KAPITEL DREI

1289 Words
KAPITEL DREI Kate verlor keine Zeit. Sie fuhr zurück nach Hause und setzte sich einen Augenblick an den Schreibtisch in ihrem kleinen Arbeitszimmer. Sie schaute zum Fenster hinaus, auf ihren kleinen Garten. Der Fußboden, wie auch fast im ganzen Rest des Hauses, barg die Schrammen und Narben seit der Erbauung in den 1920ern. Hier, in der Carytown Gegend von Richmond, fehlte sich Kate oft fehl am Platze. Carytown war eine hippe kleine Ecke der Richmonder Innenstadt und sie wusste, dass sie relativ bald woanders hinziehen würde. Sie hatte genug Geld, um sich quasi überall ein Haus zu kaufen, wo sie wollte, aber allein der Gedanke an einen Umzug erschöpfte sie. Vielleicht war es diese Motivationslosigkeit, die ihr den Ruhestand so schwer machten. Das, und die Weigerung, sich von den Erinnerungen zu trennen; Erinnerungen daran, wer sie während ihrer dreißig Jahre beim FBI gewesen war. Wenn diese Gefühle zusammenkamen, fühlte sie sich oft unmotiviert und orientierungslos. Aber nun war da die Bitte von Deb und Jim Meade. Natürlich, die Bitte war etwas fehlgeleitet, aber Kate fand nichts dabei, wenigstens ein paar Telefonate zu tätigen. Wenn nichts dabei herauskam, konnte sie zumindest Deb anrufen und ihr sagen, dass sie ihr Möglichstes versucht hatte. Als erstes rief sie den Deputy Commissioner der Virginia State Police an, ein Mann namens Clarence Greene. Mit ihm hatte sie über die letzten zehn Jahre ihrer Karriere an vielen Fällen eng zusammengearbeitet und sie respektierten sich gegenseitig. Sie hoffte, dass das vergangene Jahr diese Beziehung nicht vollkommen aufgehoben hatte. Da sie wusste, dass Clarence sich fast nie in seinem Büro aufhielt, rief sie erst gar nicht auf seinem Festnetz an, sondern wählte gleich seine Handynummer. Gerade als sie dachte, dass er nicht ranging, wurde sie von einer vertrauten Stimme begrüßt. Für einen kurzen Moment kam es ihr so vor, als habe sie die Arbeit nie verlassen. „Agent Wise“, sagte Clarence. „Wie zum Teufel geht es Ihnen?“ „Gut“, gab sie zurück. „Und selbst?“ „Wie immer. Wobei ich zugeben muss… ich dachte, ich wäre durch damit, Ihren Namen auf meinem Handydisplay zu sehen.“ „Ja, also…“, sagte Kate. „Ich hasse es, nach mehr als einem Jahr Funkstille mit so etwas zu Ihnen kommen zu müssen, aber eine Freundin von mir hat gerade ihre Tochter verloren. Ich habe ihr versprochen, in die Ermittlungen hinein zu schnuppern.“ „Also, was wollen Sie von mir?“, fragte Clarence. „Der Hauptverdächtige war der Ex-Freund der Tochter. Wie es scheint, wurde er verhaftet und dann drei Stunden später wieder freigelassen. Die Eltern fragen sich natürlich, warum.“ „Oh“, sagte Clarence. „Sehen Sie… Wise, diese Informationen kann ich nicht mit Ihnen teilen. Und bei allem Respekt, das sollten Sie eigentlich wissen.“ „Ich habe nicht vor, mich in den Fall einzumischen“, sagte Kate. „Ich frage mich nur, warum den Eltern kein triftiger Grund dafür genannt wurde, dass der einzige Verdächtige freigelassen wurde. Sie ist eine trauernde Mutter, die Antworten sucht und …“ „Nochmal, bis hierher und nicht weiter“, entgegnete Clarence. „Wie Sie sehr wohl wissen, habe ich regelmäßig mit trauernden Müttern, Vätern und Witwen zu tun. Nur weil Sie gerade zufällig eine davon persönlich kennen heißt das nicht, dass ich mich nicht an die korrekte Vorgehensweise halte und beide Augen zudrücke.“ „So eng, wie wir zusammengearbeitet haben, sollten Sie wissen, dass ich es nur gut meine.“ „Oh, da bin ich mir sicher. Aber das letzte, was ich brauche, ist ein pensionierter FBI Agent, der seine Nase in einen aktuellen Fall steckt, egal wie uninvolviert es erscheint. Das werden Sie doch wohl verstehen, nicht wahr?“ Das Schlimme war, dass sie es verstand. Trotzdem musste sie es noch ein letztes Mal versuchen. „Ich würde es als einen persönlichen Gefallen ansehen.“ „Ganz sicher würden Sie das“, gab Clarence ein wenig von oben herab zurück. „Aber die Antwort lautet nein, Agent Wise. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden, ich muss jetzt los zum Gericht, um mit einer dieser trauernden Witwen zu sprechen, von denen ich Ihnen eben berichtet habe. Tut mir leid, Ihnen nicht helfen zu können.