einen Fuß auf sein Land setzen sollte oder nicht.
Ja, so schlimm war es nicht gewesen. Er war der extrem heiße, aber blöde beste Freund meines Bruders David. Der von seinen Freunden nur Buck genannt wurde. Ford war der letzte Kerl auf Erden, den ich um Hilfe bitten oder von dem ich sie annehmen wollte. Womöglich war seine Oma da. Sie würde mich mit offenen Armen und trockenen Klamotten empfangen. Das Risiko konnte ich jedoch nicht eingehen. Nicht, wenn es bedeutete, dass ich Ford sah oder mich mit ihm auseinandersetzen musste. Also würde ich auf gar keinen Fall vor seiner Tür auftauchen. Nicht einmal, wenn sich der Berg in einen Vulkan verwandelte und ausbrach.
Sparks war eine Kleinstadt, aber irgendwie hatte ich es geschafft, Ford aus dem Weg zu gehen, seit er vor einigen Monaten aus dem Militärdienst ausgeschieden war, um Gott weiß was auf seinem Land zu treiben. Das lag daran, dass ich lieber erfroren wäre, als ein Vier-Augen-Gespräch mit ihm zu führen. Ich brauchte es nicht, dass ich eine Standpauke erhielt und abgewiesen wurde. Erneut.
Meine Güteee – aaah!
Ich rutschte abermals aus. Jetzt hatte ich den Pfad komplett verlassen, und auf diesen zurückzukehren und ihm zu folgen, war wahrscheinlich nicht das Klügste. Bis zum Parkplatz, wo ich geparkt hatte, war es eine neunzigminütige Wanderung ohne irgendeinen Schutz von oben. Es gab nicht einmal eine Felszunge, unter der ich Deckung suchen könnte.
Durch den strömenden Regen blickte ich den Berghang hinab zu Fords Anwesen. Es war schwer zu sehen, doch dort stand ein altes Gewächshaus, an das ich mich nicht erinnerte. Allerdings hatte ich bei dem einen Mal, als ich sein Haus besucht hatte, größeres Interesse an seinem Schlafzimmer gehabt als an irgendetwas anderem auf dem riesigen Anwesen. Ich könnte mich in dem Gewächshaus verstecken, bis das Gewitter weitergezogen war. Ich war nicht der erste Montaner, der bei einem Nachbarn Unterschlupf suchte.
Ich krümmte die Schultern gegen den Wind und Regen und änderte den Winkel meines Abstiegs, wobei ich meine Schritte mit Bedacht setzte, um weiteres Ausrutschen und Schlittern zu vermeiden. Das nützte mir allerdings nicht viel. Ich landete drei weitere Male auf dem Hinterteil, bis ich die Grundstücksgrenze erreichte. Der Stacheldraht auf dem niedrigen Zaun sah neu und aggressiv aus, als sollte er nicht nur verirrte Rinder ein- oder aussperren. Ich ging zum nächsten Zaunpfosten und stützte mich darauf ab, als ich die Stränge des straff gespannten Drahtes erklomm. Obwohl ich aufpasste, zerriss ich mir beim Klettern meine Hose.
„Fuck“, fluchte ich, wischte den Regen von meiner Nase und lief weiter.
Ich gelangte zum Gewächshaus – das in einem besseren Zustand war, als ich erwartet hatte – und rüttelte am Türgriff. Es war abgesperrt.
„Im Ernst?“, sagte ich zu niemandem.
Wer schloss ein Gewächshaus ab? Ich hasste den Kerl zwar, kannte Ford jedoch schon mein ganzes Leben. Klar, das einzige Mal, bei dem ich ihn seit dieser schicksalsträchtigen, nackten Nacht vor Jahren gesehen hatte, war auf Bucks Gedenkfeier gewesen. Marihuana durfte jetzt legal angebaut werden, doch ich konnte mir nicht vorstellen, dass Ford oder seine Großmutter Pflanzen anbauten, die vor Diebstahl geschützt werden mussten. Was heckte dieser Kerl aus? Ein Schloss konnte nur eines bedeuten. Er war zwielichtig. Wie Buck, dessen letzte Taten als SEAL angeblich alles andere als heldenhaft gewesen waren. Zur Hölle, sie hatten behauptet, dass er jemanden ermordet hätte.
Wie üblich verdrängte ich diesen Gedanken, da ich nicht an den Scheiß denken wollte, den man uns über meinen Bruder erzählt hatte. Die Dinge, die er nicht mehr erklären konnte, weil er tot war.
Nachdem ich meinen Rucksack auf den Boden hatte fallen lassen, schnappte ich mir das Multifunktionswerkzeug, das ich immer bei mir trug. Ich versuchte, das Schloss zu knacken, gab allerdings nach einigen frustrierenden Versuchen auf. Daher suchte ich mir einen Stein, schlug eins der unteren Fenster ein und wischte die restlichen Glassplitter mit dem Stein weg. Anschließend griff ich nach meinem Rucksack und schob ihn durch die Öffnung. Daraufhin stemmte ich mich hindurch und stolperte in das Gewächshaus.
Meine Fresse, war ich nass.