“ Ohne sich zu verabschieden legte er auf und überließ Kate sich selbst, die ein langsam wanderndes Quadrat anstarrte, das die Sonne auf den Holzfußboden warf. Sie dachte über ihren nächsten Schritt nach. Deputy Commissioner Greene hatte gerade preisgegeben, dass er auf dem Weg zum Gericht war. Ein schlauer Schachzug wäre wahrscheinlich, seine Weigerung, ihr zu helfen, als Niederlage zu akzeptieren. Aber die Tatsache, dass er ihr nicht helfen wollte, spornte sie nur noch mehr dazu an, tiefer zu graben. Als Agent wurde mir immer gesagt, ich sei stur, dachte sie, als sie sich von ihrem Schreibtisch erhob. Schön zu sehen, dass sich einige Dinge nicht ändern. *** Eine halbe Stunde später parkte Kate ihren Wagen auf dem Parkplatz neben der Third Precinct Police Station. Auf Grund der Gegend, in der der Mord an Julie Meade – mit verheiratetem Namen Julie Hicks – stattgefunden hatte, war sich Kate sicher, dass dies die beste Informationsquelle war. Das einzige Problem war, dass sie außer Deputy Commissioner Greene innerhalb des Departments niemanden wirklich kannte, ganz zu schweigen vom Third Precinct. Selbstsicher betrat sie das Gebäude. Ihr war klar, dass es Dinge gab, die ihre derzeitige Situation verrieten und die einem aufmerksamen Beamten auffallen würden. Erstens trug sie keine Waffe. Sie besaß eine Genehmigung, eine verdeckte Waffe zu tragen, aber im Hinblick darauf, was sie vorhatte, meinte sie, dass sie sich mehr Probleme machte als die Sache wert war, wenn sie sich dabei schnappen ließ, auch nur im Geringsten unehrlich zu sein. Und Unehrlichkeit war etwas, das sie sich nicht leisten konnte. Im Ruhestand oder nicht, hier ging es um ihren Ruf – einen Ruf, den sie mit größter Sorgfalt über dreißig Jahre aufgebaut hatte. Die nächsten Minuten musste sie mit äußerster Vorsicht bewältigen, und sie freute sich darauf. Das ganze letzte Jahr seit Beginn ihres Ruhestandes war sie nicht so aufgeregt gewesen. Sie näherte sich dem Informationstresen, ein hell erleuchtetes Areal, das durch eine Glasscheibe vom zentralen Teil des Gebäudes abgetrennt war. Eine uniformierte Beamtin saß an einem Schreibtisch und stempelte etwas in einem Buch. Als Kate sich näherte, sah sie auf mit einem Gesicht, das aussah, als ob es seit Tagen nicht gelächelt hätte. „Was kann ich für Sie tun?“, fragte sie. „Ich bin ein FBI Agent im Ruhestand und benötige einige Informationen über einen Mord, der kürzlich passiert ist. Ich hatte gehofft, die Namen der Beamten zu bekommen, die diesen Fall bearbeiten.“ „Können Sie sich ausweisen?“, fragte die Frau. Kate holte ihren Führerschein hervor und schob ihn durch die Öffnung im Trennglas. Die Frau schaute ihn sich gerade mal eine Sekunde lang an und schob ihn dann zurück. „Ich benötige ihren FBI Ausweis.“ „Wie ich schon sagte, ich bin im Ruhestand.“ „Und wer schickt Sie? Ich brauche die Namen und Kontaktdaten und dann müssen diejenigen einen Antrag ausfüllen, damit Sie die Information bekommen.“ „Ich hatte wirklich gehofft, dies auf unbürokratischem Weg regeln können.“ „Dann kann ich Ihnen nicht weiterhelfen“, antwortete die Frau. Kate fragte sich, wie weit sie noch gehen konnte. Wenn sie zu sehr Druck machte, würde sicherlich jemand Clarence Greene in Kenntnis setzen, und das könnte nach hinten losgehen. Sie zermarterte sich das Hirn auf der Suche nach einer anderen Vorgehensweise. Nur eine fiel ihr ein, und die war viel riskanter als das, was sie gerade ausprobierte. Mit einem Seufzer gab Kate ein kurzes „Naja, vielen Dank auch“ von sich und wandte sich zum gehen. Leicht verlegen verließ sie das Gebäude. Was zum Teufel hatte sie sich bloß dabei gedacht? Selbst wenn sie noch ihren FBI Ausweis gehabt hätte, wäre es für das Richmond Police Department nicht rechtens gewesen, ohne die Zustimmung eines Vorgesetzten in Washington DC Informationen an sie herauszugeben. Es war ein erniedrigendes Gefühl, als sie den Parkplatz zu ihrem Wagen überquerte. Sie fühlte sich wie das, was sie war – ein ganz normaler Zivilist. Allerdings ein Zivilist, der es hasst, ein Nein zu akzeptieren. Sie zog ihr Handy hervor und rief Deb Meade an. Als sie abnahm, hörte sie sich noch müde und weit weg an. „Tut mir leid, dich zu stören, Deb“, sagte Kate. „Aber hast du zufällig den Namen und eine Adresse dieses Ex-Freundes?“ Wie sich herausstellte, hatte Deb beides.
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