Ich hinterließ eine Pfütze, die immer größer wurde, als ich mich wie ein Golden Retriever schüttelte, um das Wasser von meiner Jacke zu bekommen. Meine Wanderstiefel waren durchgeweicht, obwohl sie aus einem wasserdichten Material waren. Sie hatten dem Regen nichts entgegenzusetzen. Meine Stiefel, nun, sie waren mindestens fünf Pfund schwerer als üblich und schlammverkrustet.
Ich war eine Wildnisführerin und an solche Dinge gewöhnt, was es allerdings nicht angenehmer machte, klatschnass zu sein und zu frieren. Zum Glück musste ich mir kein Lächeln für zahlende Touristen abringen. Ich musste niemandem erzählen, dass etwas Regen einen Urlaub umso denkwürdiger machte. Ich sah mich um. „Was zum Kuckuck?“, flüsterte ich.
Da waren keine Pflanzen. Der Raum war in ein Fitnessstudio umgebaut worden. Ein Fitnessstudio wie in einem schicken Hotel. Zwei Laufbänder und eine Rudermaschine standen an einem Ende. Auf Regalen lagen Hanteln und in der Ecke waren Kugelhanteln ordentlich aufgereiht. Der Boden war nicht aus Beton, sondern eine Fläche aus abfederndem Gummi. Ein riesiger Sandsack hing auf einer Seite über den Matten.
Ich blickte zur Glasdecke hoch und sah nur prasselnden Regen. Wer wusste schon, wie lange dieses Frühlingsgewitter anhalten würde. Ich hegte keinerlei Absichten, einige Kilometer auf dem Laufband zu rennen; dafür hatte ich die Natur draußen. Allerdings konnte ich nicht in meinen nassen Klamotten hier sitzen, während ich darauf wartete, dass das Unwetter weiterzog. Bevor das Gewitter hereingebrochen war, hatten wir um die fünfundzwanzig Grad gehabt, und das Glas sorgte zum Glück für angenehme Temperaturen in dem Raum. Ich seufzte, dann zitterte ich, obwohl es warm war.
„Sorry, Ford“, brummte ich, während ich die matschigen Stiefel auszog. Nein, es tat mir nicht leid. Dieses schicke Fitnessstudio matschig zu machen, war nicht einmal annähernd das, was ich im Sinn hatte, um mich nach all den Jahren bei ihm zu revanchieren.
Ich hätte jedoch gelogen, hätte ich so getan, als gäbe es keinen Teil von mir, der sich nicht ein bisschen bei ihm rächen wollte nach dem, was er mir angetan hatte. Okay, was ich ihm angetan hatte, jedenfalls hatte ‚der Vorfall‘ bei meinem Selbstvertrauen – und meinem Herz – eine große Narbe hinterlassen und so viel Scham hervorgerufen, dass s*x für mich mehr oder weniger ruiniert worden war. Deswegen war ich allerdings nicht weniger scharf auf Ford, denn ich hatte ihn vor ein paar Monaten im Lebensmittelgeschäft gesehen. Ja, ich hatte mich hinter einer Auslage von Dosenpfirsichen versteckt, doch ich hatte ihn gesehen. Er hatte sich seit der Nacht verändert, in der ich ihm meine Jungfräulichkeit auf einem Silbertablett angeboten hatte. Damals war er ein konzentrierter, strenger SEAL mit harten Kanten gewesen. Auf der Beerdigung hatte er älter gewirkt. Erschöpft. Der Glanz war verschwunden, ich hatte ihm jedoch kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Aber im Gang mit den Nudeln? Seine dunklen Haare waren länger gewesen. Er hatte einen verflixten Bart, als würde er sich gut in den Bergen einleben, was mich irgendwie erregt hatte.
Er hatte noch immer harte Kanten, die jetzt allerdings feingeschliffen waren. Als wäre sein Fokus laserscharf.
Deswegen hatte ich mich gefragt, wie sich diese Intensität wohl im Bett anfühlte.
Diese Gedanken waren der Grund, aus dem ich mich in seinem Gewächshaus-Fitnessstudio versteckte und nicht an seine Eingangstür klopfte. Ich würde mich nicht zweimal abweisen lassen. Am gleichen Ort.
Ich zog meine Jacke aus und schälte mir die nasse Wanderhose von den Beinen. Wenigstens waren mein T-Shirt und Slip trocken. Das war aber auch alles. Ich sprang von einem Fuß auf den anderen, um meine nassen Socken auszuziehen. Es würde kein Spaß werden, die wieder anzuziehen. Darum würde ich mir jedoch später den Kopf zerbrechen.
Das Hämmern des Regens, der auf das Plastikdach prasselte, musste alle anderen Geräusche übertönt haben, denn ich hatte keinen blassen Schimmer, dass ich nicht mehr allein war, bis eine tiefe, schmerzhaft vertraute Stimme hinter mir brummte:
„Indigo Buchanan.“
Ich machte einen Satz, schrie und wirbelte herum.
Dort stand ein älterer, breiterer, größerer Ford Ledger in Jeans und einem durchweichten schwarzen T-Shirt. Und er hatte eine Pistole in der Hand. Er fuhr mit einer Hand über seinen buschigen Bart, während sein Blick über jeden Zentimeter meines Körpers glitt.
„Es scheint wirklich eine Angewohnheit von dir zu sein, deine Kleider auszuziehen und dich dort häuslich niederzulassen, wo du nicht hingehörst.“